Vom Wunder der Musik

Oliver Sacks' "Der einarmige Pianist" ist ein faktenreiches Buch über die menschliche Faszination für Töne

Von Monika GroscheRSS-Newsfeed neuer Artikel von Monika Grosche

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Wie merkwürdig doch der Anblick einer ganzen Spezies ist - Milliarden von Menschen, die mit bedeutungslosen Tonmustern spielen und ihnen lauschen, die einen großen Teil ihrer Zeit mit etwas beschäftigt sind, das sie Musik nennen und darin völlig versinken", sinniert Oliver Sacks im Vorwort seines neuen Buches.

In "Der einarmige Pianist" widmet sich Sacks, einer der bedeutendsten Hirnforscher unserer Zeit, der vor allem mit seinen Büchern "Awakenings" und "Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte" auch als Autor zu Weltruhm gelangte, den geheimnisvollen Wechselwirkungen zwischen dem menschlichen Hirn und dem Phänomen Musik, das die Menschheit mindestens ebenso lange wie das der Sprache durch ihre Geschichte begleitet. Die Aufnahmebereitschaft für Musik, die 'Musicophilie' (so auch der englische Titel des Buches) ist für Sacks so untrennbar mit der menschlichen Natur verknüpft, "dass wir sie uns wohl als angeboren denken müssen". Fasziniert weist er nicht nur auf die individuellen starken Emotionen hin, die Musik selbst bei unmusikalischen Menschen mit großer Unmittelbarkeit auslöst, sondern auch, dass - unabhängig von der jeweiligen Kultur - Rhythmus direkt auf das menschliche Nervensystem wirkt und bereits Säuglinge bei einer Dissonanz in Tränen ausbrechen.

Kein Wunder also, dass diese offensichtlich ebenso zentrale wie rätselhafte kognitive Fähigkeit des menschlichen Hirns den Neurologen und Musikfreund zu einem neuen Buch animierte. Hatte er doch in langjähriger klinischer Erfahrung häufig Fälle erlebt, in denen die Musik als Therapie bei neurologischen Erkrankungen zu erstaunlichen Erfolgen führte, wie etwa bei Patienten mit einem schweren Grad von Parkinson, die durch Klavierspiel vorübergehende Kontrolle über ihre Motorik wiedererlangen können.

Auf 400 Seiten präsentiert Sacks zahlreiche Fallbeispiele, in denen Menschen aufgrund neurologischer Besonderheiten, Unfälle oder Erkrankungen in ihrem Verhältnis zu Musik betroffen sind. So etwa die ,Musicophilie' eines Chirugen, der während eines Telefonats von einem Blitz getroffen wurde - als einziger neurologischer "Schaden" bleibt ihm nach der Genesung ein geradezu unstillbarer Hunger nach klassischer Musik, woraufhin er sich selbst das Klavierspielen und das Komponieren beibringt. Oder die ältere Dame, die beim Klang neapolitanischer Lieder epileptische Anfälle bekommt, während ein Komponist durch ein "Radio im Kopf" Musikstücke in Stilrichtungen hört, die er schlicht nicht ausstehen kann.

Besonders berührend ist unter den vielen unterschiedlichen Fällen das Beispiel des Musikwissenschaftlers und Musikers Clive Wearing, einem Freund des Autors: Dieser hatte sich nach Erscheinen von "Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte" sehr beeindruckt von der darin geschilderten Geschichte eines Seemanns gezeigt, der nur noch über wenige Minuten Speicherkapazität seines Gedächtnisses verfügt. Ironischerweise erkrankt Wearing einige Monate später an einer Hirninfektion - und verfügt danach selbst nur noch über eine Gedächtnisspanne von wenigen Sekunden. Doch was ihm bleibt, ist die Liebe zu seiner Frau, in die er sich bei jedem Anblick auf's Neue verliebt - und seine Musikalität, die er offensichtlich auf der gleichen Ebene des Gefühls abgespeichert hat. Wenngleich er sonst nur von Augenblick zu Augenblick existiert, kann er so immer noch klavierspielen, singen oder ganze Stücke dirigieren und auf diese Weise für kurze Zeit als kreativer Mensch am Leben teilhaben.

Nicht nur im Falle seines Freundes Clive Wearing sind Sacks' Schilderungen von einer intensiven Beobachtungsgabe und einem tiefen menschlichen Mitempfinden geprägt. Sacks sieht in seinen Patienten nicht das Forschungsobjekt oder ein Krankheitsbild, sondern ebenbürtige Partner, deren Probleme er mit ihnen gemeinsam und individuell zu lösen versucht. Mitunter kann dies bedeuten, medikamentös oder operativ Besserung oder gar Heilung zu erzielen. Mitunter heißt dies aber auch, mit den musikalischen Eigenheiten leben zu lernen - oder diese womöglich sogar als Ergänzung im eigenen Leben zu sehen. Wie Miss. B. etwa, die auf Nachfrage von Sacks feststellt, sie würde ihre langjährigen Musik-Halluzinationen vermissen, sollten sie eines Tages doch schließlich verschwinden: "Wissen Sie, die Musik ist jetzt ein Teil von mir."

Ein kluges, faktenreiches, humorvolles Buch voller Wärme, das auch für Laien verständlich ist. Ganz Sacks eben.


Titelbild

Oliver Sacks: Der einarmige Pianist. Über Musik und das Gehirn.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2008.
400 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783498063764

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