Schriftsteller und Krieg

Dafür oder dagegen? Der Erste Weltkrieg als Gretchenfrage

Von Gertrude Cepl-KaufmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gertrude Cepl-Kaufmann

Kaum ein Gedicht hat dem Krieg eine so hohe Legitimationskraft vermittelt, wie ein im Volksliedton gehaltenes Lied des Arbeiterdichters Heinrich Lersch: "Soldatenabschied".Mit unverkennbarem rheinischem Zungenschlag hat der gelernte Kesselschmied es auf deutschlandweiten Lesungen vorgetragen. Als Teil des ideologischen Marschgepäcks bereicherte es den nationalistisch durchfärbten Bodensatz des Ersten Weltkrieges. Nicht zuletzt machte es seinen Autor berühmt, auch wenn Lersch wegen seiner angegriffenen Gesundheit nur bedingt tauglich war und dem heroischen Gestus seines Gedichtes nur bedingt die Tat folgen lassen musste.

"Soldatenabschied // Laß mich gehn, Mutter, laß mich gehn! / All das Weinen kann nun nichts mehr nützen, / denn wir gehn, das Vaterland zu schützen! / Laß mich gehn, Mutter, laß mich gehn. / Deinen letzten Gruß will ich vom Mund dir küssen: / Deutschland muß leben, und wenn wir sterben müssen."

Dem Abschied von den Eltern und der Liebsten, dem schon mit der Titelmatrix das Traditionelle des Motivs, die Vorwegnahme des Todes auf dem Schlachtfeld, immanent ist, folgt in der letzten Strophe in expressionistischer Manier die Wende ins Menschheitliche, verknüpft mit einem Stereotyp, das von den Nibelungen bis zur intertextuellen Wiederaufnahme in Heiner Müllers Drama "Germania Tod in Berlin" die Bereitschaft zur Autodestruktion an den hohen Wert der deutschen Treue bindet und ihn damit als nationales Stereotyp vermarktet: "Nun lebt wohl, Menschen, lebet wohl! / Und wenn wir für euch und unsere Zukunft fallen, / soll als letzter Gruß zu euch hinüberschallen: / Nun lebt wohl, ihr Menschen, lebet wohl! / Ein freier Deutscher kennt kein kaltes Müssen: / Deutschland muß leben, und wenn wir sterben müssen!"

Lerschs Denkbilder blieben bis in die Zeit des "Dritten Reichs" hinein eng an emotionale, vitalistische Muster, zum Beispiel an die Blutmetaphorik gebunden, die er mit seinem nationalen Empfinden und die Überhöhung in einen spezifischen Opfermythos, dessen Legitimation durch die nationale Vereinnahmung Gottes gesichert wurde, verbunden hat. Die Entscheidung über Tod oder Leben sah er nicht in das Ermessen des Einzelnen gestellt, sondern an das "Schicksal der Deutschen" geknüpft.

Geradezu als Gegenstück dazu lässt sich die Wandlung des aus altem Adel stammenden, mit den Kaisersöhnen auf der Kadettenanstalt Plön zur Militärkarriere vorbereiteten Fritz von Unruh nennen. Mit seinem 1917 entstandenen Drama "Ein Geschlecht" wird er zum Vorreiter des Pazifismus auf dem Theater. Dabei hatte er in seinem "Reiterlied" zu Beginn des Krieges ganz andere Töne angeschlagen: "Reiterlied // Ulanen, stolz von Lützow her / Mit Reitermut durchflogen. / Beleidigt ist die deutsche Ehr' / Auf! In die Schlacht gezogen."

Assistiert wurde er von Gerhart Hauptmann, der seinerseits ein "Reiterlied" verfasste und es "Fritz v. Unruh, dem Dichter und Ulanen" widmete. In ihm werden die Kriegsgegner, "ein Franzos'" "ein schwarzer Russ'" und "ein Englishman" als "Räuber" diffamiert, die sich an Deutschlands "Ehre" und "Land" heranmachen. Trotzig werden sie zurückgewiesen: "Nimmer nimmt sie uns irgendwer, / Dafür sorgt Gott, Kaiser und deutsches Heer".

