Geschlechtersuprematien

Katrin Schütz untersucht Geschlechterentwürfe im literarischen Werk von Lou Andreas-Salomé

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Auch Lou Andreas-Salomé teilte jahrzehntelang das Schicksal zahlreicher begabter Frauen, nur als Musen oder sonstige Anhängsel 'großer Männer' bekannt zu sein. Dass sich dies in ihrem Fall - ebenso wie auch in einigen anderen - inzwischen zumindest etwas geändert hat, ist der Frauenbewegung und der feministischen Literaturwissenschaft der 1970er-Jahre zu danken. Zwar wird sie vom wissenschaftlichen mainstream noch immer nicht in gebührendem Maße als Literatin, Theoretikerin und Psychoanalytikerin gewürdigt, doch wurden und werden ihre Werke seither immer wieder aufgelegt. So irrt Katrin Schütz denn auch, wenn sie meint, dass seit den 1930er-Jahren des letzten Jahrhunderts "jegliche Neuauflagen" von Salomés Werken "weitgehend" eingestellt worden seien und sich diesbezüglich erst seit 2005 "eine Wende abzeichnet". Denn sie übersieht, dass sich einige Novellen und Romanen von Salomé im Gefolge der Frauenbewegung während der 1970er- und 1980er-Jahre sehr wohl neuer Ausgaben erfreuen durften.

Nicht nur Salomés Werke werden neu aufgelegt, auch die einschlägige Sekundärliteratur wächst stetig an. Schütz selbst hat jüngst die Monografie "Geschlechterentwürfe im literarischen Werk von Lou Andreas-Salomé unter Berücksichtigung ihrer Geschlechtertheorie" vorgelegt. Deren Titel ist zwar ebenso trocken wie umständlich, aber ziemlich zutreffend. Doch bedarf das Thema der Arbeit einer Präzisierung. Denn in der Einleitung legt die Autorin dar, dass sie die "literarischen Geschlechterentwürfe" in "Korrelation zu einem geschlechterspezifischen Sexualverhalten der Protagonistinnen und einer sich daraus ergebenden Salomé'schen Geschlechtertypologie" stellt. Sie befasst sich tatsächlich also weniger mit Geschlechterentwürfen allgemein - wozu auch die der männlichen Figuren gehören würden, sondern ganz überwiegend mit Weiblichkeitsentwürfen. Diese Herangehensweise legt Salomés theoretisches, wissenschaftliches und essayistisches Œuvre allerdings auch ebenso nahe wie ihre literarischen Werke. Denn in ersterem steht "Der Mensch als Weib" im Vordergrund - wie denn auch Salomés zentrale nichtfiktionale Arbeit betitelt ist. Und in ihren Romanen und Novellen sind die ProtagonistInnen vorwiegend weiblichen Geschlechts.

Schütz teilt Lou Andreas-Salomés Schaffensphasen in drei "Perioden" ein: "Die literarische Phase dauert von 1885-1905. Ihr folgt die Übergangsphase von 1905-1912, in der vorwiegend theoretische Abhandlungen entstehen. Die dritte Schaffensphase umfasst psychoanalytische, theoretische, autobiographische und literarische Texte psychologisch-lehrhaften Inhalts, die in der Zeit zwischen 1912 und 1935 geschrieben werden." Da bislang noch keine umfangreichere Forschungsarbeit das frühe literarische Werk der Schriftstellerin unabhängig von ihrer "spätere[n] Beschäftigung mit der Psychoanalyse" untersucht und mit ihrem theoretischen Geschlechtermodell zusammen gestellt hat, hat sich Schütz eben genau dies zur Aufgabe gemacht. In "Anlehnung an die strukturale Textanalyse" stellt sie die Weiblichkeitsentwürfe in Salomés literarischem und theoretischem Werk vergleichend vor, wobei der Teil zum literarischen Werk weit umfangreicher ausfällt als der zum theoretischen. Dabei erweisen sich Schütz' Ausführungen zu Salomés "populärwissenschaftlicher Essayistik", deren Anspruch "zugleich Wissenschaft und Literatur zu sein" einige "Tücken" berge, immer wieder als erhellend. So begännen Salomés oft "kreisförmige[n] Argumentationen" zunächst mit "klaren Satzstrukturen", die sie "im Folgesatz in fast lyrischem, beinahe undurchdringlich tropenreichem Stil" aufnehme, was zur Folge habe, dass sich die Lesenden mit einem "Mosaik verschiedener Textebenen" konfrontiert sehen, die in "keinen direkten Zusammenhang" zu bringen sind.

