Inseln im Strom der Kommunikation

Die Edition von Georg Simmels Briefen zeigt den "ganzen Menschen"

Von Sandra MarkewitzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sandra Markewitz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Brief verbindet dialogische Bereitschaft mit einer zunächst einseitigen Perspektive: Der Briefschreiber meint, ein "ansprechbares Du" (Paul Celan) zu finden, ein besetzbares "Gegenüber" (Ossip Mandelstam) und ist doch bis auf weiteres auf die Einseitigkeit seines Versuchs, Dialogizität herzustellen, beschränkt. Briefe können Maske sein für das, was unsagbar ist wie in Walter Benjamins Briefsammlung "Deutsche Menschen", deren Motto lautete: "Von Ehre ohne Ruhm / Von Größe ohne Glanz / Von Würde ohne Sold". Dignität in dunkler Zeit, allzu leicht berufbar von den Nachgeborenen, ist jenen Briefen zu eigen, die im Adressaten diese, mit Franz Kafka zu sprechen, Unzerstörbarkeit eines ,Humanums' voraussetzen. Der Brief wird idealtypisch zur Insel im Kommunikationsstrom, zum Ort, an dem eine Stimme, die schreibend spricht, gehört wird und Antwort bekommt.

Handeln Briefe nicht nur von alltäglichen Dingen, sondern sollen Zeugnis ablegen von exemplarischen Biografien, zu denen die unter Beweis gestellte Dialogfähigkeit gehört wie eine Arabeske, verschärft sich die Erwartung. Was schreibt eines der exemplarischen Individuen, wenn es nicht um Werkzusammenhang, große Narratio, Öffentlichkeit geht, sondern um die Ausdeutung und Kultivierung des Privaten von der Verlagsangelegenheit bis in die persönliche Grußadresse hinein?

Georg Simmel (1858-1918) hat, auf Immanuel Kant zurückgehend, in seinem weitausholenden, phänomenologisch diversen Werk die Moderne gedeutet als Spiel von Wechselwirkungen; sein soziologischer Zentralbegriff lässt sich auf den Briefverkehr anwenden. Adorno schmähte den Ruch der "Lebenskunst" in Simmels berühmtesten Kleintexten von Henkel und Rahmen als undialektisch, heute scheinen Simmels Briefe in einem weiteren Sinne ein Element differenzierter und sprachlich differenzierender Lebenskunst zu sein. Nicht aus der Lebenskunst-Abteilung des Philosophieregals mit Anweisungen zum guten Leben, vielmehr aus einer Zeit, in der Briefe noch leitmedialen Charakter hatten und, aus der Romantik nachwirkend, eine Kunst für sich waren. Die Briefe spannen im vorliegenden, von Otthein und Angela Rammstedt mit langjähriger editorischer Kenntnis und hilfreicher Detailtreue edierten Band (die Kommentare folgen gleich nach den einzelnen Briefen, man muss nicht lange blättern) ein engmaschiges Netz schriftlicher Beziehungen. Simmels Briefe waren, so die Herausgeber, nicht zur Veröffentlichung bestimmt - fügen sich aber trefflich diesem Zweck. Vielleicht ist es die relative Absichtslosigkeit dieser Äußerungen, die sie repräsentativ macht für den akademischen Außenseiter Simmel, der erst spät, im Jahr 1914, in Straßburg Ordentlicher Professor wurde. Repräsentativ heißt dann: nicht das Mehrheitliche zeigen, sondern das, was gemeinhin nicht repräsentiert wird, da es numerisch klein ist, aber dennoch repräsentiert werden sollte. So zeigen Simmels Briefwechsel den "ganzen Menschen" in seinem Bildungs- und Lebensgang, der nicht nur das eine Werk hinterlässt, in poststrukturalen Zeiten kaum noch hinterlassen kann, sondern sich immer wieder neu situiert, indem er auf verschiedene Gegenüber trifft, die unterschiedliche Eigenanteile freisetzen.

Die Trennung des späten Simmel an der Universität von der so genannten Privatperson lässt sich im Blick auf das vorliegende Konvolut nicht durchhalten. Es schreibt eine Person in der Vielheit ihrer Zwecke, jenseits der geläufigen Briefsteller-Erfindung, und Simmels schweifender, in den Jugendbriefen den Reim nicht verachtender Stil entspricht, cum grano salis, seinen vielschichtigen Soziologemen.