Fritz von Unruh hatte einen weiten Weg zurückgelegt: der anerzogene Nimbus vom auserwählten deutschen Volk zerbrach angesichts des Krieges, dessen Unmenschlichkeit niemanden, weder Freund noch Feind, verschonte. Mit der autobiografischen Schrift "Die Flügel der Nike" und seinem unermüdlichen Einsatz für die Sache der Völkerversöhnung wurde er zum geachteten Streiter für ein neues Europa. Seit Beginn der 1920er-Jahre wohnte er in Paris und widmete sich dort dem Kampf für den Pazifismus.

Einen solchen Wandel zum kämpferischen Pazifisten haben nicht alle vollzogen. Will Vesper, später einer der Bannerträger nationalsozialistischer Kultur, sah durchaus eine Provokation im christlichen Liebesgebot. Er beantwortete es mit einem Gedicht, dessen emotionaler Ausbruch auch dem heutigen Leser noch etwas von der Gestimmtheit zu Beginn des Ersten Weltkriegs vermittelt. Vesper geht es um nicht weniger als um einen Paradigmenwechsel: Christi Versöhnungstod, die Liebe, die den Schmerzensmann bewogen hat, den Feinden im eigenen Tod Versöhnung zu gewähren, nimmt er zum Ausgangspunkt, um sich selbst angesichts des beginnenden Krieges die Frage "Liebe oder Haß?" zu stellen und sich mit seiner lyrischen Antwort aktualisiert, neu und anders zu positionieren. Dieses Bekenntnis hat er auch später nicht aufgegeben: "Liebe oder Haß? // [...] / Ich aber hab mich abgewandt, / Nahm hier die Feder in die Hand // Und schreibe her: Ich hasse, Herr! / Aus tiefster Seele haß ich, Herr! // Und blick dir doch klar ins Gesicht: / Mein Haß weicht deiner Liebe nicht! // Weil dieser Haß, Herr Jesu Christ, / Die Frucht der höchsten Liebe ist. // Mein Vaterland in tiefer Not: / Haß allen Feinden bis in den Tod!"

Heinrich Lersch, Fritz von Unruh, Will Vesper - drei Autoren, drei grundsätzlich verschiedene Positionen angesichts des Krieges. Sie kannten sich, begegneten sich und kommunizierten miteinander. Alle drei fanden sich in den 1920er-Jahren im Kreis des "Bundes rheinischer Dichter" wieder. Die besondere Nähe zu Frankreich hatte die Mitglieder des Dichterbundes, zu dem Autoren wie Adolf von Hatzfeld, Alfons Paquet und Carl Zuckmayer zählten, in besonderer Weise zu einer Stellungnahme herausgefordert. Die Vorstellung, mit der Herausforderung, auf den Ersten Weltkrieg zu reagieren, hätten sich notwendigerweise Lager von Kriegsanhängern und -gegnern bilden müssen, ist zu einfach, denn man wird gerade in Kreisen der rheinischen Schriftsteller wie der Künstler eine Dominanz pazifistischer Bekenntnisse finden. Die Verbindungen zu Frankreich, zur Kulturmetropole Paris, hatte eine lange Tradition. Als Schriftsteller lebten dort in den 1920er-Jahren Walter Hasenclever, Fritz von Unruh, René Schickele und Carl Einstein. Für die meisten ging dieser Suche nach Versöhnung allerdings erst das Erlebnis und die Erkenntnis vom Schrecken und der Barbarei des Krieges voraus. Der drängenden Thematik, die durchweg auch eine existentielle Krise heraufbeschwor, hat sich kein Autor entzogen. Zu tief griff das Ereignis und hinterließ Spuren.