Im Laufe der Untersuchung erörtert Schütz, inwieweit sich Salomés Entwürfe in Theorie und Literatur gleichen, wie sie sich in der Figurenpsychologie widerspiegeln und welche Typologie der Geschlechter, insbesondere der Frau, sich daraus ergibt. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass dem "biologistischen Geschlechterentwurf" in Salomés theoretischen Schriften verschiedene literarische Figuren korrespondiert, die sich an diesen zwar "anlehnen", ohne in ihm jedoch völlig aufzugehen. Schütz weist eine "eigentümliche Diskrepanz" zwischen den Geschlechterkonstruktionen in Lou Andreas-Salomés theoretischen Schriften und ihrer Literatur nach. Während in den biologisch argumentierende theoretischen Schriften einer "Suprematie der Frau" behauptet werde, weiche diese in Salomés Literatur einer "Suprematie des Mannes".

Auf Erörterungen eventueller "Korrelationen zwischen Leben und Werk der Schriftstellerin" verzichtet Schütz aus guten Gründen: "Gerade durch eine Trennung zwischen Autorin und Werk entsteht die Chance, dem literarischen Œuvre vorbehaltlos gerecht zu werden."

Schütz' Untersuchung brilliert durch eine gründliche Beschäftigung mit den Quellen, die sie ausführlich referiert, zitiert und interpretiert. Dies ist umso anerkennenswerter, als einige von ihnen nur schwer zugänglich sind. Gerade diese sind es aber, die Schütz zu der einen oder anderen Entdeckung führten. So weist sie etwa anhand des Vorlesungsverzeichnisses der Hochschule Zürich des Wintersemesters 1880/81 und des Sommersemesters 1881 nach, dass Andreas-Salomé dort studierte, oder wie man genauer sagen muss: Vorlesungen besuchte, ohne immatrikuliert gewesen zu sein.

Allerdings tut sich bei all dieser Gründlichkeit auch eine merkwürdige Lücke auf: Schütz scheint Hedwig Dohms Buch "Die Antifeministen" nicht zu kennen, in dem die radikale Feministin der Auseinandersetzung mit Salomé ein ganzes Kapitel gewidmet hat. Aus der jüngeren Sekundärliteratur zieht Schütz überwiegend Arbeiten zu Salomés literarischem Œuvre heran. Forschungen zu den theoretischen Schriften der Autorin werden zwar erwähnt, ansonsten aber nicht größer einbezogen.

Abschließend diskutiert die Autorin die Frage, ob Salomés Geschlechterkonzept seinerzeit eher konservativ oder progressiv gewesen ist. Nicht der von der "wissenschaftlichen Mehrheit" um 1900 geteilte "biologische Geschlechterdeterminismus" in Salomés "Anthropologie" sei progressiv gewesen, wohl aber ihr "Umkehrschluss", der sie daraus eine "Suprematie der Frau" ableiten lasse, die sie zur These der "biologischen Notwendigkeit des Auslebens weiblicher Sexualität" führe. Die Geschlechterentwürfe in Salomés literarischen Werken wiesen sowohl "progressive als auch konservative Ansätze" auf. Obgleich sie sich an den biologischen Determinismus der theoretischen Schriften anlehnten, "scheitert die weibliche Suprematie in den Novellen und Romanen an dem konservativen Werte- und Normensystem der Jahrhundertwende". Das progressive Moment der literarischen Prosatexte liege darin, dass sie so "auf Missstände in den zeitgenössischen Geschlechterkonstellationen" aufmerksam machen, "deren Merkmal die Unterdrückung weiblicher Autonomie in einem Wertesystem ist, in dem es für die Frau keine sexuelle Erfüllung gibt."


Titelbild

Katrin Schütz: Geschlechterentwürfe im literarischen Werk von Lou Andreas-Salomé unter Berücksichtigung ihrer Geschlechtertheorie.
Königshausen & Neumann, Würzburg 2008.
345 Seiten, 39,80 EUR.
ISBN-13: 9783826037320

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