Literatur mit Ansage

In Gerhard Falkners Novelle "Bruno" trifft Adalbert Stifter auf Ernest Hemingway und am Ende ist der Bär tot

Von Jens ZwernemannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jens Zwernemann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist eine zu Unrecht vernachlässigte Kunst - das Lesen von Klappentexten. Zugegeben: Die Lektüre der ewiggleichen Lobhudeleien, die findige Verlagsmitarbeiter mit einer ans Genial-Perfide grenzenden Fingerfertigkeit aus diversen Rezensionen zusammenkomponieren, ist eine eher ennuyante Beschäftigung.

Manchmal jedoch erweisen sich diese Kurztextchen als wahre Trouvaillen verlagsgesteuerter Interpretationskunst. So auch im Fall von Gerhard Falkners Novelle "Bruno". Der Autor, so gibt der Schutzumschlagtext stolz preis, zählt immerhin zu den "bedeutenden Dichtern der Gegenwart", und wenn einer dieser "bedeutenden Dichter" eine Novelle über den wohl bekanntesten Bären der letzten Jahrzehnte schreibt - und dieses Werk dann vom Verlag zur Sicherheit schon mal ausgiebig vorinterpretiert wird -, dann liest sich das folgendermaßen: "Ein deutscher Schriftsteller kommt nach Leuk in der Schweiz. Bei seiner Ankunft erfährt er aus den Zeitungen, dass auch der Braunbär Bruno im Oberwallis aufgetaucht ist. Im Autor wächst, für ihn zunächst undurchschaubar, die Obsession, diesem Bären begegnen zu müssen."

In der Tat lässt sich zum Inhalt eigentlich kaum mehr sagen - außer vielleicht zur überraschenden Abschlusswendung, die jedoch aus Gründen der Spannungssteigerung einstweilen auch hier noch verschwiegen sei. Es kommt in der Folge, wie es anders kaum hätte kommen können, zu "eine[r] absurde[n] Suche mit verdeckten Ködern, verfehlten Spuren, existentiellen Wendepunkten und verrückten Begegnungen", die aber nicht einfach irgendwo stattfindet, sondern "in einer grandios beschriebenen Stifter'schen Alpenwelt."

Schon hier werden literaturwissenschaftliche Alarmglocken zum Schrillen gebracht und alle, die es von selbst womöglich nicht erkannt hätten, werden ganz en passant auf die intertextuellen Verschränkungen von Falkners Novelle hingewiesen. Doch kaum ist der interpretatorische Stein einmal ins Rollen gebracht, ist er nicht mehr zu halten: "Auf den ersten Blick handelt es sich um eine Naturerzählung, bei genauerem Hinsehen aber ist es die Novelle eines Scheiterns auf allen Ebenen."

Im Klartext heißt das, dass nicht nur dem armen Bruno am Ende gehörig das Bärenfell über die Ohren gezogen wird. Um etwaigen Missverständnissen vorzubeugen, wird doch lieber allen, die es vielleicht bisher noch nicht verstanden haben, unmissverständlich gesagt, dass es sich bei "Bruno" natürlich um weitaus mehr als um eine lapidare "Bärengeschichte" à la Bernhard Grzimek handelt: "[E]s ist eine vielschichtige sprach- und bildmächtige Künstlernovelle, mit der der Lyriker Gerhard Falkner Ernest Hemingway und Adalbert Stifter seine Reverenz erweist."

Und erneut schrillen die intertextuellen Alarmglocken - nicht nur Stifter, nein, auch Hemingway hat Pate gestanden für Falkners Novelle, sodass man das Werk getrost auch als "Der alte Mann und das Meer" beißt auf "Granit" (denn das ist, so informiert der bildungsbeflissene Erzähler den Leser am Ende noch, der Stifter'sche Prätext) zusammenfassen könnte. Dabei wird der bei Hemingway ohnehin schon gewaltig große Fisch bei Falkner - wahrscheinlich in Ermangelung ausreichend großer alpiner Gewässer - zum noch gewaltigeren Bären.

