Von der Kontingenz des modernen Krieges

Eine Relektüre von Lew N. Tolstojs Großroman "Krieg und Frieden" - aus gegebenem Anlass

Von Jan SüselbeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Süselbeck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Vor 90 Jahren endete der Erste Weltkrieg. Er forderte etwa 8.666.000 Menschenleben. Heute begreift man seine gigantischen Schlachten oft als massenmörderische "Urkatastrophe" des 20. Jahrhunderts, die endgültig klar machte, wozu die großen Fortschritte, die die Modernisierung des Krieges bis dahin gemacht hatte, führen mussten. Doch diese technischen Neuerungen hatten Menschen in jahrhundertelanger Tüftelei erfunden - und es war eben kein historisches Ereignis, das mit einem zerstörerischen Naturereignis oder einem "Urknall" vergleichbar wäre, der wie aus heiterem Himmel geschah. Es zeitigte aber auch keine kathartischen Folgen, wie es das griechische Wort "Katastrophe" zumindest im dramatischen Zusammenhang nahelegen würde.

Bald darauf, im Zweiten Weltkrieg, kam es außerdem sogar noch schlimmer. Man hätte es wissen können und müssen: Nach den Jahren von 1914 bis 1918 gab es kein Zurück mehr hinter die Erkenntnis, dass die realen Folgen eines vergleichbaren Waffenganges niemals mehr im Voraus kalkulierbar sein würden. Doch die Nationalsozialisten wurden im Jahr 1933 endgültig an die Macht gewählt, gerade weil die meisten Deutschen trotz allem immer noch glaubten, der Krieg sei noch nicht zu Ende und müsste von ihnen endgültig 'gewonnen' werden - als handele es sich um die schlichte Erfüllung eines Naturgesetzes.

"Krieg und Frieden" als frühe Analyse moderner Kriege

Weniger bekannt ist heute allerdings, dass eine Ahnung dessen, was der Welt noch einmal drohen könnte, auch schon lange vorher formuliert wurde. Bereits im frühen 19. Jahrhundert gab es Kriege, die auf das vorausdeuteten, was sich bereits hundert Jahre später in's schier Unermessliche steigern sollte. Diese Kriege begannen sich bereits in riesige geografische Räume auszudehnen, die Zivilbevölkerung zu vertreiben und ganze Metropolen zu vernichten. Und es gab einen Weltliteraten, der versuchte, diese entsetzlichen Ereignisse in einem literarischen Großprojekt darzustellen und zu reflektieren.

Lew N. Tolstoj stellt im Epilog seines großen Romans "Krieg und Frieden" (1869), der im Insel Verlag in einer zweibändigen Taschenbuchausgabe im Schuber vorliegt, grundsätzliche Fragen an die Möglichkeiten der internationalen zeitgenössischen Geschichtswissenschaft, die seinerzeit versuchte, die russisch-französischen Kriege von 1805-1813 zu erklären. Es ist wohl auch kein Zufall, dass die im Insel Verlag wieder aufgelegte deutsche Übersetzung von Hermann Röhl im selben Hause bereits erstmals im Jahr 1916 erschien, also mitten im Ersten Weltkrieg: "Was hat das alles zu bedeuten? Wie konnte das geschehen? Was hat diese Menschen veranlaßt, Häuser niederzubrennen und ihresgleichen umzubringen? Worin liegen die Ursachen für diese Ereignisse? Welche Kraft hat die Menschen gezwungen, so zu handeln? Das sind die unwillkürlichen, naiven, aber durchaus berechtigten Fragen, die sich jeder Mensch stellt, wenn er auf die Denkmäler und Überlieferungen der vergangenen Periode dieser Bewegung stößt", heißt es im Epilog des Romans.

