Eine Studie zu Träumen

Christine Steinhoff beleuchtet Ingeborg Bachmanns Poetologie des Traums

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Eine ‚Poetologie des Traums‘ in Hinblick auf Ingeborg Bachmanns ‚Todesarten‘-Projekt wäre noch genauer herauszuarbeiten“, konstatiert die Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Christine Kanz im von Monika Albrecht und Dirk Göttsche 2002 herausgegebenen „Bachmann-Handbuch“. Christine Steinhoff ist dieser Aufforderung sechs Jahre später nachgekommen und hat eine Dissertation unter dem Titel „Ingeborg Bachmanns Poetologie des Traumes“ vorgelegt. Auch Kanz‘ Anregung, einer damit zu verbindenden „Reflexion über die grundlegenden Unterschiede zwischen fiktiven und ‚realen‘ Träumen bzw. Traumprotokollen“ greift sie auf und erklärt, „[n]achdem sich der fiktionale Traum in vielerlei Hinsicht als vom realen Traum abweichend erwiesen hat, ist klar, daß auch seine Analyse nicht mit der eines realen Traumes identisch sein kann.“ Dies alles allerdings, ohne dass Kanz von der Autorin in diesem Zusammenhang genannt würde. Dass Steinhoff den von dieser verfassten einschlägigen Abschnitt des Handbuches dennoch kennt, belegen verschiedene über das Buch verstreute Verweise auf den Textabschnitt (stets ohne Nennung seiner Verfasserin).

Bachmann unternimmt es in ihrem Werk Steinhoff zufolge „vielfach“, die „dem Traum zugedachte kognitive und artikulatorische Kraft literarisch zu imitieren“. Dabei nutze die österreichische Autorin immer wieder einen „dem Traum nachempfundenen Darstellungsmodus“, um die literarisch „abgebildete Welt ‚nach innen zu ergänzen‘ oder ein Verborgenes und schwer Fassliches zu zeigen, das ‚anders nicht zu begreifen‘ sei“, wie Steinhoff zwei Formulierungen Bachmanns aufgreifend schreibt.

Ihre Studie zielt insbesondere auf die „Aussageleistung“, die „mit Hilfe des Traumes vollbracht wird“, mithin also auf die Frage, wie Bachmanns Begriffe der „Unverlautbarkeit“ und der „Ergänzung nach innen“ „konkret zu füllen“ sind und wie sich die literarische „Traumgestaltung“ zum „kulturellen Wissen über den Traum“ verhält.

Da keine gemeinhin anerkannte „Terminologie zur Bezeichnung der verschiedenen Formen literarischer Traumgestaltung“ vorliegt, entwickelt Steinhoff eine eigene viergliedrige Unterscheidung, die sich im Laufe ihrer Arbeit als für das Vorhaben adäquat und tauglich erweist: „(1) eingebetteter Figurentraum (Traumbericht oder Traumerlebnis); (2) Traumreflexion; (3) Traumanalogie; (4) Traumeinkleidung.“ Mit der ersten der vier „Kategorie[n]“ bezeichnet Steinhoff „in einen Handlungsverlauf eingefügte Träume von Figuren“. Die Träume der zweiten Kategorie „erscheinen als Reflexionsgegenst[ä]nd[e] in der Literatur“, deren „Wesen und Bedeutung“ kommentiert werden. Die „Traumanalogie“ setzt als dritte Kategorie das „Traumerleben“ „absolut“, während die „Traumeinkleidung“ der vierten Kategorie „in der Regel kein authentisch anmutendes Traumerleben gestaltet“. Eine „rahmende Eingangsszene“ stellt eine „Situation des Einschlafens und Träumens“ dar, „durch die das Folgegeschehen als geträumtes ausgewiesen wird, ohne, daß dies konsequent als Traum angelegt wird.“ Abgesehen davon, dass eine Eingangsszene eine Erzählung oder einen Roman alleine ja schlecht rahmen, sondern nur eröffnen kann, wäre unter diesem vierten Punkt ergänzend auf die literarisch oft verwirklichte Möglichkeit hinzuweisen, dass ein Epilog die bisher erzählte Handlung als Traumgeschehen entlarvt.