Die Briefpartner sind Verleger, Kollegen in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (1909 mit Werner Sombart, Ferdinand Tönnies und Max Weber gegründet), Schüler, Freundinnen und Freunde. Die Gesellschaft der 1910er-Jahre in Deutschland zeigt sich vielfältig; verschiebbar scheinen die Grenzen des durch Schrift besetzten Raumes. Die gegenwärtige soziologische Forderung des "bringing back space in" wird hier an einem Alltagsgegenstand vorgeführt: Der Raum, in dem der Briefverkehr stattfindet, wurde von Simmel selbst mit einer Beschreibung versehen - als Selbstbeschreibung enthüllt sie eine zusätzliche Nuance der Physiognomie eines Autors. In seiner "Soziologie" (1908) gibt es im Kontext des Geheimnisses unter dem Rubrum "Geheimhaltung" einen Einschub, betitelt "Exkurs über den schriftlichen Verkehr". Auch der Brief ist Funktion der Vergesellschaftung, Äußerungsmodus des sozialen Tieres. Er beweist das objektiver Ungewissheit abgewonnene Vertrauen auf ein unwahrscheinliches subjektives Sicherheitsgefühl. Simmel schreibt über die Ungeschützheit des Briefs: "Aber diese Ungeschütztheit über jede beliebige Kenntnisnahme läßt vielleicht die Indiskretion gegen den Brief als etwas ganz besonders Unedles empfinden, so daß für feinere Gefühlsweisen grade (!) die Wehrlosigkeit des Briefes zu einer Schutzwehr seines Geheimbleibens wird".

Die Noblesse solcher Gedanken - demonstrierte Schwäche als Immunisierung des Schwachen gegen den Starken verstehen zu können - zeigt bestimmte Interaktionsweisen in ihrer Vergangenheitsqualität. Ihre verpflichtenden Normen sind nicht mehr common sense. Simmels Briefe spiegeln die Zeit, in der die Leute noch Briefe schreiben konnten, weil sie Briefe schreiben mussten. Die damalige Unangefochtenheit des Mediums bringt intrikate Konstellationen hervor: Der Briefpartner ist auch Gegner in Sachfragen, wechselt seine Rollen, moniert wenig emphatische Gutachten - und der Briefaustausch geht weiter. Es zeigt sich, dass Briefe nicht nur Inhalte abbilden von Menschen, die sich verstehen, sondern vor allem Prozessualität aufrechterhalten, das Weitergehen des Austauschs. Sei dieser auch von Absagen und Animositäten überschattet, geht der Diskurs weiter, eine Art Beckett'sches Weitersprechen, das Festhalten an der Sprache, gemessen tautologisch.

Wer war Simmel? Wesensfragen sollten im heutigen theoretischen Klima nicht mehr gestellt werden; gleichwohl konturieren sich: Freundlichkeit, Person (ja, auch: Maske), innige Freundschaft, Besorgnis, gebende und erleidende Zuneigung.

Die Schriftstellerin Margarete Susman (1872-1966) ist eine Adressatin, die viel über die Entwicklung von Denkmilieus sagt: von heute aus betrachtet stellt sie mit ihren Büchern über Frauen der Romantik oder das Hiob-Problem einen selten gewordenen, fast romantischen Typus der Gelehrten dar, einfühlsam, lyrisch, scharf denkend - ein passendes Pendant für Simmels fühlenden Gestus der Kontaktformung. Simmel liebte, so sein Sohn Hans Simmel, nicht die Diskussion um ihrer selbst willen als auf Dauer gestellte Dissonanz: "Diejenigen Worte und Auffassungen der anderen, an die er anknüpfen konnte, um das Gespräch zu erweitern, zu bereichern, zu vertiefen - das war ihm das Wesentliche und Interessante." Auch hier mögen die Wurzeln für Simmels eklektizistischen Zugriff auf die zu erläuternden Phänomene liegen, wissend, dass jeder allzu harte Zugriff den zu betrachtenden Gegenstand verfälschen kann. In diesem Sinne verfährt Simmel nach Wilhelm Diltheys Unterscheidung der erklärenden Naturwissenschaften und der verstehenden Geisteswissenschaften genuin geisteswissenschaftlich, divinatorisch verstehend.

Die Briefe symbolisieren so neben ihrer konkreten Inhaltlichkeit den Wunsch, dass das Verstehen wechselseitig sein möge - ein Kern von Reziprozität, an dem nicht zu rütteln sei, Simmels Bewusstsein von der "Zersplittertheit des Tages, [...] das Durchreißen der eben angesponnenen Fäden" (2.12.1913) zum Trotz. Er ist frei von akademischen Standard-Attitüden, wie dem gleichsam implementierten "kritischen" Gestus, der durch ein Adjektiv benennt, was sich, aus der Sache entwickelt, von selbst verstehen sollte. Simmel schreibt am 27.2.1913 an den aus dem Kafka-Kosmos bekannten Felix Weltsch: "Nur bitte ich Sie, kein ,Urteil' von mir zu erwarten. Ich pflege von Büchern dankbar aufzunehmen, was mich fördert u. an dem andern, das mir nicht gemäß ist, einfach vorüberzugehn. Zum Richteramt aber fühle ich mich nicht berufen u. bedaure es auch durchaus, daß die kritische Attitüde als die selbstverständlich erste u. oft als die einzige gilt, die der moderne Mensch seiner Lektüre gegenüber einzunehmen hätte."