Wohlan, nachdem somit die Lektüre der Klappentextexegese so gut wie alle inhaltlichen und interpretatorischen Fragen bereits im Vorfeld hinreichend zu klären vermochte, kann sich der solcherart aufgeklärte Leser nun ganz dem sprachlichen Genuss der Novelle widmen, denn wenn einer der "bedeutenden Dichter der Gegenwart" eine Novelle schreibt, dann liest sich das folgendermaßen:

"Dass ich hier bin, habe ich in der Zeitung gelesen.
In der Zeitung steht, ich sei in Leuk eingetroffen.
Leuk ist ein Ort im Wallis.
Das Wallis ist ein Kanton in der Schweiz.
Die Schweiz ist ein kleines Land aus Granit im Herzen Europas.
Da in der Notiz in der Zeitung ein Bild beigestellt ist, weiß ich wenigstens, wie ich aussehe.
Obwohl ich mir immer gewünscht habe, niemals so auszusehen, wie dieses Bild mir nun unwiderlegbar vor Augen führt, wird es mir vielleicht behilflich sein, den ausfindig zu machen, den es darstellt."

All jene, die genug Ehrgeiz aufbringen können, um die (gewöhnungsbedürftigen) Staccato-Sätze des Anfangs zu lesen, belohnt der Autor für ihre hoffentlich hohe Frustrationsschwelle schon bald darauf mit Sätzen, deren Länge selbst Thomas Mann vor Neid hätte erblassen lassen. Doch unabhängig von der jeweiligen syntaktischen Erscheinungsform wird bald klar: Die dem Erzähler selbst anfangs unerklärliche "Obsession", dem bekannten Bären begegnen zu müssen, ist Ausdruck seiner Suche nach sich selbst.

Doch halt, muss sich Falkner da gedacht haben - was, wenn das so vielleicht doch nicht alle verstehen? Das wäre natürlich fast so, als werfe man literarische Molluskenprodukte vor unreine Paarhufer. Also, ganz zur Sicherheit, lieber explizit schildern, worum es geht: "Nun jedoch, wo sie [die Nacht] überall hervorbricht und die Dunkelheit, seit Stunden unermüdlich herbeigesungen von den Amseln mit Macht überhandnimmt, beginnt das Flämmchen meines Ichs zu flackern, und obwohl der Radius, den es beleuchtet, nicht der Rede wert ist, beleuchtet es einen Umkreis, der genügt, meine Umrisse zu erkennen. In diesen Umrissen sehe ich mich einen Berg hinaufstolpern, wie jemand, an dessen Gang man bereits erkennt, dass er nicht alle beisammen hat, irgendeiner Sache hinterherjagend, von der ich nur die Spur zu haben scheine, während hinter mir der Wald in Flammen aufgeht."

Achtung: Vorausdeutung! Die pyromanischen Präferenzen des Erzählers werden immer wieder thematisiert und erstrecken sich sogar auf die Definition seines Selbst. Letztere klingt zwar wie aus der spätmodernistischen Klamottenkiste, macht dann aber hoffentlich selbst dem Letzten klar, worum es hier eigentlich geht: "Wahrscheinlich ist es, was die Temperaturen angeht, mit dem Ich ganz ähnlich: Die Hitze sitzt tief, und je höher es aus seiner Umgebung herausragt, umso eisiger wird es." Nun haben das doch wohl alle verstanden - oder doch nicht? Falkner traut seinem Lesepublikum offenbar nur intellektuelle Leistungen mittlerer Komplexität zu, also lässt er seinen Protagonisten die Parallelen zwischen sich und dem Bären sicherheitshalber noch deutlicher herausstellen, indem sich ersterer als "ein ebenfalls vom Aussterben bedrohtes Exemplar einer einst in gesunden Populationen vorkommenden, unbändigen Existenz" beschreibt. Platt gesagt: Der Mann ist offenbar in den Wechseljahren - doch seine Potenz wird davon, wie eine kurze erotische Episode darlegen soll, glücklicherweise nicht tangiert. Dafür ist er aber erfüllt von einem tiefsitzenden Ekel gegenüber der populären Kultur und ihren widerwärtigen Auswüchsen, die ihm etwa in Form eines Schweizer Boulevardblatts begegnen oder auch in den "troglodytenhaften Gestalten der lauten und hässlichen Musik, mit ihren wüsten Grimassen, ihren zermürbenden Riffs und dem gruseligen Geflüster ihrer Blut-und-Hoden-Litaneien, also Schwermetallern wie Messiah oder Celtic Frost".

Jawohl! Nachdem er mit diesem (zugegeben: ziemlich flachen) Bonmot alle bösen Heavy-Metal-Bands auf die Plätze verwiesen hat, kann er sich endlich wieder seinem Lieblingsthema widmen - sich selbst und seinem Überdruss: "Ich spürte, welche existentielle Müdigkeit uns alle erfasst hat, und wie grotesk uns das macht. Ich erinnerte mich, wie ich in Momenten fieberhafter Schönheit nach dem Leben gegriffen hatte und mit welcher Lust es mich erfüllte, selbst in Ketten zu tanzen, bis schließlich diese Welle von Ekel und Überdruss mich überschwappte und die Festigkeit meiner ewigen Jugend und meines unbesiegbaren Körpers unterspülte. Hier also war ich. Jenseits des Nihilismus."

