Was von Jugendträumen übrigblieb

Rafael Chirbes schreibt in seinem neuen Roman "Krematorium" weiter an seiner Spanienbiografie

Von Bernhard WalcherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernhard Walcher

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In ihren Zwanzigern waren die beiden Brüder Rubén und Matías Bertomeu - und Matías ist es geblieben - linke Intellektuelle, die sich nicht nur gegen das autoritäre Franco-Regime aufzulehnen versuchten, sondern auch Ideale hatten und daran glaubten, die Welt verbessern zu können. Doch die beiden trennen auch zehn Jahre und der ältere, kurz nach Francos Staatsstreich gegen die demokratisch gewählte republikanische spanische Regierung geborene Rubén musste schnell einsehen, dass man bestenfalls die eigene kleine Lebenswelt verändern, von Weltverbesserungsfantasien aber nur schwerlich leben kann. Von Rubéns späterem Erfolg als Bauunternehmer und seinem mit großen Projekten an der Ostküste Spaniens rund um die Massentouristenhochburg Benidorm angehäuften Vermögen profitiert auch der zwei Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs geborene Matías, der in Cafès und Bars seine ausgedehnte Studienzeit verbringt, über korrupte Politiker herzieht, die Auswüchse des Kapitalismus und natürlich auch die Machenschaften seines Bruders verurteilt. Bis zum Ende seines Lebens bleibt er im Grunde auf diesen angewiesen

Nach seinen auch in Deutschland erfolgreichen Geschichtsromanen, in denen Rafael Chirbes den Franquismus und seine Folgen literarisch verarbeit hat und teilweise bis ins späte 19. Jahrhundert zurückgegangen ist, hat er mit "Krematorium" nun einen meisterhaften, ebenso erschütternden wie kunstvollen Gegenwartsroman vorgelegt, der seine Spannungsmomente nicht zuletzt auch aus der Vergangenheit der Franco-Ära bezieht. Dem denkbar einfachen Motiv zweier ungleicher Brüder als personelle Grundkonstellation steht ein anspruchsvolles, aus den früheren Romanen schon bekanntes Erzählverfahren von kapitelweise wechselnden Erzählperspektiven gegenüber.

Gleichwohl ist das Personal in Chirbes' neuem Roman überschaubarer als in dem großangelegten Geschichts- und Familienporträt "Der lange Marsch" (deutsch 1998) oder "Alte Freunde" (deutsch 2004). Doch zeigt sich auch in "Krematorium" wieder Chirbes' Kunst, seinen Erzählern eine unverwechselbare Sprache zu verleihen, die den Leser schnell erkennen lässt, wer gerade erzählt oder über wen gerade erzählt wird. Allerdings beschränkt sich die erzählte Zeit in "Krematorium" auf wenige Stunden, nachdem Matías' Familienangehörige und Freunde die Nachricht seines Todes erhalten haben. Den Beginn des Romans markiert ein langer innerer Monolog Rubéns ("Du liegst auf einem Laken, auf einer dünnen Metallplatte oder auf Marmor. Ich sehe dich vor mir. Sehe dich wieder"), in dem er sich an den toten Bruder erinnert, ihn anspricht und gleichzeitig melancholisch auf sein eigenes Leben zurückblickt.

Dabei gewährt die literarische Technik des inneren Monologs beziehungsweise der erlebten Rede in den Rubén-Kapiteln dem Leser einen minutiösen Einblick in Rubéns Gedankenwelt und Bewusstseinshaltung, die im krassen Gegensatz zu seinem Tagesgeschäft zwischen Bestechungsterminen und Anweisungen an seinen Mann fürs Grobe, Román Calado, stehen. Gefühle kann und will sich der Siebzigjährige, in zweiter Ehe nach dem Tod seiner ersten Frau mit der um einige Jahrzehnte jüngeren Monica verheiratete Rubén schon lange nicht mehr leisten, schon gar nicht anderen gegenüber.

