Für Eilige

Thomas Glaw zappt durch die Literaturgeschichte

Von Kai KöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Köhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Utopien der letzten beinahe 130 Jahre untersucht Thomas Glaw in seinen "Studien zu Staatsverständnis und Zukunftsvision im deutschen utopischen Roman nach 1871". Dieser Untertitel deutet auf einige der sinnvollen Begrenzungen hin, die der Autor sich auferlegt: Ohne sich auf fragwürdige Diskussionen über einen deutschen Sonderweg einzulassen, beschränkt er sich pragmatisch auf deutschsprachige Werke: denn das Staatsverständnis, auf das utopische Texte sich stets beziehen, hat in jedem Land seine je spezifische Geschichte. Rein theoretische Utopien fehlen - die Konzentration auf die Gattung Roman erlaubt es, die Werke zu vergleichen. Dass der Roman als Ganzes utopisch sein soll, utopische Einsprengsel im Gegenwartsroman dagegen nicht untersucht werden, mag im Einzelfall bedauerlich sein und lässt Glaw wenigstens dann, wenn er pauschal die gesamte DDR-Literatur als nicht-utopisch klassifiziert, zum Opfer der eigenen Definition werden; zumindest die Bücher Irmtraud Morgners erweisen, dass das Einsprengsel zuweilen mehr an utopischer Kraft befördert als der Anspruch, eine in sich geschlossene vorbildliche Welt gestaltet zu haben.

Doch verlangte Glaws Unterfangen Reduktion. Klug ist, dass er bloss technische Zukunftsvorstellungen als Science Fiction von der Utopie abgrenzt, die sich vor allem auf Gesellschaft bezieht. Was die anderen Kriterien angeht, die Glaw zur Bestimmung von Utopie nennt, stören sie seine Darlegungen in erfreulich geringem Maße, denn im Zweifelsfall verwendet er sie flexibel: Dass etwa Utopien den Entstehungsbedingungen, die ein Autor vorfand, "kontrapunktisch entgegengesetzt" sein sollen, schlösse Glaws Beteuerungen entgegen Warnutopien aus, die ja Tendenzen der Gegenwart in die Zukunft fortschreiben; dennoch kommen auch sie vor.

Reale Gesellschaft überhaupt ist ein wichtiger Faktor für Glaws Darlegungen. Entsprechend orientiert sich seine Periodisierung meist an politischen Einschnitten: Seine Arbeit ist in Großkapitel zur Wilhelmischen Zeit, zum Ersten Weltkrieg und der Weimarer Republik, zum Nationalsozialismus, zur Frühzeit der Bundesrepublik und zu den achtziger Jahren gegliedert. Jeder dieser Teile ist mit einem kurzen Abschnitt zum Staatsbild der jeweiligen Epoche eingeleitet, mit dem dann die utopischen Gegenentwürfe konfrontiert sind.

Hier allerdings muss erste Kritik einsetzen. Die Staatsverständnisse erfasst Glaw durchgehend nicht mit ausreichender Präzision; das überrascht auch nicht, wenn man sich vor Augen hält, dass in jeder der Epochen unterschiedliche, sich wandelnde Konzepte einander entgegengesetzt waren und zum Beispiel eine knapp zweiseitige Kritik des Bismarck'schen Obrigkeitsstaats die vielfältigen sozialen Verschiebungen in den gut vierzig Jahren des Kaiserreichs nicht annährend wiedergeben kann.

Wie der Realität, so wird Glaw auch der Literatur kaum gerecht. Seine Arbeit leidet unter dem Versuch, möglichst viele utopische Romane vorzustellen - ungefähr sechzig Bücher sind auf den 160 Seiten des Haupttexts mehr oder minder ausführlich skizziert. Deshalb beschränkt sich Glaw meistens auf eine Inhaltsangabe. Die Literarizität der Romane erscheint fast immer nur als störendes Element: So heißt es etwa zu Theodor Hertzkas "Eine Reise nach Freiland", dass "bewaffnete Konflikte mit den Nachbarn" sowie "eine etwas verwirrende Liebeshandlung" das theoretische Gedankengut entwerteten; Bertha v. Suttners "Das Maschinenzeitalter" sei "stilistisch inkonsistent". Die Liste solcher Mäkeleien ließe sich fast beliebig verlängern. Wie dagegen die literarische Form den utopischen Gehalt befördet, erfährt der Leser nur selten - wie Form den Inhalt prägt, nie. Die Konzentration auf die Gattung Roman wird deshalb nicht produktiv.