Eine kleine Umschau zeigt, wie die literarische Bewältigung dieser Herausforderung aussah. Krieg in der Fotografie und Krieg im Gedicht treffen sich da, wo Schriftsteller, anders als Maler, ihre künstlerische Verarbeitung unmittelbar an das Erleben binden konnten. Der nie zu enden scheinende Stellungskrieg begünstigte vor allem die Lyrikproduktion, denn selbst im Schützengraben, der in diesem Krieg als flächendeckende kriegsstrategische Einrichtung zum Ort einer negativen Identität wurde, ließen sich die aufgewühlten Gefühle mit Stift und Papier zumeist als Lyrik aufs Papier bannen.

Das Erlebnis des Krieges. Eine literarische Herausforderung

Wie sollte man das nie Erwartete, nie Erlebte, nie Ausdenkbare überhaupt in Worte verwandeln? Ludwig Meidners apokalyptische Stadtlandschaften und Ernst Ludwig Kirchners Großstadtbilder hatten zwar schon vor dem Krieg viel von dem zu bewältigen versucht, was sensible Zeitgenossen der "Moderne" als Erfahrung der Entfremdung, zumal in der Großstadt, zu verkraften und in eine künstlerische Sprache umzusetzen versucht hatten, aber das war wenig gegenüber den Grauen des Krieges, die es nun zu bewältigen galt. René Schickele hat sich unermüdlich engagiert, vor allem mit der in Zürich erscheinenden Zeitschrift "Die Weißen Blätter" und der dort im Max Rascher Verlag von ihm betreuten Reihe "Europäische Bücher". Doch auch für ihn musste es, wie für die meisten bei Kriegsbeginn jubelnden Dichter, zunächst ein Umdenken geben. Als Elsässer dem "Vater"-Land Deutschland und zugleich dem "Mutter"-Land Frankreich verbunden, hatte er in seinem in der Zeitschrift "Schaubühne" erschienenen Gedicht "Erster August 1914" den Kriegbeginn noch wie eine Naturkatastrophe beschrieben.

"Erster August 1914 // Kam eine rote Wolke gezogen, / Entstürzend ihr drohende Gestalten / Wir riefen, um sie aufzuhalten, / Schon waren sie durch uns geflogen / Und hinterließen einen Brandgeruch, / Bestürzung ringsum wie nach einem Fluch, / und dann war Krieg."

Angesichts des Zerbrechens aller Konventionen, die sich bisher an Kriege gebunden hatten, musste eine neue Sprache gefunden werden. Es ging nicht mehr um Heldentum, um den heroischen Kampf Mann gegen Mann, sondern um einen Krieg der Technik, im Extrem um einen Giftgaskrieg. Wohl weil die Suche nach einem angemessenen Ausdruck für das Grauen so mächtig war, lässt sich die 'Ausbeute', mit einem gewissen Zynismus gesprochen, unter literarhistorischem Aspekt als höchst produktiv bezeichnen. Dass diese Texte kaum mehr bekannt sind, mag an unserer Fähigkeit liegen, Krieg und Tod aus unserer Wahrnehmung zu verdrängen. Die Dichter der Zeit sahen sich hier unmittelbar gefordert.

"Menschheitsdämmerung" hatte Kurt Pinthus die 1919 erscheinende Lyrikanthologie betitelt, die eine Fülle von Zeitdokumenten enthält, in denen die zwischen Apokalypse und Utopie vagierende Empfindung ihren angemessenen Ausdruck finden. Er reicht von konventionellen Bemühungen bis zur lyrischen Avantgarde.

Der Aachener Julius Talbot Keller, der 1917 aus dem Krieg ins Schweizer Exil geflohen war, hat in seinem Gedicht "Die Front" zwar versucht, mit beschreibender Distanz auf das Erlebte zu reagieren, doch unter der Hand gerät ihm das Erlebnis zum Alptraum, bedeutet den Verlust tradierter Werte.

