Mehr Fragen als Antworten

Guy Deutscher erzählt eine Geschichte der Sprache

Von Ursula HomannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ursula Homann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Erst die Sprache hat uns zu Menschen gemacht. Ohne sie hätten wir nie unseren Aufstieg antreten können, der uns Macht über Tiere und die Natur verleiht, schreibt der 1969 in Tel Aviv geborene und gegenwärtig in Leiden (Niederlande) Linguistik lehrende Sprachforscher Guy Deutscher in seinem Buch "Du Jane, ich Goethe - eine Geschichte der Sprache".

"Die Sprache", so Deutscher, "ist die größte Erfindung der Menschheit - obwohl sie natürlich nie erfunden wurde." Sie wirke so geschickt konstruiert wie das Werk eines meisterlichen Architekten. Wieviel Findigkeit und Sachkunde muss erforderlich gewesen sein, um sie in Gang zu bringen, überlegt der Autor und räumt ein, dass wir nicht genau wissen, wann und wie die Sprache erstmals aufgetaucht und wie ihre komplexe Struktur entstanden ist, scheinbar wie von selbst. Wahrscheinlich begnügte man sich am Anfang mit Rufen, Schreien, Handgesten und Zeichensprache, vermutet der Sprachforscher. Kein Zweifel, die Sprache ist vielfältig und reich. Reicht sie doch vom Seufzer des Überdrusses an der Existenz bis zur Aufdeckung der fundamentalen Ordnung des Universums. Sie enthält sowohl sinnlose Laute als auch eine unendliche Vielfalt subtiler Bedeutungen.

Der Linguist Deutscher führt uns durch die Entfaltungsgeschichte der Sprache, ausgehend von einer frühen vorgeschichtlichen Epoche, als unsere Vorfahren nur über Namen für einige einfache Gegenstände und Handlungen verfügten, bis hin zur Herausbildung sprachlicher Komplexität und Raffinesse.

Wörter mögen die Ziegel des Sprachbaus sein, aber wenn wir subtile Gedanken zum Ausdruck bringen wollen, dann müssen wir die Wörter zu richtigen Sätzen zusammenfügen. Schließlich sei der Sinn eines Satzes mehr als die Summe seiner Wörter.

Im Laufe der Zeit haben wir die Fähigkeit erworben, Brücken aus Gedanken zu bauen, auch wenn die meisten Wörter, die wir verwenden, wie "Tisch", "laufen" oder "Kaninchen" nur von einfacher handfester Wichtigkeit sind.

Der Autor, bestrebt, möglichst viele Geheimnisse der Sprache zu enthüllen, zeigt, wie aus einfachen Lauten komplizierte Grammatiken, enorme Vokabularien und komplexe Bedeutungszusammenhänge von heute wurden. Er beschreibt die enge Verknüpfung von Zerstörung und Kreation im Sprechen und verdeutlich an zahlreichen Beispielen, wie eine Sprache zu komplexen Strukturen heranwachsen und auch wieder zerfallen kann.

Die Sprache ist beständig im Fluss, durch natürliche Kräfte, die sie fortwährend verändern und dies immer noch tun. Das Verlangen nach Ordnung ist dabei sicherlich ein wichtiges Element. Wohin indes steuert die Sprache? Worauf laufen Veränderungen hinaus? Auf Verfall oder Fortschritt? In eine bestimmte Richtung oder bewegt sie sich fortwährend im Kreis herum? Fragen über Fragen stellt Guy Deutscher - und nicht alle kann er schlüssig und plausibel beantworten.

