Inmitten der Barbarei

Ilse Webers Briefe und Gedichte aus Theresienstadt

Von Daniel GrafRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Graf

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als Ulrike Migdal 1986 eine Sammlung von Chansons und Satiren aus dem KZ Theresienstadt herausgibt, ist darunter ein Gedicht mit dem Titel "Brief an mein Kind". Migdal hat die Verse in Jerusalem im Archiv von Yad Vashem aufgefunden, ohne einen Hinweis auf die Autorin. Sie veröffentlicht das Gedicht als Text einer anonymen Verfasserin - und bekommt im darauffolgenden Frühjahr Post aus Stockholm, von einem ihr damals noch unbekannten Absender: "Die Autorin des Gedichts ›Brief an mein Kind‹ ist meine in Auschwitz ermordete Mutter, Ilse Weber. Und ich bin Hanuš, das Kind, von dem dieser Brief spricht."

Es ist bezeichnenderweise die Aufhebung von Anonymität, die zum Ausgangspunkt für das wichtige Buch wird, das Migdal jetzt, nach zwei Jahrzehnten weiterer Recherchen, bei Hanser herausgegeben hat. Der Band versammelt 76 Gedichte von Ilse Weber und sämtliche ihrer erhaltenen Briefe aus dem Zeitraum zwischen 1933 und 1944. Damit liegt das lyrische Werk der Hörspiel- und Kinderbuchautorin erstmals umfassend vor, das tausenden Häftlingen in Theresienstadt Trost und Hoffnung spendete. Ergänzt durch das ausführliche Nachwort mit den darin enthaltenen Zeitzeugenberichten, ergibt sich ein detailliertes Bild von Webers Persönlichkeit. Zugleich ist das Buch ein gewichtiges Dokument des Nazi-Terrors.

In einfachen, direkten Worten schildern Webers Gedichte den Alltag im KZ. Wie auch die Zeichnungen von Bedrich Fritta und Malva Schalek, die dem Band beigegeben sind, treten ihre Worte den Lügen der NS-Propagandisten entgegen, die Theresienstadt als Vorzeigelager inszenieren. Weber beschönigt nichts. Aber um Kraft geben zu können, braucht ihre Lyrik notwendig eine über die Realität hinausreichende Hoffnungsdimension.

Diese Doppelung prägt auch schon früh ihre Briefkorrespondenz. Klar erkennt und benennt sie das Ausmaß der antisemitischen Hetze, die ihre Familie als Angehörige der jüdischen Minderheit in Mähren bald unmittelbar zu spüren bekommt: "Auf Gutes hoffen wir nicht mehr. Das Leben ist für uns unerträglich geworden, wir leben hier fast wie unter Bestien - verzeihen Sie den Ausdruck, ich hoffe, die wirklichen Bestien werden mir ihn auch verzeihen!" Und trotzdem ist da immer wieder ein unbeugsamer Glaube, der so weit trägt, dass man ihr an einer Stelle vielleicht doch widersprechen möchte: "Es hat sicher alles einen Sinn, was jetzt geschieht", schreibt sie, "einen Sinn, den wir heute noch nicht sehen, der aber doch in allem ist, was geschieht."

Zur selben Zeit, im März 1939, spitzt sich die innere Zerrissenheit zwischen Webers präziser Realitäts-Wahrnehmung und der ebenfalls ganz reellen Funktion ihrer Sprache weiter zu. Ilse und Willi Weber beschließen, ihren Sohn Hanuš in Sicherheit zu bringen. Lilian von Löwenadler, Ilse Webers Freundin und Briefpartnerin, nimmt den achtjährigen Jungen mit nach Schweden, wo er seit Lilians Rückkehr nach England von deren Mutter Gertrude großgezogen wird. Geleitet von dem Wunsch, dem Sohn im fernen Exil das Wissen um das Leid seiner Familie zu ersparen, ist Ilse Weber in ihren Briefen an Hanuš mehr und mehr zur Aussparung der Realität gezwungen. Dass diese immer beklemmender wird, spricht umso deutlicher aus den Briefen an Gertrude. Der Glaube, Hanuš einmal wiederzusehen, schwindet, Selbstmordgedanken kommen auf. Anfang des Jahres 1942 wird das Ehepaar Weber mit dem jüngeren Sohn Tommy nach Theresienstadt deportiert.

