Von der Verlässlichkeit des Unglücks

Willy Vlautins eindrucksvolles Romandebüt "Motel Life"

Von Holger DauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Holger Dauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Unglück ist immer im Spiel. Davon ist Frank Flannigan überzeugt. Er und sein zwei Jahre älterer Bruder Jerry Lee schleppen es mit sich herum, permanent, wie eine chronische Krankheit, eine hässliche Narbe, wie ein Klotz am Bein. Jerry Lee hat ohnehin nur noch eins: Seit einem Unfall in der Jugend humpelt er mit Hilfe einer Beinprothese durchs Leben, stolpert von einem Problem ins nächste, ziellos, orientierungslos und nicht selten alkoholisiert. Der Alkohol ist es auch, der die triste Geschichte von Willy Vlautins "Motel Life" ins Rollen bringt. Jerry Lee überfährt nachts im angetrunkenen Zustand einen jugendlichen Fahrradfahrer. Voller Panik schafft er die Leiche in den Kofferraum seines Wagens. Wenig später steht er zitternd in der Wohnung seines Bruders in Reno, ratlos und entsetzt. Nach kurzem Disput entschließt man sich, den Toten irgendwo abzulegen und dann das Weite zu suchen.

Frank, aus dessen Perspektive all das erzählt wird, ahnt, dass Flucht nicht die Lösung sein kann. Weglaufen - das hat schon dereinst beim Vater nicht funktioniert, einem labilen, notorischen Spieler, dem ein Leben lang schießwütige Gläubiger, uniformierte Gesetzeshüter oder ein schlechtes Gewissen auf den Fersen waren. Trotzdem: Im altersschwachen 1974er Dodge Fury geht es über die verschneiten, menschenleeren Highways Richtung Montana, weit weg vom Ort des schrecklichen Geschehens, weit weg auch von den Erinnerungen an ein unglückliches, desaströses Leben, dem man letztlich doch nicht entrinnen kann. Da helfen auch die unzähligen Dosenbiere nicht, die man während der eintönigen Fahrt in sich hineinkippt, und auch die Songs von Willie Nelson aus dem Kassettenrekorder können die Stimmung nicht heben. Das permanente Schneetreiben schließlich, das die Sicht auf die Straße, aber auch auf den Sinn des eigenen Lebens verdeckt, lässt die Flucht immer wieder ins Stocken geraten. Das Dasein als Hindernisparcours - die beiden Brüder kennen es nicht anders.

Unterdessen plagen Jerry Lee Schuldgefühle, entsetzliche Schuldgefühle. Nicht nur, weil er den Tod des Jungen zu verantworten hat. Sondern, weil er trotz alledem den unbändigen Wunsch in sich spürt, weiterzuleben, sich zu verlieben und geliebt zu werden. Weil er einfach irgendwann doch noch einmal erfahren will, was Glück eigentlich ist. Und: Weil er den geliebten Bruder immer tiefer in die Sache hineinzieht, die doch letztlich ausschließlich seine Angelegenheit ist. Kurz entschlossen lässt er Frank irgendwo am Straßenrand stehen, fährt alleine weiter, setzt wenig später den Wagen in Brand und schießt sich mit einer Pistole ins Bein, in jenes, das nur noch aus einem Stumpf besteht. Doch der zaghaft-schüchterne Selbstmordversuch misslingt, wie alles, was Jerry Lee anfasst - vielleicht, weil er etwas zu zerstören sucht, was längst zerstört worden ist. Jedenfalls wird offensichtlich: Sogar die Selbstauslöschung ist zum Scheitern verurteilt - so ist das eben bei tragikomischen Anti-Helden.

Im Krankenhaus sieht man sich schließlich wieder. Dort muss der Schwerverletzte die nächsten Wochen verbringen, sein Gesundheitszustand ist besorgniserregend. Frank, der ihn täglich besucht, versucht ihn aufzumuntern, mit Fastfood, Sex-Magazinen und mit seinen selbst erdachten Geschichten. In der Tat: Frank ist ein passionierter Geschichtenerzähler, hier - und nur hier - entwickelt er so etwas wie Leidenschaft, ein kreatives Aufbegehren gegen Lethargie, innere Abstumpfung und gegen die pausenlosen Attacken einer Welt, die nichts als Tiefschläge und verpasste Chancen zu bieten hat. Für Frank und seine wenigen Zuhörer sind die derben, wilden, oftmals abstrusen und zuweilen absurden, dann wieder ungemein liebevollen und sentimentalen Geschichten Fluchtorte, Rückzugsorte, Hoffnungsorte, 'grüne Stellen' inmitten eines öden, grauen Daseins. Hier wird, wenigstens für wenige Augenblicke das Wirklichkeit, was im 'richtigen' Leben keinen Platz findet: Reichtum, Romantik, Ruhm, Heldentum - naive Halluzinationen einer besseren Welt, ohne Frage. Und doch ist sich Frank ganz sicher: Alles, was er erzählt, ist wahr. "Es ist bloß noch nicht passiert."