Bachmanns Hörspiel „Ein Geschäft mit Träumen“ kann eine solche Untersuchung wie die vorliegende natürlich nicht unberücksichtigt lassen. Mit plausiblen Argumenten kritisiert Steinhoff die vor einigen Jahren erschienen Interpretationen von Jost Schneider und Andrea Kresimon, denen zufolge in diesem Hörspiel keine Träume verkauft, sondern Filme vorgeführt werden.

Steinhoffs Studie gilt jedoch vor allem Bachmanns literarischer Prosa, wobei der Roman „Malina“ im Zentrum der Untersuchung steht, die zeigen will, „[w]as in den Träumen gesagt wird, und wie dies geschieht“. Wie Steinhoff bemerkt, nehmen Träume im „Todesarten“-Projekt eine „zentrale Stellung“ ein. Zudem weist sie darauf hin, dass Bachmann in ihrem unvollendeten Projekt nicht nur „überwiegend die zeitlich synchrone, unvermittelte Darstellungsweise des Traumerlebnisses“ wählt, sondern die Träume zum ersten Mal mit „Traumreflexionen der Figuren“ verknüpft.

Mit „Traumeinkleidung“ und „Traumanalogie“ hatte Bachmann hingegen bereits früher „experimentiert“, allerdings jeweils nur „ein einziges Mal“: in der frühen Erzählung „Der Kommandant“ und in ihrer Büchnerpreisrede „Ein Ort für Zufälle“. In allen anderen Werken sind die Träume stets „auf die Psyche der [träumenden, R.L.] Figur bezogen“.

So kommt in „Malina“ anders als in „Der Kommandant“ nicht eine „parabolische Traumeinkleidung“ und anders als in der Büchnerpreisrede keine Traumanalogie „zur Anwendung“, sondern „eine realistische Traumkategorie“: der „Figurentraum“. Überzeugend weist Steinhoff nach, dass die Träume in „Malina“ trotz ihrer „traumgemäßen ‚Unordnung‘“ von der Schriftstellerin „sorgfältig“ komponiert wurden und keine Rede davon sein kann, dass Bachmanns eigene Träume „als ‚unverfälschte Niederschriften‘ in den Text eingegangen“ sind, wie Ingrid Ridel meint.

Die „Verdichtungstechnik“ des Traumes wendet Bachmann mit der Figur des Vater der Ich-Erzählerin an. Steinhoff zufolge eine „Sammelfigur par excellence“, die „Züge“ von Max Frischs sowie der Figuren Ivan und Malinas vereint, „in sämtlichen gesellschaftlichen Rollen“ erscheint und einmal sogar in „Gestalt eines Krokodils“. Zuletzt figuriere sie „gleichzeitig als Vater und Mutter“.

Bachmann verfolge mit den „umfängliche[n] und vielfältige[n] Traumverwendung[en]“ eine „generalisierende Aussageabsicht“, mit der sie „über ein Einzelschicksal hinaus auf allgemeingesellschaftliche Strukturen verweisen“ wolle. Zudem lasse sich aus ihnen eine Poetologie des Traumes „extrahieren, die sich als ein flexibles und sich wandelndes, aber auf einigen beständigen Grundfeilern ruhendes Konzept erweist.“ Ihre „Kontinuität“ betreffe vor allem die „freudianisch getönten Prinzipien der Traumgestaltung“, hingegen wandele sich „das Verhältnis von individualpsychologischer und generalisierender Aussageabsicht“. Bachmanns „Traumdichtungen“ basierten bei aller „Varianz in der konkreten Realisierung“ auf einer „literarische Mimesis“, die den Traum „stets als Erweiterung der Ausdrucksmöglichkeiten begreift“. Denn für die Verfasserin des Romans „Malina“ seien literarische Träume vor allem „ein Mittel, die von ihr gewünschte ‚neue Fassungskraft‘ zu erlangen, ein Weg zu dem ‚nie ganz zu verwirklichenden Ausdruckstraum‘“.

Titelbild

Christine Steinhoff: Ingeborg Bachmanns Poetologie des Traumes.
Königshausen & Neumann, Würzburg 2008.
240 Seiten, 34,80 EUR.
ISBN-13: 9783826038624

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