Die Texte, die Ilse Weber dort schreibt, werden zum Gemeingut unzähliger Leidensgenossen. Willi Weber bekommt in den Jahren nach dem Krieg aus den verschiedensten Ländern Gedichte seiner Frau zugeschickt, aufgeschrieben von Holocaust-Überlebenden, deren Briefe zum Ausdruck bringen, welche existenzielle Relevanz die Verse besaßen. Die Gedichte sind in traditionellen Liedformen gehalten, metrisch und gereimt. Ilse Weber hat sie zum Teil selbst vertont und auf der Gitarre begleitet, etliche davon als Trostgesänge für die Kinder auf der von ihr betreuten Krankenstation. "Ich sitze da und hüte ihre Ruh", heißt es in "Brief an mein Kind", "und jedes Kind ist mir ein Stückchen Du."

Das Neben- und Ineinander von Realitätsschilderung und Hoffnungsperspektive wird in diesen Gedichten virulenter als zuvor. Titel wie "Familienleben" und "Stückchen Freiheit" erfassen die pervertierte Wirklichkeit, indem sie auf verstörende Weise die Wortbedeutung zum Kippen bringen. "Theresienstädter Kinderreim" imitiert den infantilen Ton und führt damit den Einbruch der Realität auch in die kindliche Sphäre vor: "Rira, rirarutsch, / wir fahren in der Leichenkutsch". Daneben behauptet sich aber auch ein unbeugsames Festhalten am Glauben an Gott, an die Menschlichkeit, an die Möglichkeit von Trost und die Hilfe durch Autosuggestion:

"Wir dürfen, umgeben von Tod und von Grauen,
den Glauben an uns nicht verlieren,
wir müssen der Freude Altäre bauen
in den düsteren Massenquartieren."

"Wir müssen" - Ilse Weber hat es als alternativlose Notwendigkeit verstanden, einen Rest von Hoffnung inmitten der Barbarei zu bewahren. Trotz der immer wieder aufgeworfenen Theodizee-Frage spricht aus ihren Texten ein schier unglaubliches Gottvertrauen, finden sich Sätze darin wie "Denn alles wird gut", artikuliert sich im "Emigrantenlied" gar eine Versöhnungsvision.

"Mit Dichterwort und ein wenig Musik" - "zu helfen und zu lindern": Die Aufgabe, die Ilse Weber sich gestellt hat, hat sie mit kompromisslosem Altruismus verfolgt. Auch darin trifft sich die Haltung, die aus den Gedichten spricht, mit Webers Briefen.

Helfen, so scheint es Webers Überzeugung gewesen zu sein, kann nur, wer die Realität präzise und ungeschönt ausspricht, aber ihre Negativität nicht absolut werden lässt. Das bedeutet nicht zuletzt auch die bewusste Zurückstellung des eigenen Leids:

"Hart und verbittert mag ich manchen scheinen,
weil nie ich Tränen gönne meinem Leid.
Jedoch ich weiß es wohl, muss ich jetzt weinen,
hör ich nicht auf in alle Ewigkeit."

Dass die Gedichte von Ilse Weber der Vernichtung entgangen sind, ist maßgeblich auch das Verdienst ihres Mannes. Er hat einen Großteil davon 1944, unmittelbar vor seinem Abtransport nach Polen, in einem Erdloch vergraben und nach dem Krieg unter widrigsten Umständen wieder an sich bringen können. Im Herbst 1945 kommt es zum ersehnten Treffen zwischen ihm und Hanuš. Die Hoffnung aber, seine Frau und Tommy wiederzusehen, muss Willi Weber 1946 endgültig aufgeben. Im Herbst 1944 ist Ilse Weber zusammen mit ihrem Sohn und den von ihr betreuten Kindern in Auschwitz vergast worden.


Titelbild

Ilse Weber: Wann wohl das Leid ein Ende hat. Briefe und Gedichte aus Theresienstadt.
Herausgegeben von Ulrike Migdal.
Carl Hanser Verlag, München 2008.
348 Seiten, 21,50 EUR.
ISBN-13: 9783446230507

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