Progressive Multiperspektivik

Tolstoj setzte in seiner ausgreifenden ästhetischen Stellungnahme zu diesem Problem neue erzählerische Maßstäbe in der Kriegsdarstellung, unter anderem in der multiperspektivischen Beschreibung der historischen Schlachten von Austerlitz und Borodino: "Alle Kampfhandlungen in Krieg und Frieden kennzeichnet ein mehrfiguriges Narrationsverfahren in wechselnden Perspektiven, über die der Erzähler gleich einem Regisseur verfügt", erklärt der Berliner Literatur- und Medienwissenschaftler Manuel Köppen in einem instruktiven Aufsatz zum Thema. "Und alle Schlachtendarstellungen werden durch einen Überblick über das Terrain eingeführt, meist aus der Perspektive eines der Protagonisten."

Dabei kommt es auch zu seinerzeit bahnbrechenden, subjektivierten Fokalisierungnen akuter Momente des selbstvergessenen Angriffs auf die Gegner - genauso wie Introspektionen unklarer Empfindungen während der tödlichen Verwundungen erzählender Figuren. Diese Stellen im Roman, die das unmittelbare Erleben körperzerstörender Gewalt zu beschreiben versuchen, die die Protagonisten im Affekt ausüben wollen und schließlich selbst erleiden, versuchen menschliche Regungen zu vermitteln, die sich der Dimension der Rationalität entziehen.

Eine dieser berühmten Textstellen ist die, an der Fürst Andrei bei Austerlitz versucht, einen verzweifelten Vorstoß seiner überrumpelten Truppe zu provozieren, indem er selbst voran in den Kugelhagel rennt und schließlich schwer verwundet wird. Die Gedanken in diesem Moment vermögen die 'existenzielle Bedeutung' des Erlittenen nicht mehr zu erfassen, und der Blick in den Himmel deutet die Eröffnung einer plötzlichen, geradezu transzendierten Wahrnehmungsdimension metaphorisch an: "Er hatte die Empfindung, als ob einer von den zunächst befindlichen Soldaten ihn mit einem starken Knüttel mit voller Wucht auf den Kopf schlüge. Der Schmerz war nicht besonders groß; das Unangenehmste dabei war, daß dieser Schmerz seine Gedanken in Anspruch nahm und ihn hinderte, das zu sehen, wonach er soeben hingeblickt hatte. [...] Aber er sah nichts mehr als über sich den Himmel, den hohen Himmel, der jetzt nicht klar, aber doch unermeßlich hoch war, mit ruhig über ihn hingleitenden grauen Wolken."

Den Krieg beschreiben, "wie er wirklich ist"

Solche auktorialen Versuche, den Krieg so zu beschreiben, "wie er wirklich ist", und für die sich Tolstoj an den Schriften Stendhals sowie seinen eigenen Erfahrungen als Artillerieoffizier bei der Belagerung Sewastopols im Krimkrieg von 1855 orientierte, waren in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts revolutionär. Köppen hat in seinem klugen Buch "Das Entsetzen des Beobachters. Krieg und Medien im 19. und 20. Jahrhundert" (2005) erörtert, wie Tolstoj seine Kampfbeschreibungen stets mit einem "Establishing Shot" auf das Schlachtfeld beginnt, also Bezug auf das zu seiner Zeit Furore machende Medium des vom Publikum begehbaren Panoramas nimmt, um es in der Form "literarischer Sukzession allmählich in Bewegung zu setzen" und über die Möglichkeiten dieses Dispositivs gleichsam hinauszuschreiben.

Dazu springt seine Erzählperspektive mittels unvermittelter Schnitte an verschiedenste Orte des Kampfgeschehens, um zum Beispiel ein Ereignis aus verschiedenen Situationen 'parallel' erzählen zu können - aus der Ferne genauso wie aus der unmittelbaren Nähe. Damit wird Tolstojs Literatur zum Paradebeispiel 'vorfilmischen Schreibens' über exzessive Gewalt, "die nicht auf einem Wechsel der Standpunkte, sondern vor allem auf dem Wechsel von Distanz und Nähe, in filmischer Erzählkonvention: der Einstellungsgrößen, beruht" (Köppen).

