Zwei Jahrhundertmenschen

Gustav Seibt über Goethes Begegnungen mit Napoleon

Von Ursula HomannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ursula Homann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zweimal war Johann Wolfgang Goethes Leben im Krieg in Gefahr: bei der Kanonade von Valmy am 20. September 1792 und in der Nacht vom 14. auf den 15. Oktober 1806, nachdem Preußen die Schlacht von Jena und Auerstedt verloren hatte. Bei Valmy hatte Goethe die Gefahr selbst gesucht, als er als Zivilist seinen Herzog Carl August in den Feldzug der preußisch-österreichischen Koalitionstruppen gegen das revolutionäre Frankreich begleitet hatte. Später notierte er rückblickend, dass von hier und heute eine neue Epoche der Weltgeschichte ausgegangen sei, und hatte hinzu gefügt, "ihr könnt sagen, ihr seid dabeigewesen."

Über die zweite Episode hat er dagegen kaum etwas verlauten lassen, obwohl die Ereignisse von 1806 sein Leben stärker erschütterten als das "Kanonenfieber" und sein Wohnort unmittelbar bedroht war. Zum Jahreswechsel 1806/7 berichtete er an Carl Friedrich Zelter, dass er "durch die bösen Tage [...] ohne großen Schaden durchgekommen" sei - dank seiner Gefährtin Christiane hieß es dann bald allgemein, aus Dankbarkeit habe er sie auch geheiratet.

Mit der Schilderung dieser Ereignisse beginnt Gustav Seibt, der bekannte und für publizistische Arbeiten mehrfach ausgezeichnete Feuilletonist, sein Buch "Goethe und Napoleon", in dem er Goethes Erfahrungen in der napoleonischen Zeit bildhaft beschreibt und zugleich ein anschauliches, detailliertes und sorgfältig recherchiertes Panorama jener Epoche entwirft, so dass wir es hier nicht nur mit einem weiteren Goethe-Buch, sondern auch mit einem kulturhistorischen Abriss der napoleonischen Ära zu tun haben. Vor allem aber zeigt es den Dichter in einem ungewohnten Kontext, nämlich als aufmerksam teilnehmenden Zeitgenossen von Friedrich von Gentz, Charles-Maurice de Tayllerand und Clemens Wenzel Lothar von Metternich.

Im Mittelpunkt stehen die mehrfachen Begegnungen zweier Jahrhundertmenschen, von Goethe und Napoleon Bonaparte. Zunächst jedoch schlug Goethe alle Gelegenheiten zu einer Begegnung mit Napoleon aus. "Jedenfalls hat kein zweites politisches Ereignis Goethes persönliches Leben so direkt beeinflusst wie die Nichtbegegnung mit Napoleon durch die Schlacht von Jena und ihre Folgen." Stattdessen zog er es vor, seine Lebensumstände und Vermögensverhältnisse zu ordnen.

Gleichwohl ist in Goethes Tagebüchern aus dieser Zeit viel von Politik die Rede. Wir müssen uns ihn "als gründlich informierten Zeitgenossen vorstellen", schreibt Gustav Seibt und meint, dass der Weimarer Dichter die wichtigsten Argumente, die sich gegen Napoleon, sein Regime und seine Eroberungswut vorbringen ließen, durchaus gekannt habe. Aber Goethe dachte, auch wenn er in Weimar als Hofdichter und Theaterdirektor seines Amtes waltete, in weiträumigen, weltbürgerlichen und imperialen Zusammenhängen. Er hatte zwar keine Freude am politischen Meinungsaustausch. Doch die konkrete Gestalt des Kaisers faszinierte ihn. Er betrachtete ihn als absolute Größe und beobachtete ihn mit vollkommener moralischer Unbefangenheit.

Erst am 2. Oktober 1808, mithin vor etwa zweihundert Jahren, ist Goethe Napoleon in Erfurt, wo der große Fürstenkongress stattfand, persönlich begegnet, wobei die Audienz nicht dem Staatsminister galt, sondern dem Dichter. Beide waren auf dem Gipfel ihrer Kraft. Der eine war der größte Dichter seiner Zeit, der andere der mächtigste Mann Europas. Goethe hatte im Frühjahr den ersten Teil des "Faust" publiziert, Napoleons Heere und Könige regierten zwischen Madrid und Warschau. Der Dialog zwischen den beiden Genies, der durch Napoleons Ausruf "Voilà un homme / Vous êtes un homme" unsterblich geworden ist, drehte sich um Fragen der dramatischen Literatur und um Goethes "Werther". Am Ende soll Napoleon den Dichter aufgefordert haben, ein Cäsar-Drama zu schreiben und nach Paris zu kommen. Seibt geht auf das Gespräch mit samt seiner Vor- und Nachgeschichte ausführlich ein.

