Ungebremste Sprachwut

Über Mara Genschels Lyrikdebüt "Tonbrand Schlaf"

Von Tobias AmslingerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Tobias Amslinger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer Mara Genschels ersten Gedichtband "Tonbrand Schlaf" aufschlägt, muss gar nicht lange nachdenken, um sagen zu können: Die Autorin zersprengt die Wörter wie Thomas Kling (dem ein Gedicht gewidmet ist); sie formt die Textgestalt so radikal wie Edward E. Cummings; und an unzählbaren Stellen wird die klangliche Seite der Texte derart dominant, dass diese wie Lautpoesie anmuten. (Klappentext: "Mara Genschel muss man hören.") Trotzdem wäre es falsch, die Gedichte gleich in die Avantgarde-Kiste zu werfen, und die Autorin als nochmalige Verwerterin des schon zehnmal durch den Fleischwolf gedrehten 'Sprachexperiments' zu brandmarken. Ihre Texte hält ein ganz anderer Impuls lebendig. Dieser Impuls dringt direkt aus der Romantik durch die Jahrhunderte.

"Muß immer der Morgen wiederkommen? / Endet nie des Irdischen Gewalt? / Unselige Geschäftigkeit verzehrt / Den himmlischen Anflug der Nacht? / Wird nie der Liebe geheimes Opfer ewig brennen?" Bereits der Titel von Genschels Gedichtband ist anschlussfähig an diese Zeilen, die Novalis um 1800 verfasste. Der Schlaf und die Nacht sind sowohl in der romantischen als auch in Genschels Poesie zentrale Motive; der Brand und der Rausch der Töne, der Sprache und der Liebe spielt hier wie da eine entscheidende Rolle: "Nacht. & / griff nach / deinem Namen, / nackt. & / griff nach & / dein Atem." Einen "dunklen Pakt" schließt das Ich mit der Sprache: "meinen Gang / hat sie im Rausch bezwungen".

Auch die Märchenbegeisterung der Romantiker klingt in Genschels Gedichten an: "König: Morgen soll noch einmal gejagt werden", beginnt ein Text, der sich allerdings schnell als albtraumhafte Sprach-Jagd entpuppt, auf der alte Wörter wie Lichtung, Sang, Bach, Quelle keine friedliche Ruhe mehr ausstrahlen, sondern eingeschlossen sind von Wortrudimenten. Es geht "durch's Unterholz A / (Eichen) unt'rer / Luftröhrenast, an'na / Aufzweigung lang". Alles "so nah am / Desaster".

Das romantische Projekt der progressiven Universalpoesie war der Versuch, die klare Trennung zwischen den einzelnen Künsten aufzuheben, und mittels einer allumfassenden Poesie eine Einheit zwischen Ich und Welt herzustellen. Auch Genschel hat keine fest gefügte Vorstellung vom Gedicht. Ihre Texte unterscheiden sich im Aufbau teilweise extrem voneinander. In ihnen ist Sprachmaterial aus Kochrezepten eingearbeitet, aber auch: "im Mund ganz unverhohlen / [Droste]". Es gibt Bezüge zur Bildenden Kunst und zur Neuen Musik. Und wie die Romantiker sucht die Autorin die Aufhebung der Grenzen zwischen Ich und Welt: "Ich: singe. Alles Lied ist / Ding ist: Ich. Ich bin."

Mara Genschels Unterfangen, die romantische Poesie mit den Mitteln der Moderne fortzuführen, ist mutig. Leicht macht sie sich angreifbar, schnell lässt sich ihr Sentimentalität oder ein Überschuss an Gefühl vorwerfen. Wer das tut, übersieht allerdings, dass neben ungebremster Sprach-Wut das ständige Bewusstsein der Sprach-Skepsis wacht. Die Gedichte reiben sich am "verrosteten Wort", sie entwickeln sprachliche Strategien, die Sprache zu vermeiden: "Sachlich mich ums / Sprachliche gedrückt". Genschels Texte oszillieren im Spannungsfeld zwischen unmittelbarem, sprach-körperlichem Ausdruck und sezierender Reflexion. Die Autorin nivelliert ihre Texte nicht auf eine abgeklärte poetical correctness, sondern lässt neben allem Sprach-Zweifel auch die Extreme und damit das Ver-Zweifeln zu. Mehr von dieser radikalen Schreibhaltung täte der Gegenwartslyrik gut.


Titelbild

Mara Genschel: Tonbrand Schlaf. Gedichte.
Connewitzer Verlagsbuchhandlung Peter Hinke, Leipzig 2008.
76 Seiten, 10,00 EUR.
ISBN-13: 9783937799315

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