Ein Ankommen in der Fremde

Sven Regener schließt mit "Der kleine Bruder" seine Herr-Lehmann-Trilogie ab

Von André SchwarzRSS-Newsfeed neuer Artikel von André Schwarz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Handlung von Sven Regeners Roman "Der kleine Bruder", der nach "Neue Vahr Süd" (2004) und "Herr Lehmann" (2001) den abschließenden (Mittel-)Teil der Trilogie darstellt, ist in nur wenigen Worten umfassend erläutert: Frank Lehmann möchte seinen Bruder Manfred in Berlin besuchen, nachdem er auf Grund eines vorgetäuschten Selbstmordversuches aus der Bundeswehr entlassen wurde. Der ist aber dort nirgends aufzufinden. Stattdessen lernt Frank dort Manfreds Freunde kennen, wird in den Kreuzberger Mikrokosmos der frühen 1980er-Jahre eingeführt und beschließt, in Berlin zu bleiben. So weit, so unspektakulär.

Doch auch der grandiose Debütroman "Herr Lehmann" wucherte nicht gerade mit ausufernden Handlungssträngen. Und das war auch gut so: Schließlich waren es dort die kleinen, skurrilen Szenen und die zuweilen schrullig anmutende Nonkonformität der Hauptperson, die den Roman zu einem besonderen Erlebnis machten. Nie hätte man gedacht, dass eine Diskussion über frühstückende Menschen am Vormittag oder die Kruste eines Schweinebratens überhaupt von Interesse sein könnte, hier war sie sogar noch äußerst amüsant.

"Sprache ist / das wissen wir / das allerhöchste Gut / und ohne Klarheit in der Sprache ist / der Mensch nur ein Gartenzwerg" heißt es im Element-of-Crime-Song "Alle vier Minuten" auf dem "Romantik"-Album (2001). Und ein wenig gibt dies auch die Einstellung Frank Lehmanns wieder. Er ist kein Künstler oder Wortakrobat, sondern ein Philosoph des Alltags, immer auf der Suche nach einer der Situation angemessenen Sprache, und dabei ausgestattet mit einer guten Portion Pragmatismus sowie fundiertem Halbwissen, was ihn umso sympathischer macht. So hebt er sich von der ständig zwischen Kunst und Inszenierung schwankenden Kreuzberger Bohème, in die er in "Der kleine Bruder" gerät, wohltuend ab. Unaufgeregt und doch gespannt verfolgt man mit ihm die absurde Lesung von H.R. alias Hans Rosenthal in Erwins Kneipe "Einfall", während der er erstmals seinen Platz hinter dem Tresen einnimmt. Souverän ist auch sein Agieren in der "Zone" während eines Konzertes der Band um P. Immel, einer Hausbesetzercombo, in der keines der Mitglieder ahnt, dass der Kopf der Band der eigentliche Besitzer der Immobilie ist.

