Von Amseln und Menschen

Gedichte von Giorgio Orelli in einer zweisprachigen Auswahl

Von Daniel HenselerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Henseler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Giorgio Orelli (geboren 1921) darf mit Fug und Recht zu den bedeutendsten zeitgenössischen Dichtern italienischer Sprache gerechnet werden. Der Tessiner hat dabei ein vergleichsweise schmales, jedoch umso gewichtigeres Werk vorzuweisen. Der Limmat Verlag legt nun erfreulicherweise wiederum einen zweisprachigen Band mit Gedichten Orellis vor - gut zehn Jahre, nachdem der Autor mit "Rückspiel / Partita di ritorno" im deutschsprachigen Raum eingeführt wurde. Auch dieses Mal stammen die Übertragungen von Christoph Ferber. Orelli schreibt neben Gedichten auch Essays und betätigt sich als Literaturkritiker; er gilt als profunder Kenner nicht nur der italienischsprachigen Lyrik. Giorgio Orelli hat sich schließlich auch als Goethe-Übersetzer einen Namen gemacht.

Die Gedichte im hier anzukündigenden Auswahlband "Sagt es den Amseln / Ditelo ai merli" sind vorwiegend Orellis jüngstem Band "Il collo dell'anitra" (Der Entenhals) aus dem Jahr 2001 entnommen, doch finden sich auch ältere Gedichte darunter, namentlich aus den 1970er- und 1980er-Jahren. Die neue Auswahl ermöglicht damit zusammen mit dem schon erwähnten zuvor veröffentlichten Band dem deutschsprachigen Leser einen recht repräsentativen Überblick über Orellis lyrisches Gesamtwerk.

Ein besonderes Interesse zeigt Giorgio Orelli für die Menschen, von denen in seinen Gedichten beinahe alle möglichen Varianten vorkommen - hierin ist er ein wenig seinem (freilich jüngeren) Tessiner Dichterkollegen Alberto Nessi verwandt. So ermöglicht Orelli im Gedicht "Odette" beispielsweise einer Frisöse einen Auftritt. Andernorts porträtiert er eine Verkäuferin, die hinter der Kasse ihren Tagträumen nachhängt ("Clelia"). Auch den Kindern wird in Orellis Gedichten - und dies ganz besonders in den neuesten - viel Platz eingeräumt. Die Schar eigener Enkelkinder des Dichters wirkt offensichtlich sehr inspirierend. Neben den Menschen sind jedoch auch die Tiere in Orellis Werk fast allgegenwärtig. Sie scheinen in erster Linie der bäuerlichen Welt des Tessins zu entstammen, wie die Kühe und die Ziegen. Mann lese nur das wunderbare und überraschende Gedicht "Für Giovanna, über die Ziegen": "[...] Schau sie dir an, beobachte ihre Augen, die hartnäckigen / Augäpfel, und wie sie uns (weine nicht, / sie gehen nicht fort) behutsam umkreisen / und für uns beten."

Orellis Gedichte führen oft in medias res. Mitunter sind es fast beliebige und unmittelbar aus dem Leben gegriffene Szenen oder Augenblicke, die der Dichter in der Folge mit einer ganzen Geschichte auflädt: In wenigen Verszeilen erschließt sich dann eine neue Welt, die weit größer ist als das Wenige, was tatsächlich gesagt wird. Orelli ist ein genauer Beobachter seiner Umwelt, der zum Schreiben jedoch nicht unbedingt auf das Spektakuläre angewiesen ist. Orellis Gedichte sind denn auch meist in der ländlich-dörflichen, allenfalls kleinstädtischen Welt seiner Heimat Tessin angesiedelt. Nur hie und da führt ihn ein poetischer Ausflug auch in die Deutschschweiz oder nach Italien. Erst in neueren Gedichten scheint auch ab und zu ein Aktualitätsbezug auf, der beispielsweise das politische (Uganda) oder sportliche (Sydney) Zeitgeschehen reflektiert.

Orellis Lyrik erschließt sich nicht immer schon bei einer ersten Lektüre. Die Syntax seiner Verse ist mitunter komplex, und ein einziges Gedicht kann in einer Handvoll Zeilen eine ganze Reihe von Themen aufwerfen, deren Zusammenspiel unter Umständen nicht sofort erkennbar ist. Auch in sprachlicher Hinsicht variiert Orelli sein Werk. So taucht manchmal neben den hochitalienischen ein Gedicht in Tessiner Mundart auf. Dann wieder fügt der Dichter gezielt ein paar Wörter in Deutsch oder Französisch in seine Strophen ein. In formaler Hinsicht stechen am Original besonders die lautlichen Assonanzen hervor, von denen Pietro DeMarchi im Nachwort manche näher beleuchtet - mit einigem Gewinn für die Lektüre. Bei den Satzzeichen fällt bei Orelli die recht häufige Verwendung von Klammern auf: Sie ergänzen oder modifizieren das Gesagte, oder nehmen es diskret wieder zurück. Orelli ist sich als Dichter stets bewusst, was er seinen literarischen Ahnen verdankt. Er lohnt es ihnen bisweilen, indem er ihnen durch ihre Erwähnung oder durch intertextuelle Anspielungen seine Huld erweist.


Titelbild

Giorgio Orelli: Sagt es den Amseln / Ditelo ai meri. Gedichte italienisch und deutsch.
Übersetzt aus dem Italienischen von Christoph Ferber.
Limmat Verlag, Zürich 2008.
220 Seiten, 23,50 EUR.
ISBN-13: 9783857915567

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