Vielfalt und Einheit

Über Philippe Jaccottets Anthologie französischsprachiger Lyrik aus der Schweiz

Von Daniel HenselerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Henseler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Romandie - der französischsprachige Westen der Schweiz - kann für sich in Anspruch nehmen, eine eigenständige Lyrik hervorgebracht zu haben. Dies scheint zumindest Philippe Jaccottet zu suggerieren, wenn er die von ihm herausgegebene Anthologie unter den Titel "Die Lyrik der Romandie" stellt. Dabei könnte man über die Frage durchaus diskutieren, ob denn das poetische Schaffen der französischen Schweiz tatsächlich genügend verbindende Elemente aufweist, damit man von einer gewissen Einheitlichkeit ausgehen kann.

Philippe Jaccottet (geboren 1925) kommt als Herausgeber einer Anthologie von französischsprachiger Lyrik aus der Schweiz wie gerufen. Er selbst ist einer der überragenden zeitgenössischen Schweizer Dichter französischer Zunge. Dabei lebt er seit den 1950er-Jahren in Frankreich: Eine ähnliche Situation kann für Autorinnen und Autoren aus der Schweiz durchaus typisch sein. Schweizer Schriftsteller bewegen sich oft in zwei Existenzräumen zugleich, wovon sich der eine über die Sprache definiert, der andere dagegen über die nationale Zugehörigkeit. Die Autoren haben damit eine doppelte Identität. Ein französisch schreibender Dichter aus der Schweiz muss sein Publikum (und bisweilen auch seinen Verlag) unter Umständen eher in Frankreich suchen, wenn er wirklich wahrgenommen werden will. Auf der anderen Seite hat er aber selbstverständlich auch an der Wirklichkeit der Schweiz teil; ihn beschäftigen unter Umständen dieselben oder doch ähnliche Fragen wie seine deutsch schreibenden Kollegen. Ein Westschweizer Autor hat daher bisweilen einfacher Zugang zum literarischen Schaffen des deutschen Sprachraums als ein Kollege aus Frankreich. Dies betont auch Jaccottet im Nachwort seiner zweisprachigen Anthologie. Es verwundert in diesem Zusammenhang nicht, dass Philippe Jaccottet sich selbst einen Namen als ausgezeichneter Übersetzer von Rilke und Hölderlin hat machen können.

Jaccottet hat für die von ihm besorgte Anthologie Texte von vierzehn Dichtern und zwei Dichterinnen aus dem 20. Jahrhundert ausgewählt. Elisbeth Edl und Wolfgang Matz haben die Gedichte und die übrigens auffallend zahlreich vertretenen Beispiele poetischer Prosa ins Deutsche übersetzt. Jaccottet ist als siebzehnter Dichter ebenfalls mit von der Partie; seine Gedichte wurden allerdings (keine Regel ohne Ausnahme!) von Edl und Matz ausgewählt und in der bewährten deutschen Fassung von Friedhelm Kemp abgedruckt.

Unter den Autoren sind bekanntere und weniger bekannte Namen zu finden: Zu ersteren gehört Charles-Ferdinand Ramuz, der die Westschweizer Literatur in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts dominierte und daher auch für Jaccottet eine Art literarischer Übervater war. Doch auch die großen Reisenden Blaise Cendrars und Nicolas Bouvier sind anzutreffen; an weiteren klingenden Namen kommen Maurice Chappaz und Jacques Chessex zu Wort. All diese Autoren sind im Übrigen nicht allein aufgrund ihres lyrischen Schaffens als literarische Schwergewichte zu bezeichnen.

Das vielleicht wichtigste Verdienst von Jaccottets Anthologie liegt jedoch darin, auch solche lyrische Stimmen zu berücksichtigen, die im deutschen Sprachraum noch kaum bekannt sind. Als Entdeckung darf man Frédéric Wandelère feiern. Manche seiner Gedichte scheinen zunächst einem alltäglichen Blick durchs Fenster geschuldet, doch staunt man anschließend über die Welt, die sich einem öffnet: "Besuch der Kälte heut nacht / das Quecksilber am Fenster zieht sich zusammen // Letzter Schritt des Schnees / doch er wagt ihn noch nicht". Hohes literarisches Können beweisen die oft filigranen Gedichte, mit denen Anne Perrier beharrlich auf die Schöpfung aufmerksam macht, um sich ihrer Existenz immer wieder zu versichern. Die von Jaccottet ausgewählten Texte zeugen insgesamt aber auch von einer eindrücklichen Reichhaltigkeit des lyrischen Schaffens in der Westschweiz: Die Vielfalt reicht von der dunklen Hermetik und betörenden Sprache eines Pierre Voélin über das nur bruchstückhaft formulierte Staunen bei Pierre Chappuis bis hin zur liedhaften Leichtigkeit von Jean Cuttats Gedichten.

Was wäre denn nun aber dasjenige, was die Lyriker der Romandie bei allen festzustellenden Unterschieden gleichwohl verbindet? Jaccottet verweist in seinem Nachwort auf eine Art Familienähnlichkeit, "deren sichtbarste Züge ein gewisser ,Ernst', mithin ein Mangel an Phantasie, an Verspieltheit sind; eine Vorliebe für das ,Gutgemachte' [...]; viel Sinn für das ,Maß' (und mitunter ist man glücklich zu sehen, daß einige es über den Haufen werfen); schließlich, ganz allgemein gesprochen, ein stärkerer Hang zur ,Natur' als zur ,Gesellschaft'". Das ist eine bewusst vorsichtige Charakterisierung, die aber auch Widerspruch provozieren könnte - wie jeder Versuch, ein vielgestaltiges Phänomen dann gleichwohl über einen Leisten schlagen zu wollen. Man könnte im Übrigen hier noch hinzufügen, dass Westschweizer Schriftsteller immer auch in einer besonderen Spannung zwischen der Betonung des Kleinräumigen, Regionalen und dem Ausbruch ins Weite stehen. Das ist zwar kein exklusives Kennzeichen, doch die Lyriker der Romandie mit ihrer doppelten Zugehörigkeit mögen diesen Widerspruch deutlicher empfinden als andere. In dieser Situation finden die einzelnen Autoren dann allerdings zu unterschiedlichen literarischen Lösungen - einige sind in ihrem Werk "welthaltiger" (Cendrars!) als andere, was wohlverstanden per se noch kein Qualitätsmerkmal sein muss. Dass sie sich aber auf die eine oder andere Art und Weise in ihrem Werk mit Fragen nach dem eigenen Ort abgeben müssen, dass sie hie und da Grenzen sprengen müssen, dies scheint für einen Großteil der hier berücksichtigten Autoren zu gelten.


Titelbild

Philippe Jaccottet (Hg.): Die Lyrik der Romandie. Eine zweisprachige Anthologie.
Übersetzt aus dem Französischen von Elisabeth Edl und Wolfgang Matz.
Nagel & Kimche Verlag, Zürich 2008.
272 Seiten, 21,50 EUR.
ISBN-13: 9783312004072

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