Und so erfährt von den anderen Romanfiguren auch keiner von Rubéns schwermütigen Zwiegesprächen mit sich selbst, seinem toten Bruder, seiner Frau oder seiner Tochter Silvia, während er im Auto sitzt und späte Schubert-Sonaten, Bach oder Schostakowitsch-Symphonien hört: "Du, Matías, wirst binnen weniger Stunden die Textur des Rauches haben, der in den Augen beißt. Unser Leben endet mit dem letzten Atemzug. [...] Sie werden deine Asche verstreuen, Matías, und es bleiben dann keine Symbole, weder der Hammer noch die Sichel [...]. Matías wird, von Bach an die Hand genommen, ins Nichts eingehen. Die großartigste Musik für den Augenblick der Transsubstantiation oder, besser, für einen intranszendenten Augenblick, denn für den Toten bedeutet er nichts. Für ihn könnte auch die Carmagnole gespielt werden. Für uns aber wird die Musik ein Trost sein, der es uns erlaubt, unseren Gedanken nachzugehen, einige dieser flüssigen Gefühle zu verströmen, die wir in solchen Augenblicken brauchen. Du gehst, und dich begleitet das Schönste, das der Mensch je geschaffen hat. Wir Menschen leben und sterben allein, die Individualität ist unüberwindlich."

Interessant ist hierbei nicht nur, dass Chirbes dieser Kontrafaktur des Römerbriefes 14,7 die Originalstelle der Bibel ("Denn unser keiner lebt sich selber, und keiner stirbt sich selber") vor den Beginn des eigentlichen Romans- von den Erzählebenen her als Motto also vor seine unterschiedlichen Erzähler stellt - sondern dadurch auch Rubéns düstere Überlegungen zum Tod einerseits und die aus der paulinischen Botschaft ableitbare christliche Hoffnung andererseits in ein merkwürdiges Spannungsverhältnis geraten.

Auch für die anderen Romanfiguren ist Matías' Tod der Anlass, über das Vergehen der Zeit ("Die Zeit: eine Ratte, die alles vertilgt"), über eigene, wechselnde Pläne und gesellschaftliche Verhältnisse nachzudenken. Da ist die Tochter Rubéns aus erster Ehe, Silvia, die sich während und nach ihrem Studium der Kunstgeschichte auf die Barockzeit mit ihren Vanitas-Themen aber auch einer zutiefst christlich geprägten Vorstellung der Menschheitsgeschichte als Heilsgeschichte spezialisiert hat und dem Vater seine scheinbare Gefühlslosigkeit nicht verzeihen kann.

Oder der alte Freund der Bertomeus, der schwerkranke und schwule Schriftsteller Federico Brouard, über den Silvias Mann eine Biografie schreibt und der mehr in der Vergangenheit als in der Gegenwart lebt. Chirbes lässt sich viel Zeit für den Blick auf die inneren Bewegungen und äußeren Erschütterungen seiner Figuren und macht das Vergehen der Zeit auch mit der Wahl seiner Erzähltechnik spürbar. Wie ein musikalisches Thema werden die Vergänglichkeit und der Tod in immer neuen Variationen behandelt. "Krematorium" ist eine Todesfuge, die gleichzeitig eine Hymne auf das Leben sein will und doch Protagonisten präsentiert, die, wie Rubén, in ihren intimsten Augenblicken nicht über den Schmerz hinwegkommen, dass es keine Rückkehr zu ihren jungen Jahren gibt und "die Zeit nicht in Richtung Vergangenheit läuft".

Substrate dieser Vergangenheit sind die immer wieder eingestreuten und atmosphärisch dicht beschriebenen (Kindheits-)Erinnerungen und vor allem die Musik und Lieder jener Jahre, in denen für den alten Rubén nicht nur die eigene jugendliche Egozentrik zum Ausdruck kommt, sondern deren Texte sich im Rückblick auch als bittere Wahrheiten erweisen, wenn etwa in dem schon vom Titel her paradigmatischen Chanson von Charles Aznavours, "Hier encore, j'avais vingt ans", von den "tant de projets qui sont restés en l'air" die Rede ist. Für Rubén ist es ein Lied, das "diese Zwanziger beschreibt, in denen wir die Zeit verschwendeten und dabei glaubten, sie anzuhalten" - was ebenfalls eine Textstelle aus "Hier encore" zitiert.