"Die Front // [...] // Um ihre Ängste schlugen sie der Fahnen / Gekräuselten Brokat und krochen gläubig / In die Portale seines lauten Mauls. / Und hinter ihnen schlossen sich die Zähne. / Mir ekelte der ungeheuren Atzung. / Der Dom der Zeit zerbarst vor meinen Sinnen, / Die sich verschränkten. Und mein Auge starb / Auf quellenden, geblähten Stutenbäuchen."

Kurt Heynicke, Dramaturg am Düsseldorfer Schauspielhaus, gelingt es, einen zweiundsiebzig Stunden währenden "Angriff" so wiederzugeben, dass sich die Bedrohung und existentielle Angst eindringlich vermitteln. Der Verlust individueller Handlungsfreiheit und die kategorialen Trennung von Objekt- und Subjektwelt binden sich an neue Wahrnehmungsmuster, hier die Aggressivität einer technisch perfekt ausgerüsteten Kriegsmaschinerie, gegen die der Einzelne keine Chance hat. Im parataktischen Reihungsstil zeigt sich die Unfähigkeit des Einzelnen, kritische Distanz zu bewahren. In Heynickes Gedicht mündet die reflexartige Reaktion auf die ununterbrochene Folge aggressiver Reize in einer vollständigen Selbstaufgabe, in der der Tod als einziger Ausweg, ja, als kaum mehr zu realisierende Hoffnung erscheint.

Angriff

[...]
Wir pressen uns aneinander.
Die Nässe zerschneidet unsern Körper in tausend frierende Teilchen.
Unsre Nerven sind tot.
Blut stiert in unsere stumpfen Gedanken.
Blut in die krampfhaften Augen.
Unser Maschinengewehr wächst uns in die Hände.
Der Spaten gräbt kleine Gruben.
Die Geschosse singen sich durch die Ohren.
Pressen die Gehirne zusammen.
Bohren, schreien wuthaft auf,
Zersplirren in tausend tönende Teilchen.

[...]
Regen tötet unser warmes Blut.
Neuer Tanz.
Tobende Winde.
Blühende Wiese von Schrapnellen über uns.
Kein Ende.
Der Tod ist mein lieber Freund.
Lieber Freund, ich bete.
Ich hasse alle Menschen.
Ich liebe unser Maschinengewehr.
Ich liebe das Sterben.
Den Schlaf.
Die Luft zerrt wütende Töne.
Es rauscht.
Lieber Tod
Lieber, lieber Tod.

Heynicke gerät an eine Grenzerfahrung, die ihn zu einem Bekenntnis zwingt. Der unmittelbare Todeswunsch, die Selbstaufgabe ist nur eine der möglichen Reaktionen. Über die momenthafte Verlorenheit erhebt sich in dieser Zeit eine neue Stimme, getragen vom elementaren Bedürfnis nach fundamentaler Veränderung der Welt. Hier hat das "O-Mensch"-Pathos, das vornehmlich den Spätexpressionismus kennzeichnet, und das sich in keiner anderen europäischen Dichtung in dieser Fülle findet, seine Quelle. Die messianische Rückbesinnung und die Hoffnung auf ein neues Paradies zählen zu den utopischen Konstrukten, die die Bildwelt der Maler wie die der Schriftsteller bis weit in die Nachkriegszeit prägt.

Der Einzelne geriet nicht nur an die Grenze der eigenen Leidensfähigkeit, sondern begegnete auch der Natur in einem, auch wörtlich verstanden, neuen "Licht". Nicht ohne Grund wird die Sonne zum herausragenden Motiv. Zwischen kosmischem Heilsversprechen und Zeugenschaft für die Grausamkeiten, von denen man als Soldat umgeben war und denen man sich unrettbar ausgeliefert sah, reicht die literarische Verarbeitung der Sonnenmetaphorik.

