Die Nachgeschichte des Grauens

Ulrike Vordermark über die Erfahrung Buchenwalds bei Jorge Semprún

Von Jan GerstnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Gerstner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"On peut toujours tout dire, le langage contient tout" "Man kann immer alles sagen, die Sprache enthält alles", heißt es ziemlich am Anfang von Jorge Semprúns "Schreiben oder Leben". In einem Buch über die Erfahrung im Konzentrationslager Buchenwald ist das keine Selbstverständlichkeit. Weniger das Sagen als das Erzählen ist es aber, das bei Semprún zwar nicht fragwürdig, jedoch immer wieder einer neuen Reflexion unterzogen wird. Doch welche Erkenntnisse lassen sich aus solchen Reflexionen für eine historische Untersuchung der Konzentrationslager ziehen? Es ist das Verdienst der Arbeit von Ulrike Vordermark, dass sie dieser Frage bei der Analyse von Semprúns Werk unter sowohl geschichts-, als auch literaturwissenschaftlichen Aspekten nachgeht.

Wie sie von Anfang an deutlich macht, reicht es nicht aus, die literarischen Texte bloß auf die Fakten, die sie über das Lager Buchenwald mitteilen können, hin abzuklopfen, sondern es ist der Prozess der Erinnerung selbst, wie er erzählt wird, der etwas über die historische Wirklichkeit des Lagers mitteilen kann. Gerade bei einem Autor wie Semprún bietet sich eine solche Herangehensweise besonders an. Da es ihm erst nach einer langen Zeit des freiwilligen Vergessens gelang, seine Erfahrungen in Buchenwald seit 1963 literarisch zu verarbeiten, ist der Vorgang des Erzählens nie rein dokumentarisch zu verstehen. Er legt vielmehr Zeugnis vom Schrecken der nationalsozialistischen Lager ab, indem neben einer drastischen Schilderung der schrecklichen Vorgänge selbst immer auch deren Nachgeschichte - das Nachwirken in der Erinnerung des Überlebenden - miterzählt wird. Auch wenn sich Sempruns Darstellung an die grundlegenden Fakten hält, kann der persönliche Wahrheitswert des Zeugnisses für ihn aber nur in der fiktionalen, literarischen Bearbeitung ausgedrückt werden.

In erhellender Weise gelingt es Vordermark, die darin implizierten und in Semprúns Büchern zum Teil auch explizit formulierten theoretischen Positionen herauszuarbeiten und in den weiteren Rahmen zeitgenössischer Diskurse zu stellen. Bei ihrer Diskussion des Topos' der Undarstellbarkeit und Unsagbarkeit, auf den der eingangs zitierte Satz reagiert, fällt die differenzierte Darstellung der jeweiligen Ansichten, etwa Theodor W. Adornos und Jean-François Lyotards, angenehm auf. So wird Adorno nicht ein weiteres Mal ein allgemeines "Verbot" von Kunst nach Auschwitz unterstellt.

Auch bei der anschließenden Diskussion über das Erinnern bei Semprún in Bezug auf Theorien des Gedächtnisses hinterfragt Vordermark kritisch den in den letzten Jahren inflationär gebrauchten Begriff des Traumas, um seine Anwendbarkeit, aber auch die Grenzen in der Analyse Semprúns aufzuzeigen. Als Gegengewicht zum Trauma steht die strikte Ablehnung der Vorstellung eines individuellen, nicht sozial vermittelten Gedächtnisses in Maurice Halbwachs' Theorie des kollektiven Gedächtnisses. Zusätzliches Gewicht bekommt die Behandlung von Halbwachs angesichts der Tatsache, dass dieser selbst in Buchenwald interniert war und auch dort starb.