Mag man sich den Protagonisten nun auch nicht unbedingt in Ketten tanzend vorstellen (Achtung! Parallele zum Bären!), so erhält die Novelle dadurch zumindest noch schnell eine intellektuell adäquate Fin-de-siècle-Wendung: Es ist das Baudelaire'sche Monster der Langeweile, das den Erzähler auf der Suche nach dem Bären, nach seinem Selbst und vor allem nach dem Sinn durch die Berge kraxeln lässt. Aktion soll wieder an die Stelle kulturell verordneter Passivität treten, die vita passiva des blinden Konsums durch einen Freiheitsschlag gigantischen Ausmaßes wieder zur selbstbestimmten vita activa gewandelt werden.

Welche Kulisse böte dafür einen besseren Hintergrund als die erhabenen Alpen, die, so verheißt ja der Klappentext, in Stifter'scher Manier "grandios" beschrieben werden: "Gestern war ich [...] schon sehr früh über Leukerbad zur Rinderhütte aufgebrochen. Von dort bin ich am Wyss See vorbei zum Restipass hochgestiegen und über den nackten, schroffen Rücken der Loicherspitza zur Restialp, bis der Blick frei wurde ins Löschental hinein und hinüber zum Doldenhorn zum Balmhorn und zum Bluemlisalphorn. Anschließend setzte ich meinen Weg fort hinüber zum Kummenalp, brach dann aber den Weg zum Ferdenrothorn ab, der mich noch weiter in die nackten Berge geführt hätte."

Die genauen Parallelen zwischen Stifter und Faulkner herauszuarbeiten mag ein dankbares Thema für eine Proseminararbeit sein; einstweilen wird man sich jedoch des Eindrucks nicht erwehren können, dass Faulkners Beschreibungen der Landschaft eher nach Auszügen aus dem ADAC-Routenplaner klingen denn nach grandios-majestätischen Naturbeschreibungen. Auf seiner fortgesetzten Suche durch die Alpen verstaucht sich der Protagonist noch den Knöchel und begegnet - dies ist der komische, da selbstironische Höhepunkt der Novelle - einer Kuh, die er zunächst für Bruno hält. Letzterer wird schließlich von einem debil grinsenden Jäger zur Strecke gebracht, wofür ihn der Protagonist mit einem beängstigend bösen Blick straft, bevor er am Ende unverrichteter Dinge wieder nach Berlin abzieht.

Die sich leitmotivisch durch die Novelle ziehenden Feueranspielungen gipfeln übrigens im Versuch des Erzählers, mittels Grillanzündern die umliegenden alpinen Wälder großflächig in Schutt und Asche zu legen. Ein Versuch, der - getreu der Maßgabe, dass "Bruno" die "Novelle eines Scheiterns auf allen Ebenen" ist - letztlich ebenso schief geht, wie die Selbstfindung des Protagonisten. Nach seiner Rückkehr findet der Autor auf seinem Berliner Schreibtisch neben Stifters Novelle und Hemingways Roman auch den Anfang eines eigenen Textes (in dieser selbstreflexiv-intratextuellen Verschränkung eher ein Motiv aus der post-modernen Klamottenkiste), bevor Falkner sein Werk dadurch enden lässt, dass sich sein Protagonist ein Glas Rotwein über den Kopf gießt: "dann war endlich Ruhe".

Falkners "Bruno" ist ein Musterbeispiel für ,Literatur mit Ansage', bei der ein Autor seiner Leserschaft jeden Handlungsschritt so oberlehrerhaft genau erklären zu müssen vermeint, dass sich die unglaubwürdig-affektierte Langeweile des Protagonisten auf Seiten der Rezipienten schon bald in schmerzlich-realen Ennui verwandelt. Der Funke, um Falkners Lieblingsmetapher zu gebrauchen, vermag bei der Lektüre von "Bruno" nicht so recht überzuspringen - und obwohl mit rund 110 Seiten im guten Novellen-Mittelfeld liegend, scheint die gefühlte Seitenzahl dieser Novelle um ein Vielfaches höher.


Titelbild

Gerhard Falkner: Bruno. Eine Novelle.
Berlin Verlag, Berlin 2008.
109 Seiten, 16,50 EUR.
ISBN-13: 9783827007858

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