In der 'Zone' gibt es nichts mehr zu sehen

Tolstoj setzt sich in "Krieg und Frieden" also immer wieder mit einem Wahrnehmungsproblem auseinander, das bereits in seiner Zeit zu einer Darstellungskrise auch in der Malerei und der jungen Fotografie geführt hatte und von 1914-1918 dann noch einmal ganz neue Dimensionen erreichte: Das unheimliche Erlebnis, nichts sehen zu können und gleichzeitig unversehens in einem 'tödlichen Bereich' unter Artilleriebeschuss zu geraten, wird im Roman gleich mehrmals beschrieben. So etwa gleich zu Beginn, als Nikolai Rostow in Österreich auf einer Brücke über den Inn in diese mörderische Situation kommt und kaum begreift, was um ihn herum überhaupt vorgeht: "Er stand da und blickte um sich, als es auf einmal auf der Brücke prasselte, wie wenn Nüsse daraufgeschüttet würden, und einer der Husaren, der ihm gerade von allen am nächsten stand, stöhnend gegen das Geländer fiel."

In der 'Zone', wie Köppen jenes nicht genauer zu definierende Terrain zwischen den verfeindeten Heeresfronten nennt, das eine unsichtbare Grenze umgibt, hinter der lebensgefährlicher Beschuss droht, fühlen dort eindringende Individuen eine gesteigerte Lebendigkeit sowie Munterkeit, Kampflust und Aufregung. Während ein solcher Krieg im Ganzen nicht mehr kohärent beschrieben werden könne, trete bei Tolstoj also die Beschreibung freigesetzter Leidenschaften und des "Management[s] der Sinne in Extremsituationen" innerhalb dieser ,Zone' in den Mittelpunkt des Erzählens, schreibt Köppen. Der Krieg werde so zur "inneren Sensation", zu einem "Kampf als inneres Erelebnis" (Ernst Jünger), den Tolstoj unter anderem durch eine Verlangsamung und Dehnung der Erzählzeit darzustellen versuche.

"Große Männer" machen keine Geschichte mehr

Daraus folgt in "Krieg und Frieden" die logische Feststellung, dass der Krieg nicht mehr wie ein Schachspiel planbar sei, sondern bloßer Kontingenz folge. Der Protagonist Fürst Andrei etwa, ein kriegstheoretisches Sprachrohr Tolstojs, schließt daraus, dass es im Krieg darauf ankäme, "wie man auf die unerwarteten und gar nicht vorherzusehenden Handlungen des Feindes antwortet". Mehr noch: "Ein Gedanke, der ihm schon längst und oft bei seiner militärischen Tätigkeit gekommen war, daß es keine Kriegswissenschaft und daher auch kein sogenanntes Kriegsgenie gebe und geben könne, dieser Gedanke bekam jetzt für ihn die Sicherheit einer unumstößlichen Wahrheit."

So kann bei Tolstoj der vielgerühmte Feldherr Napoleon in der Schlacht bei Borodino gar keinen Einfluss mehr auf das Kampfgeschehen nehmen, da es von keinem der sicheren Posten aus, die er einnehmen kann, möglich ist, auch nur irgendetwas zu sehen oder sonstwie zu begreifen, was dort vorgeht. Napoleon wird bei Tolstoj zur Paradefigur des überschätzten Kriegsherren, dessen blind geführte Schlachten schlicht aufgrund zufälliger Verkettungen von Zufällen gewonnen oder verloren werden. Seine Gegenfigur ist bei Tolstoj der russische Befehlshaber Kutusow, ein hinfälliger alter Mann, der längst erkannt hat, dass er gar nichts mehr wahrzunehmen und definitiv zu entscheiden brauche, da der Ausgang des Kriegs ohnehin nicht mehr sicher vorauszubestimmen sei.