Der Kölner Walter Rheiner, der sich 1925, morphiumsüchtig, das Leben nahm, hat die Kriegsschrecken in einen kosmischen Zusammenhang getaucht und sein Gedicht "Des Himmels Kontinente" betitelt.

Des Himmels Kontinente

Des Himmels Kontinente überschwärmt von dunklen Flüssen,
in denen brüllend die Granaten segeln.
Kanonen schleudern neue Sterne in die Firmamente.
Die Nacht stürzt rußig auf die Zeltbaracken.

[...]

Europa bricht, von schwerem Aussatz angefallen,
Entzwei und stürzt mit Schreien in das Meer.
Die Erde zitternd saust aus ihrer Bahn;
Sie nähert sich der Sonnen-Heimat schnell.

O neuer Stern mit Wiesen, Teich und Frauen!
O neuer Mond! Gebogne Nächte süß!
O Heimat! Fluß! O-Mensch- und Bruder-Hand!
Wir schrein um dich durch die Äonen bang.

Heynicke vor allem hat in vielen seiner Gedichte die symptomatische Themenvielfalt und Motivakkumulation, die die Bildwelt des spätexpressionistischen Kriegsgedichtes prägt, aufgegriffen. In seinen Texten finden wir immer wieder blinde und zerplatzende Sonnen, die Auskunft geben über das Ende einer heilen Welt. Die gefürchteten Waffen und die bedrohliche kosmische Natur sind im Gedicht "Ferne Granate" kaum auseinanderzuhalten.

"Ferne Granate // Der Wald springt auf, / Die Winde ächzen / Aufsternend himmelende in den Schrei! / Die schwarze Erde / Reißt den gelben Fetzen / Hoch / Der blinden Sonne / Peitschenquer / Ins Abendgesicht."

Die künstlerische Avantgarde und heute "klassische Moderne" hat durchaus ein Pendant auch in Literatenkreisen. Auch dort suchte man nach neuen Formen der literarischen Verarbeitung des Krieges. Carl Einstein, vom Kubismus und afrikanischer Kunst beeinflusster Autor und Kunstkritiker der Moderne, der nicht nur von 1914 bis 1918 am Krieg teilhatte, sondern 1937 mit den internationalen Brigaden im Spanischen Bürgerkrieg gegen Franco kämpfte, gelingen Gedichte, die wie innere Bilder des Krieges gelesen werden können. Er transponiert im Gedicht "Tödlicher Baum" das umfassende Leiden auch auf die Ebene der Natur.

Tödlicher Baum

Glasig Zerstücken zerrt tauben Hals in quere Masche.
Gefetzter schwert blättrige Luft.
Dein Fleisch nährt Wind.
Auge blendet fremd Gestirn.
Verscherbter zackt in bergigem Schrei,
Gilbt Wiese mit zersticktem Vorwurf.
Eitrige Silbe wölkt.
Zahn färbt rotgestotterten Dampf.
Tropfig Denken speit lockern Herbst.
Zerwesen krankt Fall:
Greist
Staubt
Wurzelt.

Griffe gegabelt jammern dir den Ast.
Aufwirft Haß in kantenen Rauten.
Kreise bleiche Körner,
Hagelgurt.
Runde träges Gift.
Ersticken türmt.

Einstein knüpft an die Wortkunst der Berliner Avantgardezeitschrift "Sturm" an, in der vor allem August Stramm mit seinen Gedichten Maßstäbe gesetzt hatte. Stramm war im September 1915 als Offizier in Russland gefallen. Noch im Schützengraben hatte er seine Kriegsgedichte redigiert, damit keine seiner akribischen Wortneuschöpfungen und -verwandlungen, mit denen er das Entsetzen festhalten wollte, verlorenging. Das Gedicht "Krieggrab" hebt das Besondere eines einzelnen Kriegsgrabes ins Phänomenale.

"Krieggrab // Stäbe flehen kreuze Arme / Schrift zagt blasses Unbekannt / Blumen frechen / Staube schüchtern / Flimmer / Tränet / Glast / Vergessen."

