Sind wir nicht alle Einzelgänger?

Zu Christian Zehnders Debüterzählung "Gustavs Traum"

Von Monika StranakovaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Monika Stranakova

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Schon als Kleinkind lernt Dominik, einziger Sohn von Gustav und Veronika, mit seinen Eltern nachsichtig zu sein. Nicht, dass sie ihre elterlichen Pflichten vernachlässigen würden - mit Gustav lässt er Drachen steigen und Veronika liest ihm Geschichten vor -, aber so entrückt, wie sie der Wirklichkeit sind, können sie einem Kind kaum Stütze sein und schon gar nicht Geborgenheit bieten. Mit seinen ängstlichen Schritten und seiner melancholischen Veranlagung ist Dominik ganz nach ihnen geraten und doch ist er derjenige in der Familie, der sich in dieser schnelllebigen Welt einigermaßen zurechtfindet.

Der 1983 in Bern geborene Christian Zehnder erzählt in seinem beachtenswerten Debüt die Geschichte einer ruhelosen und einsamen Familie, die diese Bezeichnung kaum verdient. Gustav und Veronika sind sensible Einzelgänger, die tagsüber traumwandlerisch in der Stadt herumziehen, in der Sicherheit, am Abend zu jemandem zurückkehren zu können, der so ist wie sie selbst. Doch auch "in der Mitte der Seinen zu weilen" ist, ihrer üblichen distanzierenden Wahrnehmung entsprechend, "wohlig und furchtsam" zugleich. Auch dort ist man feierlich und abwesend, spricht bemüht, umarmt kurz und heftig das Kind, um in der nächsten Sekunde ganz zu vergessen, dass es anwesend ist. Dominik nimmt es mit Gleichmut hin und fragt sich erst Jahre später, "wie er in Schulaufsätzen von seinem Vater hatte schwärmen [...] können".

Die Erinnerungen an die Kindheit sind dementsprechend rar: Die zahlreichen Umzüge innerhalb der Stadt, die wenigen glücklichen Momente beim Schulsport, ursprünglich nur eine Gelegenheit, "etwas anderes zu tun, als nachzudenken", ab dem fünfzehnten Lebensjahr dann die Kaffeehausgänge und sein Musterschülertum. Echte Freundschaften bahnen sich nicht an, seine Altersgenossen sind vor allem von seiner Fremdheit fasziniert.

Als Gustav stirbt, begeben sich Mutter und Sohn in die weite Welt. Lange reicht ihnen die Gesellschaft des Anderen aus, sie vermissen nichts und niemanden. Als sie sich zwischenzeitlich aus den Augen verlieren, verliebt sich Dominik in die schüchterne Julia, und Veronika findet im liebenswerten Sonderling Paul einen treuen Gefährten. Zum Schluss wandeln sie alle zusammen über eine Traumlandschaft mit vagen Konturen, bis auch diese von einem sintflutartigen Regen weggeschwemmt werden.

Sprachlich ist Zehnder ganz darauf bedacht, im Sinne seiner Figuren "das Geheimnis der Welt" zu bewahren. Er entwirft sein eigenes, wunderliches Universum, fügt es aus etwas anderen Wahrnehmungssplittern zusammen, fasst die kleinsten Rührungen der Seele kunstvoll in Worte, ohne sich von einem noch so flüchtigen Gedanken an eine womöglich fremdelnde Leserschaft aufhalten zu lassen. Man fragt sich als Leser, besonders wenn es einem zu pathetisch wird, ob sich hier jemand nicht allzu ernst nimmt. Dann glaubt man auch zu wissen, warum dieses Debüt die schützende Hand eines der Großen der deutschsprachigen Literatur - in Form eines Zitats aus einem Peter-Handke-Brief an den Autor auf dem Schutzumschlag -, braucht. In zahlreichen anderen Momenten wiederum lässt man sich dankbar fallen, die melancholische Atmosphäre der Erzählung auf sich wirken. Man nickt, rätselt, liest Sätze zweimal, sogar dreimal. Dann verliert das Manieristische der Erzählung und das Einzelgängerische in uns allen seine Schrecken. So oder so, dieses schmale Debüt wird die Leserschaft garantiert spalten.


Titelbild

Christian Zehnder: Gustavs Traum. Erzählung.
Ammann Verlag, Zürich 2008.
100 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-13: 9783250601203

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