Und dass sich Frank Lehmann so geschickt und nahtlos in diese ihm zunächst vollkommen fremde Welt einlebt - die erzählte Zeit erstreckt sich über gerade mal drei Tage - verblüfft nur am Anfang. In "Neue Vahr Süd" spürte man, wie unmöglich es für Lehmann war, sich dem starren, von Vorschriften geprägten System der Bundeswehr anzupassen. Zwar gibt es in Berlin auch gewisse Regeln, doch wenn man sie bricht, ist es eigentlich auch egal. "Erst wenn alles scheißegal ist / macht das Leben wieder Spaß", singt Regener in "Delmenhorst" auf der 2007er-Platte "Mittelpunkt der Welt", und so erlebt es Frank Lehmann auch in der Kreuzberger Szene. Perfekt repräsentiert wird diese Haltung durch Karl, mit dem er zunächst nicht viel anfangen kann, der aber - wie wir schon aus dem ersten Roman wissen - bald sein bester Freund werden wird. Die Leute lassen sich einteilen in Punks oder Hippies, jeder macht irgendwie seine "Kunstkacke". Und wenn sich dann herausstellt, dass die Hippies eigentlich Punks sind und die Punks normale Spießer, dann ist das auch nicht so tragisch, dann werden die Kategorien eben neu ausdiskutiert. "Mit so was kann man gar nicht früh genug anfangen, das ist irgend so ein Punk-Avantgardescheißkonzertkram, das heißt eigentlich Bettnässers Weihnachtsmesse, was weiß ich denn?! [...] Bettnässers Weihnachtsmesse, mein Gott, diese ganzen Hippie-Avantgarde-Arschlöcher sind doch froh, wenn ihnen überhaupt noch irgendwas als Motto einfällt für ihre Kacke", so lautet Karls fröhlich-derbe Einführung in die Kreuzberger Bohème, die man kaum treffender beschreiben könnte. Aber gerade diese krude Szene ist es, in die sich Frank und auch Karl - selbst künstlerisch tätig - nahtlos integrieren. Das Wichtigste ist es eben, das alles nicht allzu ernst zu nehmen. Hier darf man sein wie man will - und so ist es für Frank ein Leichtes, sich von den dogmatischen Diskussionen seiner Bremer Ex-WG zu lösen und alle Zelte hinter sich abzubrechen, um in Berlin zu leben. Den ersten Teil seiner Suche nach einem Neuanfang gestaltet sich für ihn also einfacher als vermutet. Die Suche nach seinem Bruder hingegen - von dem anscheinend keiner weiß, wo er steckt und über den sich jeder nur in Andeutungen ergeht - gestaltet sich ungleich schwieriger. Doch auch wenn der Besuch Frank Lehmanns bei Manfred der Aufhänger für den Roman ist, so rückt er im Verlauf des Buches mehr und mehr in den Hintergrund. Dass er ihn schließlich findet, ist geradezu eine Randnotiz, die auf wenigen Seiten abgehandelt wird. Nicht das Abenteuer, sondern das Ankommen schildert "Der kleine Bruder". Das Ankommen des Nonkonformisten in "seinem" Milieu, das erst durch den "Herr Lehmann" beschließenden Mauerfall wieder erschüttert wird.

Auch dem Roman ist anzumerken, dass sich der Autor auf gewohntes Gebiet zurückzieht - was aber beileibe kein Manko, sondern auch hier eine Art Ankommen ist. Im bekannten Milieu schwingt sich der lakonisch-schnoddrige Regener-Sound zu neuer Hochform auf und gefällt besser als im Vorgänger-Roman. Die ungewohnt ernsten und nachdenklichen Szenen in "Neue Vahr Süd", die zähen K-Gruppen-bewegten Streitgespräche, die nicht immer stimmig waren und gelegentlich etwas deplatziert wirkten, fehlen im "Kleinen Bruder" völlig. Auch die nun gezogenen Verbindungslinien zum bereits aus "Herr Lehmann" bekannten Personal sorgen dafür, dass man sich als Leser sofort zurechtfindet, aber - und das ist Regeners Qualität als Autor zu verdanken - nicht gelangweilt ist. Vielmehr schafft er es, gerade Karl oder auch Erwin eine Tiefe zu geben, die man nach seinem Debüt in jenen gar nicht vermutet hatte.

Obwohl die Handlung von einer rigorosen Beschränktheit ist, ist das Buch voll gepackt mit Szenen. Das Essen beim Griechen als eigentliche Einführung Karls ist kaum zu überbieten und erinnert an die wunderbare Prinzenbad-Szene in "Herr Lehmann". Allerdings hätten es einige der Nebenfiguren - etwa Erwins rotzfreche Nichte Chrissie oder die geheimnisvolle Galeristin Almut - durchaus verdient, einen größeren Anteil am Geschehen zu haben.

Überhaupt ist man eher überrascht, dass man nach knapp 280 Seiten schon am Ende angelangt ist und man wünscht sich, noch mehr zu lesen von Frank Lehmann. Überaus schade, dass Regener die Trilogie nun abgeschlossen hat. Bleibt die Hoffnung auf eine Verfilmung, zumal Leander Haußmanns Film "Herr Lehmann" mit einem grandiosen Christian Ulmen in der Hauptrolle und einem charmanten Detlev Buck als Karl entgegen aller vorherigen Befürchtungen doch ganz gut gelungen war. "Der kleine Bruder" erinnert nicht von ungefähr an vielen Stellen an einen Drehbuchentwurf, die Dialoglastigkeit und die Filmtauglichkeit so mancher Szene wären dem Ganzen auch nicht gerade abträglich. Man kann also gespannt sein.


Titelbild

Sven Regener: Der kleine Bruder. Roman.
Eichborn Berlin, Berlin 2008.
285 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783821807447

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