Der "Geist des Heeres" als Terminus früher Massenpsychologie

Tolstoj konstruiert dagegen aus der Sicht Kutusows eine diffuse gefühlsbestimmende Gewalt, die im Heer virulent sei: "Aus seiner langjährigen Kriegserfahrung wußte er und war darüber in seinem alten Kopf ins Klare gekommen, daß es für einen einzelnen Menschen unmöglich ist, Hunderttausende, die auf Leben und Tod kämpfen, zu leiten, und daß der Ausgang der Schlachten nicht durch die Anordungen des Oberkommandierenden, nicht durch das Terrain, auf dem die Truppen stehen, nicht durch die Zahl der Kanonen und der getöteten Menschen entschieden wird, sondern durch jene eigenartige Kraft, die man den Geist des Heeres nennt; und diese Kraft beobachtete er und leitete sie, soweit das in seiner Macht lag."

Man kann diese geheimnisvoll anmutende Bemerkung auch so übersetzen, dass hier kollektive Emotionen in der Truppe - sei es unwillkürliche Panik oder eben auch das unerschütterliche Vertrauen auf den gemeinsamen Sieg - gespeist durch Wut, Hass oder auch bloße Entschlossenheit - bereits zum bestimmenden Faktor des modernen Kriegs im 19. Jahrhunderts wurden. Gesteuert werden solche soldatischen Emotionen seither durch immer subtilere Propaganda oder auch durch gezielt vorenthaltene Informationen über die konkrete militärische Lage, die - auch im Zeitalter 'asymmetrischer Kriege' - ohnehin keiner mehr so genau bestimmen kann. Kurz: Jeder einzelne Soldat und schließlich auch die Zivilbevölkerung - Carl Clausewitz höchstselbst, der zeitgenössische preußische Theoretiker des "Volkskrieges", hat in Tolstojs Roman einen bedeutungsschwangeren Auftritt - sollte nunmehr dazu motiviert werden, alle seine Leidenschaften daran zu setzen, den Kampf zu gewinnen.

Kriege passieren nicht 'einfach so'

Dahinter verbirgt sich jedoch noch eine mögliche Schlussfolgerung, die Tolstoj in seinem Roman so nicht mehr zieht: Auch moderne Kriege passieren eben doch nicht 'einfach so' - also aus einer unüberschaubaren Verkettung von Umständen und Entscheidungen heraus, wie der russische Romancier in seinem Werk unermüdlich betont. Kriege funktionieren eben doch nur dann, wenn es genügend Menschen gibt, die, aus welcher Motivation heraus auch immer, ihresgleichen umbringen wollen beziehungsweise solche stellvertretenden Taten ihres Kollektivs gutheißen.

Gleichwohl ist Tolstojs unvergleichlicher Roman ein Mammutwerk, dessen Relektüre sich nicht nur anlässlich des Gedenkens an die Zäsur des Weltkriegsendes im Jahr 1918 anbietet: Es ist kein uneingeschränkt patriotischer Roman, sondern ein überaus abgeklärter und differenzierter Text, nach dessen Lektüre man klüger ist. Dekonstruiert er doch in seiner für die Entstehungszeit erstaunlichen Betonung der Kontingenz des Geschehens unablässig politische oder historische Sinngebungen, die man für Kriege ersann. Nicht nur im Blick auf das 19. Jahrhundert - sondern auch auf das folgende und auf unsere Gegenwart kann das sehr heilsam sein.


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Manuel Köppen: Das Entsetzen des Beobachters. Krieg und Medien im 19. und 20. Jahrhundert.
Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2005.
414 Seiten, 58,00 EUR.
ISBN-10: 3825350193
ISBN-13: 9783825350192

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Titelbild

Lew Tolstoj: Krieg und Frieden. Roman, 2 Bände.
Übersetzt aus dem Russischen von Hermann Röhl.
Insel Verlag, Frankfurt a. M. 2007.
2100 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783458350071

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