Leben erzählen

Über Geschichte(n) und Erinnerungen in Istanbul im neuen Roman Mario Levis

Von Leyla CiraganRSS-Newsfeed neuer Artikel von Leyla Ciragan

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was hat das Leben mit einem Spiel zu tun? Werden Leben erzählt? Oder Erzählungen gelebt? Wie wird Geschichte geschrieben oder was ist eine Erinnerung? In seinem gerade auf deutsch erschienenen Roman "Istanbul war ein Märchen", dessen Titel bereits andeutet, wie er erzählt wird, geht es Mario Levi um die zufälligen Verknüpfungen von verschiedenen Leben und Erzählungen. Das Buch erschien auf Türkisch in einer etwas längeren Fassung bereits 1999. Es ist ein großangelegter eigentümlicher Familienroman - über vier Generationen einer sephardischen Familie. Er spielt in Istanbul, der großen Stadt der Träume und Märchen, der (Um-)Brüche und Traditionen, des Osmanischen Reiches und des kemalistischen Staates. Es ist eine Stadt der Widersprüche, die zumeist den Ort der Erzählungen bestimmt.

Doch dies weiß der Leser lange Zeit nicht, und auch nicht, in welcher Zeit sich die Episoden, Beziehungen und Figuren bewegen und verknüpfen. Erst spät flicht der Erzähler einzelne historische Fakten ein: Zum Beispiel über das Gesetz von 1940/41, als die Minderheiten der Armenier, Griechen und Juden eine ganze Generation von Männern für Zwangsarbeit stellen mussten. Oder jenes Gesetz zur Vermögenssteuer, das von 1940 bis 1942 eine spezielle Abgabe von den Minderheiten verlangte und unzählige in den Ruin trieb oder zur Emigration zwang. Insofern ist dieses "Märchen" von Istanbul ein höchst politisches Buch, in dem beileibe nicht nur Märchen über das angeblich so glückliche Zusammenleben verschiedener Kulturen erzählt werden. Es ist aber gleichzeitig auch ein zeitloses Buch. Denn es geht vor allen Dingen um Menschen und ihre Leben.

Wir erfahren von Monsieur Jacques und seiner Frau Roza, von ihren Kindern Juliette und Berti, von verlorenen Kindern und Brüdern und von vielen Bekannten. Zum Beispiel von Olga, der Tochter Mozes Bronsteins aus Odessa, der ihr seine Uhr vermacht, welche wiederum auf Umwegen in Monsieur Jacques' Besitz gelangt. Oder von Ginette, der einzigen Überlebenden von Nesims Familie. Nesim ist der Bruder Jacques', ausgewandert nach Frankreich, deportiert nach Auschwitz; er liebt Wien, liebt das Deutsche, nachdem er in Wien seine Gymnasialzeit verbracht hat. Nur Ginette überlebt in einem Kloster in Frankreich. Diese Erzählung ist auch im Ton plötzlich viel konkreter, präsenter. Doch nach dieser Erzählung bricht etwas ab- der Ich-Erzähler verschwindet für viele Seiten; es ist keine Geschichte, die erzählt werden kann. Es folgt übergangslos die lange Geschichte von Jacques' Familie.

Erzählungen nennt der Ich-Erzähler diese Leben, von denen er berichtet, und es wird spätestens nach den knapp 850 Seiten auch klar, weshalb. Denn Levi führt eine ganz eigene Technik des Erzählens ein. So nähert sich der Ich-Erzähler den vielen Figuren in seinem Roman immer wieder von neuem an, aus unterschiedlichen Perspektiven oder Zusammenhängen. Es ergibt sich dadurch keine eigentliche Chronologie, sondern eher eine Narratologie der Erinnerung. Dem Erzähler geht es darum, dass Erzählungen keine "Fakten" herstellen können, sondern bloße Geschichten. Dass sich diese Leben nur in Geschichten erzählen lassen, die zwangsläufig vor der "Wahrheit" kläglich zugrunde gehen müssen. Kein Leben lässt sich "restlos" benennen, und deshalb muss jede Erzählung immer wieder - auch in diesem Roman - abbrechen und sich von einem andern Ort her schreiben. Diese Technik, die dem Leser zunächst etwas Ausdauer abverlangt, gewinnt mit der Zeit eine solche Kraft, dass sich Erzählkonzepte wie der "allwissende Autor" von alleine auflösen. Dass man sich fragt, weshalb dieser Respekt vor fremden Leben nicht in all unseren "Leben" erscheinen kann.

Vom Ich-Erzähler selbst erfahren wir eine ungemein lange (Durst-)Strecke lang überhaupt nichts. Erst spät wissen wir: Er ist männlich und Schriftsteller, muss ungefähr in der vierten Generation der Romanfiguren aufgewachsen sein. Doch ob er zur Familie gehört? Was eine Familie überhaupt ist? Wenn es um die Beziehungen geht, hält er stets respektvoll ein. Wenn er merkt, dass er zu tief in ein Leben eindringt, zu viele "Lügen" erfindet. Und er hält stets fast angstvoll ein, wenn er sich dabei ertappt, von sich zu erzählen, denn dann fühlt er sich in seiner ganzen "Nacktheit" ausgestellt. Erst auf den letzten Seiten erfahren wir mehr über seine Motive - und es erschließen sich die ersten Seiten.

Mario Levi - selbst in Istanbul in einer Minderheit aufgewachsen - ist heute ein bekannter türkisch-jüdischer Schriftsteller. Vielerorts wird geschrieben, dass es sich bei diesem Roman um seine Familiengeschichte handelt. Das wissen wir nicht, doch es ist auf jeden Fall ein Roman über menschliche Beziehungen, über Erinnerung und Respekt. Es ist auch eine Erzählung über die Türkei und ihre Widersprüche, über Istanbul, und gibt leise, aber kraftvoll und bestimmt den türkischen Juden, Armeniern und Griechen eine Stimme. Es ist ein guter Anfang und ein guter Weg.


Titelbild

Mario Levi: Istanbul war ein Märchen. Roman.
Übersetzt aus dem Türkischen von Barbara und Hüseyin Yurtdas.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2008.
845 Seiten, 24,80 EUR.
ISBN-13: 9783518419977

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