Dieser Trauer um die durch den Tod von Matías unabänderlich zerbrochenen Brücken zur Vergangenheit korrespondiert bei Rubén und auch den anderen Figuren ein Sich-Fügen in eine Gegenwart, über die man nur eine bittere Bestandsaufnahme abgeben und eine düstere Zukunftsprognose wagen kann. Barocke Vanitas-Motive werden hier ins beginnende 21. Jahrhundert übersetzt wie auch apokalyptische und christlich-heilsgeschichtliche Vorstellungen auf die Welt projiziert werden, in der wir leben. Als Bezugspunkt dieser Themen nutzt Chirbes die Architektur und das Bauen. Sein Blick auf die Küstenlandschaft Spaniens mit dem fiktiven Misent als Lebensmittelpunkt seiner Romanfiguren und Brennpunkt der spanischen Bauindustrie ist ein Blick auf eine gottverlassene, aber von Menschen dicht besiedelte Landschaft. Und vielleicht ist sie auch in so exzessiver Weise besiedelt worden, damit Gott gar keinen Platz mehr finden kann.

Für Silvia und ihren Mann Juan ist Misent ein Ort, "weit von dem entfernt, was der Mensch wahrhaft im Leben zu tun hat". Ohne prophetische Weltuntergangsszenarien zu evozieren, schildert Chirbes die Befindlichkeit einer Gesellschaft und greift dabei auf das Bild- und Begriffsrepertoire der biblischen Apokalypse zurück, um deren auch innerweltliche Relevanz zu verdeutlichen: "Aber jetzt haben wir den Antichrist schon vor Augen: Er heißt Beton [...]. Die apokalyptische Bestie wird nicht kommen, sie ist schon da. Es kommt, was schon gekommen ist. Sicher ist nur, was wir verloren haben: eine Lebensform". Nicht das Eintreten himmlischer Zeichen werden als Boten eines Jüngsten Gerichts gesehen, sondern die Entfremdung des Menschen von seiner eigenen Natur und der Rücktritt von dem, was einmal den contrat social ausgemacht hat.

Der Bauboom und das Baugewerbe fungieren hier als Sinnbild für den Kapitalismus, Produkte einer Menschheit, die sich ihre Paradiese selbst zerstört und Misent als Symbol für eine Welt, in der der Profit um jeden Preis alles, der Mensch gar nichts mehr ist und wie von einer fremden Macht getrieben scheint. Denn jene, die wie Rubén Anteil an der verheerenden und spekulationsgetriebenen Zerstörung der spanischen Küsten hatten, erscheinen im Roman ebenfalls als Opfer eines blinden Schicksals und einem nicht nach Individuen und Einzelschicksalen fragenden Geschichtsprozess.

"Krematorium" ist ein grandioses Zeitbild der Gegenwart und Rafael Chirbes ihr Chronist, nicht aber ihr Ankläger. Davon, dass hier ein Autor durch die Stimme seiner Erzähler Anklage erhebt und die bestehenden Verhältnisse verurteilt, kann nur bedingt die Rede sein. Zu komplex ist das Erzählgefüge, zu vielstimmig der Chor derer, die hier zu Wort kommen. Und der Autor hat gut daran getan, an seinen Figuren - auch nicht an dem eiskalten Unternehmer Rubén - Kritik zu üben. Er und alle Protagonisten kommen mit ihren Verfehlungen und Stärken, mit ihren unterdrückten Ängsten, ihren Sehnsüchten, von denen außer dem Leser vielleicht niemals jemand erfährt, ihren unerfüllten Hoffnungen und begrabenen Wünschen zu Wort. Chirbes dokumentiert mehr, als er kritisiert, er verdichtet mehr, als dass er ausbreitet. Und doch breitet sich das ganze Panorama des modernen Spaniens in dieser eng verzweigten Familiengeschichte aus, das in wenigen Stunden nach dem Tod von Matías eingefangen wird. Nach so vielen und ausführlichen Einblicken in das Innenleben der Hauptfiguren und so präzisen Ausblicken auf die an Kontur gewinnenden Triebfedern des 21. Jahrhunderts steht am Ende dieses Gesellschafts- und Gegenwartsromans als letztes Bild wieder das des Individuums, der tote Matías "auf einem Laken, einer Metallplatte oder auf Marmor", die einzige und letzte Gewissheit nicht nur der Romanfiguren.


Titelbild

Rafael Chirbes: Krematorium. Roman.
Übersetzt aus dem Spanischen von Dagmar Ploetz.
Verlag Antje Kunstmann, München 2008.
425 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783888975219

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