Eine karge und zarte Landschaft

In ihrem Roman "Der Tag war blau" erzählt die französische Autorin Emmanuelle Pagano von einer existenziellen Verwandlung

Von Carola EbelingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Carola Ebeling

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In dem Roman "Der Tag war blau" der Französin Emmanuelle Pagano ist die Landschaft eine raue Behausung. Sie ist ein ganz eigener Kosmos, in dem Begegnungen stattfinden und vor allem jede Einsamkeit ihren weiten Raum hat. Die Landschaft ist neben der Ich-Erzählerin Adèle die wichtigste Protagonistin der Geschichte. Und für Adèle ist sie ein Spiegel ihrer selbst und ein Rückzugsort, an dem Erinnern möglich wird.

Auf der Hochebene von Ardèche fährt Adèle seit zehn Jahren ihre tägliche Route und sammelt in ihrem Schulbus die Kinder der weit auseinanderliegenden Höfe ein, die "Kleinen" und die "Großen". Aus der Stadt ist sie gekommen, sie bekam den Job, sie bekam eine Wohnung. Sie ist so akzeptiert und aufgenommen wie es für eine Zugereiste nur möglich ist. Doch es gibt eine Geschichte dahinter, ein Geheimnis, das Adèle bislang nur mit ihrem jüngeren Bruder teilte. Und es ist sein Aufenthalt in der Gegend, der ihre Erinnerungen wachruft.

Adèle war ein kleiner Junge, ein Mann, bevor sie eine Frau wurde. Das ist ihr Geheimnis, zu dem auch gehört, dass sie als Kind und Jugendlicher mit ihrer Familie genau an diesem Ort gelebt hat, an dem sie nun alle für eine Fremde halten. Pagano erzählt die Geschichte ihrer Protagonistin als die einer Verwandlung, einer Art Neugeburt. Sie erzählt von einem frühen Wissen um ein Anderssein, das sich trotz aller Verunsicherungen und Qualen nicht leugnen lässt. Und das eine Handlung fordert. Nämlich die, zu der zu werden, die sie ist - oder als die sich Adèle zumindest fühlt: den männlichen Körper zu verlassen, sich einen weiblichen Körper zu schaffen.

Pagano erzählt diese Geschichte als eine von vielen möglichen, die existentiell sind und somit zum Gegenstand literarischen Erzählens werden können. Das ist schön, weil ein Selbstverständnis darin liegt, das hier, in der Literatur, an die Stelle theoretischer Auseinandersetzungen über Transsexualität und Gender-Themen treten kann. Was die Notwendigkeit und Angemessenheit der Theorie an anderer Stelle nicht in Frage stellt.

Schon als Kind spiegelt die Landschaft die inneren Wahrnehmungen und beschreibt sie - der Bruder spielt die Rolle des männlichen Kerls und ist mir ihr identisch. Sie ist ,das Andere': "Ich begriff mich allmählich als Mädchen, als Hohlrelief meines kleinen großen Bruders. Er war Davy Crockett und ich alles andere: die Bäume, die Biber, die Einsamkeit, das vom Fluss geleckte Torfmoor." Pagano erzählt auch von Geschwisterschaft, denn die enge Beziehung zum Bruder ist der emotionale Dreh- und Angelpunkt in Adèles Leben. Sie liebt ihn, die Zuneigung beruht auf Gegenseitigkeit - bis er von ihren Gefühlen erfährt. Der Konflikt eskaliert angesichts ihrer Plänen zur Geschlechtsumwandlung: "Er sagte, wenn Du das tust, werde ich keinen großen Bruder mehr haben." Nie wird er eine Schwester akzeptieren.