Die Lyrik, mit der die Schriftsteller dem Kampfgeschehen und den eigenen seelischen und körperlichen Verwundungen begegneten, machte damals einen beträchtlichen Teil der literarischen Produktion aus. In eine Fülle von Kriegslyrikanthologien, Abdrucken in Zeitschriften und Lyrikbändchen wurden sie bekannt gemacht und dienten vor allem nach dem Krieg zur Auseinandersetzung mit den bleibenden Leiden. Bei diesen Versuchen, das Erlebte literarisch zu verarbeiten, darf nicht vergessen werden, dass die Schriftsteller, anders als ihre französischen Kollegen, das Ereignis als politische Niederlage erfahren haben. Es konnte ihnen nicht gelingen, ihre körperlichen und seelischen Schmerzen durch ein Siegesgefühl zu kompensieren. Als einen "Grande Guerre", wie dies französische Autoren konnten, vermochten sie den Ersten Weltkrieg nicht zu deuten. Deshalb ist es von besonderem Gewicht, auch für heutige Leser der Texte und Betrachter der Bildwelt dieser Zeit, zu erfahren, dass Appelle an eine kollektive Versöhnung in großer Zahl zu vernehmen waren und dass die Ideen eines brüderlich vereinten Europa als durchaus dominantes literarisches und künstlerisches Thema aufgegriffen und verarbeitet wurden.

Aspekte der Kriegskritik und Versöhnungsutopien

Der zum Aachener Frühexpressionistenkreis zählende Karl Otten war einer der wenigen, die dem Krieg von Anbeginn an ablehnend gegenüberstanden. 1914 wurde er als Krieggegner ins Gefängnis gesteckt, dann als "Arbeitssoldat" an die Front geschickt. Seine kriegskritischen Gedichte und Texte erschienen unter anderem in einer der wichtigsten Zeitschriften, der in Berlin erscheinenden "Aktion". 1918 gab Otten in Wien sogar eine eigene pazifistische Zeitschrift mit dem Titel "Der Friede" heraus. Seine wütende Klage gegen den Krieg gipfelt in einer appellativen Setzung: "Daß der Feind eine Erfindung (Maschine) daß der Mensch die einzige Wahrheit, / Daß Wahrheit, Hoffnung Glaube Gerechtigkeit sind! / Maschine ist nicht! Technik ist nicht! Feind ist nicht! Haß ist nicht! / Er ist - ja - zu vernichten! Zu vernichten! / Rottet ihn aus, schmeißt ihn aus euren Augen, Herzen, Mägen, Därmen! / Gift, Gift! Lüge, Dreck! Es gibt keinen Feind! / Nur Menschen!"

Otten zählte Erich Mühsam, Carl Einstein und Heinrich Mann zu seinen Freunden. Aus linksintellektueller Sicht wurde hier sehr früh, aber vereinzelt Kriegskritik geübt. Ein kollektives Aufbegehren wird aber erst gegen Ende des Krieges erkennbar.

Mit Ludwig Rubiners Anthologie mit dem programmatischen Titel "Kameraden der Menschheit" ergab sich eine Sammlungsbewegung, zu der auch Otten beitrug. Im Hymnus "An die Besiegen" richtete sich Otten an die Opfer des Krieges, die seelisch und körperlich Verwundeten, denen er "glutvoll" seine Hand entgegenstreckt. Es verbindet sie ein gemeinsames Ziel: "Wir wollen warten bis uns vor Gottes Thron / Gemeinsam, Hand in Hand, / Als Brüder, als Brüder, ja als Brüder Flammen der Liebe entzücken."