Die Darlegung leidet zudem unter dem moralischen Impetus ihres Verfassers. Einleitend benennt Glaw nationalsozialistische Utopien als Besonderheit der deutschen Literaturgeschichte und begründet auch damit, dass er sich auf deutsche Literatur konzentriert. Wo es dann aber um politisch rechte Utopien geht, vermisst Glaw den "Blick auf etwas völlig Neues" und betrachtet kein einzelnes Werk genauer, "da keiner dieser utopischen Entwürfe besondere Aufmerksamkeit, weder inhaltlich noch formal, verdient." Allein schon die zeitweilige Popularität der in ihnen vertretenen Anschauungen rechtfertigte allerdings einen genaueren Blick auf ihren Inhalt und ihre Form. Offenkundig sah man durchaus Neues in ihnen angekündigt - nur ist es eben nicht das Neue, das Glaw sich wünscht. Dass er diese Bücher nicht mag, ehrt ihn, sollte von einer wissenschaftlichen Beschäftigung jedoch nicht abhalten.

An einem ähnlichen Problem leidet das Schlusswort. Zu Recht konstatiert Glaw, dass in der Nachwendezeit Utopien selten sind. Er erklärt dies hauptsächlich mit "unserer grenzenlosen Obsession mit uns selbst". Zuzustimmen ist ihm hier, insofern er nicht die anti-utopischen Verdächtigungen der Totalitarismustheoretiker als Ursache benennt - überhaupt ist ja die Totalitarismustheorie bislang eher ein Steckenpferd mancher Intellektueller an Universitäten und in Redaktionsbüros und vermochte das Denkvermögen größerer Teile der Bevölkerung nicht zu beeinträchtigen. Lebensweltliche Bedingungen, die utopisches Denken verhindern, sind sicherlich einflussreicher. Nun mag ein egozentrischer Individualismus tatsächlich nicht nur Utopien, sondern auch die Gesellschaft überhaupt bedrohen. Doch auch er müsste begriffen und erklärt werden, nicht allein beklagt. Der abschließende Appell, mit "Mut zur Phantasie" weiterhin utopische Romane zu schreiben, wirkt demgegenüber hilflos idealistisch.

Mehrere Details ärgern. Zuweilen fordert Glaw allzu unbekümmert positives Denken und begibt sich damit in politische Gesellschaft, die er zuallerletzt sich wünschen dürfte: "Zum besten dürften hier wohl die Werke Arno Schmidts gehören, prägend bleibt jedoch ihr negativer Inhalt." Sprachlich ist die Arbeit häufig ungenau. Natürlich ist in Zeiten eingesparter Lektorate die Vorstellung eines fehlerfreien wissenschaftlichen Buches fast utopisch - hier aber sind vereinzelt Seiten mit Fehlern übersät, als wären sie versehentlich aus einer unkorrigierten Vorfassung in den Druck geraten.

Verdienstvoll bleibt Glaws Hinweis auf eine Reihe fast vergessener Bücher. Ihre Analyse steht noch aus.

Thomas Glaw: Realität und Utopie. Studien zu Staatsverständnis und Zukunftsvision im deutschen utopischen Roman nach 1871.

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Thomas Glaw: Realität und Utopie. Studien zu Staatsverhältnis und Zukunftsvivion im deutschen utopischen Roman nach 1871.
Herausgegeben von Dietz-Rüdiger Moser.
Universität München, Institut für bayerische Literaturgeschichte, München 1999.
212 Seiten,
ISBN-10: 3980421368

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