Nichtsdestoweniger: Die nackte Daseinsrealität lässt sich nicht überlisten. Als zwei Polizisten im Hospital auftauchen und unangenehme Fragen nach dem abgefackelten Wagen der Brüder stellen, gerät Jerry Lee erneut in Panik. Also wieder Flucht. Diesmal willigt Frank ohne Zögern ein. Im neuen Wagen fahren die beiden auf dem Interstate Highway 80 nach Elko in Nevada. Dort dient ein bescheidenes Motel als vorläufige Zufluchtsstätte - und als letzter Ausgangspunkt nüchterner und doch auch nostalgischer Rückblicke. Zahllose Vergangenheitsfetzen werden zusammengefügt, untrügliche Indizien zweier gescheiterter Biografien gesammelt, Ursachen der schmerzhaften seelischen Abschürfungen gesucht - ohne Selbstmitleid, ohne Schuldzuweisungen, aber auch ohne befriedigendes Ergebnis, ohne Auflehnung, ohne jenen Elan, den Menschen haben, die an Veränderung glauben.

"Motel Life" sei "wie ein Besuch auf der Pferderennbahn", schreibt der Romanautor und aktuelle Leipziger Buchpreisträger Clemens Meyer in seinem kurzen Nachwort, "große Hoffnungen, große Enttäuschungen, Poesie und Dramatik". Das ist richtig - und trifft es doch nicht ganz. Denn die Folgen für Vlautins einsame Protagonisten sind weitaus schlimmer, existentieller, ja, im eigentlichen Sinne tragischer als eine verlorene Pferdewette - egal, wie sie sich entscheiden, sie entscheiden sich, ohne es zu wollen, gegen sich und für die persönliche Katastrophe. Sicher: Es gibt schüchterne Ansätze der Schicksalsbeschwichtigung und Optimismusbeschwörung. "Nicht jeder ist verflucht", meint Jerry Lee einmal, und Frank versucht sich und seinen Bruder mit der Erkenntnis zu beruhigen, dass es im Leben eben immer auf und ab gehe. Wahrhaft trostspendende Sätze sehen freilich anders aus. Die kämen für Jerry Lee auch zu spät: Im Motel verschlechtert sich sein Zustand stündlich, der Wundbrand am verletzten Bein breitet sich rasend schnell aus, Frank bringt ihn schließlich wieder ins Krankenhaus, wo er nach einer Woche stirbt.

Willy Vlautin, Jahrgang 1967, kennt sich aus mit den Schicksalen gesellschaftlicher Randgestalten. Seit ein paar Jahren ist er Sänger und Songwriter der renommierten Folkrock-Formation "Richmond Fontaine", deren Lieder immer wieder von Verlierern und Gestrauchelten erzählen, von bedrängten Individuen, für die der viel zitierte und oft beschworene "amerikanische Traum" ein Alptraum, ein persönliches Fiasko geworden ist. So etwas wie Hoffnung spielt hier keine Rolle. Und genau die taucht ganz am Ende von Vlautins Romans plötzlich auf, zumindest ist von ihr die Rede, unerwartet, ein bisschen trotzig, vielleicht nicht mehr als ein hilfloser Versuch, die eigene Verzweiflung zu übertünchen. "Denn Hoffnung" resümiert Frank, "ist besser als nichts." Kaum einer weiß im Grunde weniger darüber Bescheid als er.

Was für Songtexte und Musik - besonders des letzten Albums "Thirteen Cities" - gilt, das gilt auch für "Motel Life": Willy Vlautins bitter-traurige Road- und Underdog-Story ist in jeder Hinsicht gelungen. Es zeugt schon von einem gehörigen Maß an stilistischer Abgeklärtheit, wie es dem Autor gelingt, diese außergewöhnliche atmosphärische Spannung zwischen elegischer Nüchternheit und karger Melancholie zu fixieren, ohne jemals auch nur in die Nähe des Larmoyanten zu geraten. Seine schlichte, wohl austarierte und gänzlich unsentimentale Sprache schafft dabei eine poetische Wahrheit, die tief berührt, nicht zuletzt auch deshalb, weil sie eines immer wieder deutlich macht: Vlautin liebt seine Figuren, er fühlt mit ihnen, leidet mit ihnen und er macht ihnen keine Vorschriften. Zweifellos hat Vlautin mit diesem Erstling bereits seinen ganz eigenen, unverwechselbaren Ton gefunden. "Motel Life" ist ein zartes Buch über raue Wirklichkeiten, ein leises Buch über das Dröhnen einer mitleidslosen Gegenwart, die für Gescheiterte keinen Platz hat, ein im besten Sinne bewegendes Buch, das sich nachhaltig ins Bewusstsein der Leserschaft schreiben wird.

Im Februar ist im Londoner Verlag Faber and Faber Vlautins zweiter Roman "Northline" erschienen. Wann die deutsche Übersetzung herauskommt, ist noch nicht klar. Sicher hingegen ist: Wenn das neue Buch hält, was "Motel Life" versprochen hat, dann ist mit einem weiteren außergewöhnlichen Leseerlebnis zu rechnen.


Titelbild

Willy Vlautin: Motel Life. Roman.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Robin Detje.
Berlin Verlag, Berlin 2008.
208 Seiten, 17,00 EUR.
ISBN-13: 9783827007469

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