Ein Grund für diese sympathische, gelinde epochéische, das heißt urteilsenthaltende Haltung den Phänomenen gegenüber mag darin gelegen haben, dass Simmel mit der ästhetischen Auffassung Ernst machte. Laut Margarete Susman gehört Simmel "mit Leib und Seele dieser ästhetischen Auffassung an [...] und dadurch, daß er so Gedankenmensch ist, ist das bei ihm alles noch kälter, was bei den anderen Spiegel ist, ist bei ihm Eis." Nun wirkt Simmel als Verfechter des Lebens (in seiner späten Zeit) nicht als Agent der Kälte. Aber die gedankliche Hingabe an eine ästhetische Lebensform, die stets um den Zug zur Totalität in den Dingen weiß, bewirkt Entscheidungen. Und die aufgesetzt kritische Haltung oder gesuchte Dissonanz will hier die Entscheidung, die im Bezug zur Sache liegen müsste, gleichsam instantmäßig schon a priori vornehmen: den Phänomenen nichts zu schenken und in eine Beziehung zu ihnen zu treten, die letztlich agonal ist. Simmels Werke und Briefe dagegen zeigen ein Ideal des Austauschs, wie er heute nicht mehr sein kann - die Krankheit der Moderne liegt auch in ihrer Verordnung kritischer Herangehensweise, die zuweilen vergisst, erst zu verstehen, was dann (im neutralen Sinne von Kants "Kritiken") kritisiert wird. Erneut eine hermeneutische Reminiszenz. Nun urteilte auch Simmel - doch seine Urteile ließen den Dingen ihren Raum und der synthetisierenden Geste des Denkens ihren Platz. Neben dieser Geste - das Empirisch-Lebensweltliche, wenn Simmel im Mai 1913 Martin Buber einlädt, "uns an diesem Sonnabend um 8 Uhr zu ein paar Plauderstunden und einem Butterbrod zu besuchen". Jenseits von Mail und Telefon geschieht die Kommunikationsanbahnung durch die indirekte Direktheit der schriftlichen Einladung - die Protagonisten schaffen die Situation, nicht die Art ihrer Vermittlung oder des Dekorums.

Dann: Der Weltkrieg als prägende "unanschauliche Vorstellung" (4.9.1914), besonders in der Festung Straßburg. Simmel kann nicht mehr "ins Feld", was er bedauert. Zugleich schreibt er an Agathe und Hugo Liepmann am 23.3.1915 von einer Geschichte, "eine Einzelheit, die so das ganze Symbol für das wäre, was an diesem Kriege eigentlich nicht zu ertragen ist". Der Dichter Charles Péguy schreibt im Schützengraben seinem Übersetzer, dem Privatdozenten Stadler, einen Zettel auf dessen schriftliche, dem Dichter unverständliche Annäherung hin: "Mon ami, je ne vous comprends pas, mais je vous aime. U. nach einigen Tagen waren sie beide gefallen."

Zwischen der Forderung des Tages und der Forderung der Idee erlebt Simmel diesen Krieg, der eminent hineinragt in die brieflichen Prozesse. Die Kommunikation hängt ab vom Weltereignis, von heute aus begreift man ein wenig, wie das Außerordentliche in alltägliche Handlungsweisen hinein sich auffächern kann, wie "das Leben weitergeht" nicht als Beschwörungsformel, sondern als Faktizität - und der "reinste Sommerhimmel über diesem wundervollen, geliebten Land" kontrastiert mit dem Gegebenen. Wie einst in Charles Baudelaires spleen-Gedichten im übertragenen Sinne: Statt heiterer Sommerbläue ein anderer Himmel, "bas et lourd"; plötzlich tanzende Glocken, stille Leichenwagen - "sans tambours ni musique". Die Fiktionsgrenze steht zur Disposition, das lyrisch imaginierte Leid des romantischen Individuums wird zu alltäglicher Trauer, zur unzweifelhaften, immer unzeitgemäßen Verkörperlichung der Idee. Im Ganzen genommen sind Simmels Briefe solche Verkörperlichungen, Überführungen faktischer Ereignisse in Schriftbildlichkeit. Die konkretesten Zusammenhänge jedoch sind nicht nur Spiegel individuellen Befindens ("innere [Veranlassungen, S.M.] haben jetzt kein Bestimmungsrecht"). Vielmehr befestigt Simmels Briefsprache äußerlich, was weltgeschichtlich unmöglich wird: die Konzentration auf das Briefgenus mit seinen bekannten Beförderungswegen ersetzt die größere Ordnung in der Zeit - minimales Itinerar, geistiges Wegnetz.

Die Lektüre lohnt sich - und Simmels Schriften scheinen näher, die biografische Seite schließt rezeptive Bereitschaften auf. Zu sehen ist auch, wie losgelöst von den Realia die "absolute(n) Situation" des Krieges zum Prüfstein des zuvor Gelesenen und theoretisch Geschriebenen wird. Wie sich in ihr verhalten? Wie "in jeder Handlung der ganze Mensch lebt", in Simmels beeindruckender Hinnahme seines Sterbens, ist die Krisis lange weitergegangen. Die Briefe des frühen Soziologen werden, so Simmel in anderem Kontext am 13.7.1914, "zu einer hellen Erinnerung für lange Zeit".


Titelbild

Otthein Rammstedt / Angela Rammstedt (Hg.): Georg Simmel Gesamtausgabe 23. Briefe 1912-1918 Jugendbriefe.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2008.
1241 Seiten, 72,00 EUR.
ISBN-13: 9783518579732

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