In den Gedichten der Autoren des Spätexpressionismus dominiert die Betroffenheit. Zu elementar hatten die Kriegserlebnisse die einzelnen Autoren entwurzelt. Doch wie der Bildwelt der expressiven Kriegsbilder mit George Grosz, John Heartfield und Otto Dix eine satirische, gesellschaftskritische Sichtung der Zeit folgt, finden wir gelegentlich auch im Gedicht die Anklage gegen die Kriegsgewinnler, die den einfachen Soldaten allein gelassen und, verlogen und machthungrig, nur die eigene Identität und die ritualisierten Vergnügungen ungebrochen gerettet hatten.

Walter Hansenclever hat schon mit der Titelmatrix die Dichotomie von Leiden und perversem Vergnügen angeprangert und Bilder und Beispiele gewählt, die die Unangemessenheit und den Zynismus der Sieger deutlich benennen. Er zitiert wie einen Anachronismus bürgerliche Bildungserlebnisse, mit denen sich, wie im Gedicht "Die Mörder sitzen in der Oper", die Offizierskaste ihrer Verantwortung entzog.

Die Mörder sitzen in der Oper

Der Zug entgleist. Zwanzig Kinder krepieren.
Die Fliegerbomben töten Menschen und Tier
Darüber ist kein Wort zu verlieren.
Die Mörder sitzen im Rosenkavalier.
[...]

Die Länder sind verteilt. Die Knochen bleichen.
Der Geist spinnt Hanf und leistet Zwangsarbeit.
Ein Denkmal steht im Meilenfeld der Leichen
Und macht Reklame für die Ewigkeit.

Man rührt die Trommel. Sie zerspringt im Klange.
Brot wird Ersatz und Blut wird Bier.
Mein Vaterland, mir ist nicht bange!
Die Mörder sitzen im Rosenkavalier.

Paul Zech war einer der Autoren, die früh und laut ein Ende der Grausamkeiten forderten, die "Genug! Genug! Genug!" riefen und die eigene Schuld bekannten.

Ich fühle mich mit allem schuldig, ja!

[...]
Ich fühle mich mit allem schuldig, ja!
Weiß, daß es meine spitze Kugel war,
Durch die dies Ungeheuere geschah -:
Schlaflose Nacht und Reif in deinem Haar,

[...]
Schlag mich an alle Kreuze dieser Welt!
Lösch meinen Namen aus der Menschheit Buch
Und streu mich, schon gerichtet und zerschellt,
Streu meine Asche noch in jeden Fluch.

Dir aber wachs' aus Christi Wunder die Passion
Zu der Geburt, um die sich Sterne drehn,
Der Sohn, durch den wie brausender Posaunenton
Die Götterhimmel aller Erden gehen.

Sein mahnender, völkerversöhnender Ton mündet in einen politischen Aufruf für ein neues Europa, das er sich nur als eine Republik vorstellen konnte. Dass sein antizipierender Ruf nie eine Chance hatte, mögen wir aus der historischen Distanz nüchtern erkennen, doch die inständige Beschwörung eines versöhnten Europas, vermittelt in den Schlusszeilen seines Gedichtes "Europa", bewegt noch heute: "Es flattert maienselig her von Norden / Europa und gebietet Republik."

Armin T. Wegner verbrachte sieben Jahre wegen seiner Pazifismusaktivitäten in Gefängnissen. Dies hinderte ihn nicht, unermüdlich die Sache der Völkerverständigung und -versöhnung zu betreiben. Hier sein auch heute noch aktueller "Funkspruch in die Welt", ein Appell an alle Völker.

"Funkspruch in die Welt // An alle, alle alle! An die Völker Europas und die Völker Amerikas! / An die Steppenhorden Asiens, die Reisbauern Indiens und die Völker der Südsee! / An die steinernen Dschungel der Städte, an den einsamsten Kamelhirten der Wüste, der in seinem Zelte betet - / Aus verschüttetem Brunnen hebe ich mein Herz und rufe euch zu: trinkt! trinkt! // [...] O Freunde, daß ich zwei Augen habe, auf euch zu schauen! / O Freunde, daß ich einen Mund habe zu sprechen, der nicht mehr verschlossen ist, / Mit euch den Atemzug des Friedens zu spüren, den tiefen und ruhigen Puls der Freundschaft / Ein zersprungenes Gefäß der Liebe, hinzuströmen in alle Äcker der Welt."