Dass Goethe den ihm von Napoleon verliehenen Orden gern trug, wurde in Weimar bald sprichwörtlich. "Ohne das Legionskreuz geht Goethe niemals", berichtete Wilhelm von Humboldt Anfang 1809 an seine Frau, "und von dem, durch den er es hat, pflegt er immer ,mein Kaiser' zu sagen." Tatsächlich redete Goethe vom Kaiser wie von einem persönlichen Schutzherren. Dabei galt seine Verehrung für den französischen Kaiser in erster Linie dem Überwinder der Französischen Revolution und dem Wiederhersteller der staatlichen Ordnung. Die Verbindung Bonapartes mit Habsburg muss, vermutet der Autor, Goethes gegenrevolutionären, dabei eher konservativen und auf Frieden bedachten Einstellung entgegengekommen sein. Schließlich habe sich Napoleon in die alteuropäischen Zusammenhänge eingefügt. Dessen Gewaltsamkeit wiederum hat Goethe mit Nüchternheit zur Kenntnis genommen und als Teil eines Genies verstanden. Anderthalb Jahre vor seinem Tod, als der Dichter noch tief in der Arbeit am "Faust" steckte, erhielt Napoleon sogar einen Ehrenplatz auf dem Stehpult in seinem Arbeitszimmer, wo er sich bis heute behauptet hat.

Goethe selbst war in dieser Zeit von höchster Produktivität: 1810 wurde die "Farbenlehre" fertig. 1809 erschienen die "Wahlverwandtschaften", die ersten Partien der "Wanderjahre" entstanden, ebenso ein Teil von "Dichtung und Wahrheit". Für Seibt ist dieses Werk eine mit den Augen der Gegenwart neu aufgefasste Vergangenheit, das von Anfang an nicht als ein Buch der subjektiven Erinnerung angelegt war, sondern als autobiografische Geschichtsschreibung mit gelehrten Voraussetzungen. Im Grunde, so Seibt, beschreibe "Dichtung und Wahrheit" den Weg vom Deutschen Reich zur deutschen Literatur. Immerhin hatte Deutschland sein Reich längst vor Napoleon verloren und dagegen Goethe eingetauscht. Ferner enthält "Dichtung und Wahrheit" die Mahnung an die Deutschen, ihre Energien nicht auf die falschen, abstrakt patriotischen Ziele zu verschwenden, sondern sich in Besatzung und fremder Hegemonie "in guter Art" zu fügen und sich auf seine eigentlichen Stärken zu besinnen, auf die Kultur im "Einzelnen". Subtiler und reicher sei exemplarische Geschichtsschreibung selten ausgeübt worden als hier, befindet Gustav Seibt und gibt zu, dass Goethes Bonapartismus einen autoritären Zug hat, die Anerkennung einer moralisch indifferent gesehenen Wirklichkeit geht mit dem Brüderlichkeitsgefühl unter großen Bewirkern einher.

Goethe, der ohnehin seit jeher skeptisch gegenüber nationalen Emotionen war, weil er diese für abstrakt und unglaubwürdig hielt, habe eine Realität akzeptiert, die sich nur um den Preis des Selbstbetrugs, eines kindischen Trotzes und fruchtloser Konflikte habe bekämpfen lassen, zum Beispiel mit nationalen Chimären, in denen das Beste des damaligen deutschen Geistes Schaden zu leiden drohte. Goethes Haltung in der gesamten napoleonischen Zeit war demnach Ablehnung einer sich antikisch gebenden, bis zum Feindeshass getrieben Vaterlandsliebe. Mitarbeit, nicht Widerstand, war seine Devise.


Titelbild

Gustav Seibt: Goethe und Napoleon. Eine historische Begegnung.
Verlag C.H.Beck, München 2008.
288 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783406577482

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