Die Vergangenheit entfaltet sich in erinnernden Rückblenden, sie werden durch einen Krankenhausaufenthalt des Bruders ausgelöst, der einem extrem "männlichen" Beruf nachgeht: Er ist professioneller Bergsteiger, schwebt einsam an Seilen über dem Abgrund, um den Fels zu sichern und die Erosion des Gesteins in Schach zu halten. Auch das ist ein schönes Motiv für die Gegensätzlichkeit der Geschwister. Nach zehn Jahren ohne Kontakt folgt nun die Wiederbegegnung, die zu einer stockenden Wiederannäherung wird.

Parallel dazu begleiten wir Adèle in der erzählten Gegenwart, wie sie in ihrem Schulbus ihre Bahnen zieht durch eine karge, winterliche Landschaft, die ganz die ihre ist: "Es gibt Tage, Morgen, Nächte, da das Wetter in der Landschaft, da die Luft in den Bäumen haargenau, auf beinahe triviale Weise, mit dem Wetter in unserem Körper, mit der Luft in unserer Laune in Einklang steht." Es ist ein Dreiklang von Landschaft, Körper und Seele, dem Pagano nachspürt und den sie in klaren Sätzen immer wieder umkreist.

Die Busfahrerin und "ihre" Kinder bilden eine eigentümliche Gemeinschaft. Die langen täglichen Fahrten verbinden sie. Adèle beobachtet die Kleinen genau, wenn sie älter werden und die Mädchen nach den Ferien ganz anders erscheinen: "Wie sie sich verändert hat. Die jungen Mädchen wandeln sich in einem einzigen Sommer, sie werden nicht erwachsen, sie lassen auch nicht die Kindheit hinter sich, aber sie wandeln sich auf seltsame Weise in ein unmögliches Alter." Die Pubertät. "Weiblichkeit" und "Männlichkeit" - was das sein soll, stellt sich nur mühsam heraus. "Für Nadège ist es unmöglich, sie presst die Oberschenkel zusammen oder sitzt zu breitbeinig da. Ich würde ihr gern sagen, niemand hindert dich daran, die Schenkel zu öffnen, aber es zwingt dich auch niemand dazu."

Adèle sieht sie genau, diese kleinen Gesten, das kurze Zögern ihrer Schützlinge, den besonders souveränen Blick, der nur Unsicherheit kaschiert - vieles ist ihr Spiegelung der eigenen Erfahrungen. Die Sicherheit jedoch, die sie für sich gewonnen hat, gerät ins Wanken, als sie sich in Tony verliebt. Jetzt wird aus dem Geheimnis "die Lüge", die auffliegen könnte. "Ich fühle mich bedroht, belauert, abgedrängt. Fühle mich genauso unwohl wie in meinem alten Körper, als könnte ich mich in meiner Landschaft unwohl fühlen. Albernes Zeug." Der Dreiklang ist gestört. Tatsächlich trügt ihre Empfindung nicht. Als ein Unwetter sie dazu zwingt, mitsamt der Kinder und Jugendlichen in einer alten Bergunterkunft Schutz zu suchen, stellt sich heraus, dass ein Junge ihre Geschichte kennt, und Adèle weiß, das Gerücht wird sich verbreiten. Sie schwankt zwischen Erleichterung und Angst.

Pagano gestaltet das Ende letztlich zuversichtlich. Ihre Adèle, so scheint es, wird gestärkt aus dieser Offenlegung hervorgehen - allerdings ohne Tony - und eine weitere Wandlung erfahren. Sie wird sich in ihrer Landschaft behaupten. Ob das angesichts der gesellschaftlichen Verhältnisse nicht zu positiv gedacht ist, darf man fragen. Den Genuss an dieser individuellen Geschichte sollte man sich dadurch aber nicht trüben lassen. Adèle ist eine ebenso zarte wie karge Person, so selten und besonders wie ihre Landschaft.


Titelbild

Emmanuelle Pagano: Der Tag war blau. Roman.
Übersetzt aus dem Französischen von Nathalie Mälzer-Semlinger.
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2008.
170 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-13: 9783803132161

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