Doch so viel ist sicher: Sprachen haben ihren Aufstieg und ihren Niedergang. Denn auch Kräfte der Zerstörung sind immer am Werk, auf die insbesondere Kritiker und Skeptiker ihr Augenmerk richten. Vor allem wenn es um die deutsche Sprache geht, sind Nörgler mit ihren Argumenten schnell zur Hand, weil sie befürchten, dass die Sprache "entarten" könnte. Kurt Tucholsky beispielsweise glaubte Anfang des vorigen Jahrhunderts sogar, "einen bösen Verfall der deutschen Sprache feststellen" zu können. Karl Kraus klagte über "die Verpestung der deutschen Sprache durch die Tagespresse" und forderte "Strafbestimmungen gegen die öffentliche Unzucht, die mit der deutschen Sprache getrieben wird". Auch Friedrich Nietzsche wetterte über "den Schleim der Zeitungs-Sprache" und deren allgemeine Erschlaffung und Erkrankung sowie über die "grass- und baumlose Wüste des Alltags-Deutsches". Solche und ähnliche Klagen gab es seit jeher, gibt Guy Deutscher zu bedenken, man findet sie auch bei Arthur Schopenhauer und Jacob Grimm.

Heute werden in der deutschen Sprache in erster Linie Anglizismen bekämpft, die zunehmende Zahl der aus dem Englischen stammenden Fremdwörter, die viele Leute, die dieser Sprache nicht mächtig sind, kaum verstehen.

Gleichwohl fällt von außen betrachtet am gegenwärtigen Zustand des Deutschen nichts aus dem Rahmen: weder der Wandel, den unsere Sprache derzeit durchmacht, noch die Heftigkeit der Kritik an diesem Wandel. Wir können also, meint Guy Deutscher, guten Mutes sein und daraus lernen, dass die deutsche Sprache das alles überlebt.

Sind doch die Entwicklungen, die wir in den Sprachen beobachten, von genau der gleichen Art wie die Veränderungen, die alle Sprachen seit Jahrtausenden durchmachen. Im Grunde seien die Kräfte hinter dem heutigen Sprachwandel nicht von denen zu unterscheiden, die in grauer Vorzeit die kunstvollen Strukturen unserer Sprachen überhaupt erst geschaffen haben, und das, was er selbst als Sprachbeobachter treibe, sei auch nicht gerade neu. Mittlerweile ist, nachdem man Ende des 18. Jahrhunderts zwischen den einzelnen Sprachen überraschende Verwandtschaften festgestellt und man ernsthaft mit der wissenschaftlichen Erforschung der Sprache begonnen hatte, die Sprachforschung zu einer regelrechten wissenschaftlichen Disziplin aufgestiegen.

Der Autor weist auf die neuesten Erkenntnisse der Sprachforschung hin und präsentiert bemerkenswerte Theorien und Hypothesen, wie etwa die von August Schleicher (1821-1868) und von Ferdinand de Saussure (1857-1913).

Aber weshalb redet die Menschheit in so vielen verschiedenen Zungen? Auch darüber hat sich Guy den Kopf zerbrochen und weist auf die biblische Geschichte von der Sprachverwirrung zu Babel hin, die wiederum eine Vorahnung von den Exzessen vermittelt, die die Macht der Sprache möglich gemacht haben. Natürlich bedurften Sprachen keines göttlichen Eingreifens, um sich zu vermehren. Sie entwickelten und vervielfachten sich vielmehr ganz von allein. Sprachliche Vielfalt sei eine unmittelbare Folge von geografischer Zerstreuung und der Wandlungstendenz der Sprache.

Daneben äußert sich Deutscher über mutierende und hohle Verben, über wandelbare Wörter, über Metaphern, in denen er nicht nur ein schmückendes Beiwerk aus den Randbezirken der Sprache sieht, untersucht ferner konkrete Sprachstrukturen und fragt nach Regelmäßigkeiten und Unregelmäßigkeiten in der Sprache, nach seltsamen Symbiosen des Ordentlichen und Planlosen anhand vieler kleiner Geschichten und Anekdoten.

Er entwirft seine Geschichte der Sprache geistreich, unterhaltsam und humorvoll, auch wenn manches recht ausgeklügelt wirkt, und Johann Wolfgang Goethe selbst, der im Titel genannt wird, nur zweimal beiläufig vorkommt und keineswegs, wie man zunächst vermuten könnte, zur Erhellung der Sprachentwicklung und Sprachgeschichte beiträgt.


Titelbild

Guy Deutscher: Du Jane, ich Goethe. Eine Geschichte der Sprache.
Verlag C.H.Beck, München 2008.
382 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783406578281

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