Ständig kippende Bedeutungen

Zehra Ciraks neuer Gedichtband

Von Georg PatzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Georg Patzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Einst war mir verrückt nach Worten / wie nach mir selbst / und meinen Nächsten / und was habe ich getan mit meinem Elan / ich habe ihn versatzbummelt". Und dann spielt Zehra Cirak mit den sechsundzwanzig Buchstaben, lässt sich einen Korb von ihnen geben, "und mir gefällt es sie hineinzulegen / jedem Buchstaben ein Kleid aus Bildern / jedem Bild ein Buchstabenkleid über / Im Korb wird's eng die Gläser platzen".

Lyriker haben es schwer. Wer nimmt sich noch die Zeit, ihren Würfen, ihren Spielen, ihren Eingebungen, ihren leichtfüßig, schwermütig, hartherzig und dünnhäutig hingeworfenen und zurecht gemeißelten Worten nachzusinnen? Besonders wenn sie wie bei Zehra Cirak nicht aus einem Guss sind, nicht in einem festen Stil geschrieben sind, sondern spielerisch, abstrus und abseitig. Manchmal direkt, konkret und genau, manchmal träumerisch und beobachtend, manchmal privat und betrachtend.

Lyriker haben es schwer, so auch Cirak, die im Jahr 2001 den Adelbert-von-Chamisso-Preis bekam. 1960 in Istanbul geboren, kam sie zwei Jahre später nach Deutschland, wuchs in Karlsruhe auf und lebt seit 1982 in Berlin. Nur wenige Gedichtbände hat sie in den letzten zwanzig Jahren publiziert. Wie schon in ihren vorherigen Büchern kommt Ciraks Stellung zwischen den Kulturen auch in ihrem neuen Band "Bewegung" nur verschlüsselt vor, in Stimmungen, in denen ihr die Wörter durchgehen, sich auflösen, fremd werden und versteckte Bedeutungen offenbaren, die im Alltagssprechen längst verloren gingen.

Viele ihrer Gedichte sind voller ständig kippender Bedeutungen, wie "Kopfüber", in dem es von einem Nagel mit zwei Köpfen über einen Kreißsaal zur Metapher "Nägel mit Köpfen" geht. Empfindsam streift sie verschiedene Welten: "an beiden Ende ein Anfang mit Weh / in des Nagels Mitte liegt der Schmerz / zwei Herzen klopfen an die Wand / die auf Nägel gefasst". In jedem Satz stürzt Cirak von Bild zu Bild, von Gefühl zu Gefühl und über ihnen liegt eine Melancholie, die selbst in den Liebesgedichten eher den Abschied vermuten lässt als die Freude, eher das Nichtverstehen und die grundsätzliche Trennung. So wenn sie ihrem Liebsten Kirschen auf den Mund legt, "aber diese Kirschen sind meine beiden Augen / die sich aus Traurigkeit kirschrot geweint / traurig weil sie dir nicht tief genug / ins Herz geschaut".


Titelbild

Zehra Cirak: In Bewegung. Gedichte und Prosaminiaturen.
Hans Schiler Verlag, Berlin 2008.
114 Seiten, 17,00 EUR.
ISBN-13: 9783899302103

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