Fragt man nach dem, was die Lyrik dieser Zeit eint, so ist es die Dichotomie von Apokalypse und Utopie. Beide sind gleich weit von der Wirklichkeit entfernt, bedeuten einen Übergang in eine neue Erlebnisdimension, die jede Denk- und Vorstellungswelt des bisher Erfahrenen hinter sich lassen musste. So unmenschlich das Erlebte, so unwirklich gerieten notwendigerweise die Entwürfe, die an die Stelle der Normalität traten, freilich knüpften sie an die Heilsbilder an, die sich in der kulturellen Erinnerung auffinden ließen. Ernst Toller macht mit seinem Drama "Die Wandlung" diesen Schritt aus der Realität in die Utopie, wenn auch für uns heutige Leser nicht versteh-, so doch nachvollziehbar. Die "Kathedrale der Menschheit", die er am Ende seines Stückes als einheitsstiftendes Gemeinschaftsideal ins Bild setzt, bedeutete einen Rückgriff auf ein universales Denkbild voll sakraler Kraft: ein Gemeinschaftsideal, in dem eine ordo amoris der Moderne eingeklagt wurde, wenn auch nur literarisch. Die Versöhnung der Menschheit im Geiste eines säkularen Universalismus, in dem Deutschland und Frankreich nicht mehr als politisch benennbare Größen erkennbar waren, sondern in einer höheren Idee aufgehoben sein sollten, beherrschten die Visionen vieler deutscher Schriftsteller und Künstler. Hier, in diesem Heilszustand, musste sich eine neue Zeit erfüllen und es sollten die Künstler und Dichter selber sein, die den Weg dorthin weisen konnten und sollten! Toller hatte seinem Drama eine entsprechende "Aufrüttelung" vorangestellt, die die heile Welt des ästhetischen Scheins beschreibt, die mit dem Krieg zerstört wurde, danach das Grauen kennzeichnet, das über die Erde kam, aber auch das geistige und seelische Erwachen, das zu neuem Glauben führt, zu einem neuen "Tempel" brüderlicher Gemeinschaft, der zumindest literarisch die Zukunft vorbereitet. Diesen Zukunftstraum, die Utopie, verkündet der Dichter programmatisch, quasi im Auftrag aller Dichter seiner Generation.

Aufrüttelung

Zerbrich den Kelch aus blitzenden Kristallen,
Von dem die Wunder perlentauend fallen,
Wie Blütenstaub aus dunkelroten Tulpen.

Wir schritten durch die Dämmerwelt der Wunder,
Verträume pflückten Märchen wir mit weichen Händen,
Aus Sonnenstrahlen formte Glaube Kathedralen,
Von hochgewölbten Toren fielen Rosenspenden.

Da! mordend krochen ekle Tiere
Flammenspritzend auf der Erde!

Wir blickten traumschwer blinzelnd auf
Und hörten neben uns den Menschen schreien!

Wir sahen die Gemeinheit Orgien feiern,
Europa troff, entblößt, von Sudel,
Aus Gruben quoll der Lüge Strudel,
Rauch schlang Spiralen beizend über unserm Haupt,
Zu unsern Füßen gurgelte Verzweiflung.
Es schrie ein Mensch.

Ein Bruder, der das große Wissen in sich trug
Um alles Leid und alle Freude,
Um Schein und quälende Verachtung,
Ein Bruder, der den großen Willen in sich trug,
Verzückte Tempel hoher Freude zu erbauen
Und hohem Leid die Tore weit zu öffnen,
Bereit zur Tat.
Der ballte lodernd harten Ruf:
Den Weg!
Den Weg! -

Du Dichter weise.