Semprún, der in Paris Halbwachs' Vorlesungen besuchte, beschreibt an mehreren Stellen seines Werks dessen Tod im Kleinen Lager von Buchenwald. Im letzten Kapitel ihres Buches, das die Erfahrung des Todes als zentrale Erfahrung des Lagers bei Semprún - und über ihn hinaus - herausstellt, versteht es Vordermark sehr gut, die Darstellungen von Halbwachs' Tod in Semprúns Texten auf die Theorie des kollektiven Gedächtnisses zurückzubeziehen. Mag es so scheinen, als ob gerade das individuelle Zeugnis Semprúns von Halbwachs' Tod durch dessen Theorie des kollektiven Gedächtnisses gerade nicht erfasst werden kann, so zeigt Vordermark, dass durch die in den Texten Semprúns immer wieder betonte Notwendigkeit eines Gesprächspartners diese Erinnerung durchaus intersubjektiv abgesichert wird. Zudem greift Semprúns Bericht durch die Verwendung von literarischen Intertexten wie Charles Baudelaires "Le Voyage" auf ein kulturelles Gedächtnis (wenn auch eher im Sinne Jan Assmanns) zurück. Ein wenig erstaunt es an dieser Stelle allerdings, dass das Medium, in dem diese Erinnerung vermittelt wird, der literarische Text, nicht selbst in seiner Funktion für ein kollektives Gedächtnis untersucht wird. Wie Vordermark selbst herausarbeitet, versteht Semprún sein eigenes Schreiben durchaus als Arbeit am kollektiven Gedächtnis.

Nicht zuletzt wegen seiner kritischen Auseinandersetzung mit der eigenen stalinistisch geprägten Vergangenheit in der Kommunistischen Partei Spaniens vermeidet Semprún bei dieser Gedächtnisarbeit eine zu einfache Heroisierung des illegalen Lagerwiderstandes von Buchenwald. Dennoch bleibt seine Perspektive, wie Vordermark immer wieder betont, bis in seine jüngsten Bücher hinein geprägt von der eigenen Erfahrung als politischer Häftling und antifaschistischer Widerstandskämpfer. Auch wenn man den perspektivischen Charakter seiner Erinnerungen mit einberechnet, erscheint es dennoch nicht unproblematisch, wenn Vordermark angesichts der von Semprún immer wieder verteidigten moralischen Ambivalenzen, zu denen die Häftlinge unter den Umständen des Lagers gezwungen waren, davon spricht, dass "die Grenze zwischen Opfer und Täter überschritten werden konnte."

Eine solche Verwischung der Kategorien von Opfer und Täter lässt sich mit Semprúns Werk zumindest hinsichtlich des Lagerwiderstands in Buchenwald nur schwerlich begründen. Des Weiteren wäre Vordermarks Kritik an der Darstellung jüdischer Gefangener bei Semprún diskutabel. Wenn Semprún die fiktive Gestalt eines jüdischen Résistance-Kämpfers einführt oder sich sein Erzähler vorstellt, dass ein überlebender jüdischer Häftling später vielleicht in der Haganah für einen eigenen jüdischen Staat kämpfte, so wird mit diesen Gegenbildern zum "wehrlosen Juden" in der Tat die spezifische jüdische Erfahrung der Shoah in den Horizont des antifaschistischen Kampfes eingeordnet. Für Vordermark scheint das Problem hierbei aber nicht allein darin zu liegen, dass dies der Thematik nicht gerecht werden könnte, sondern auch in der "Kontinuität zu den Idealen des antifaschistischen Kampfes" bei Semprún.

Vor diesem Hintergrund wirkt ein peinlicher Lapsus am Ende des Buches umso eigenartiger. Obwohl der Text gemessen am bei wissenschaftlichen Werken heute leider üblichen Maß an Druckfehlern relativ gut wegkommt, hätte es doch spätestens dem Lektorat auffallen müssen, wenn auf der vorletzten Seite plötzlich der "Kampf gegen den Antifaschismus" zu den handlungsleitenden Idealen Semprúns gezählt wird.


Titelbild

Ulrike Vordermark: Das Gedächtnis des Todes. Die Erfahrung des Konzentrationslagers Buchenwald im Werk Jorge Semprúns.
Böhlau Verlag, Köln 2008.
290 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-13: 9783412201456

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