"Kein Mann kann wissen, was eine Frau empfindet"

Anatol Regnier hat Frank Wedekinds "Männertragödie" porträtiert

Von Clarissa HöschelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Clarissa Höschel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Geschichte beginnt fast idyllisch in Zürich beim Rosenschneiden, doch ehe man sich's versieht, hat man halb Europa und halb Südamerika durchquert, und ehe man es noch begreift, ist Wedekind geboren, wo gerade vorher noch die Jugendjahre seiner Mutter an einem vorbeigezogen sind. In wenigen kurzen Sätzen entstehen Skizzen, Bilder, Entwürfe - die, aneinandergereiht, ein dreidimensionales, fast lebendiges, sich im Raum bewegendes Bild ergeben - ein Lebensfilm breitet sich vor dem inneren Auge aus, der mit doppelter Geschwindigkeit läuft, wenig Zeit zum Sinnieren und Hinterherträumen lässt, stattdessen vorantreibt, weiterführt, zügig, flott und ohne Pause.

Wer so erzählt, ist Anatol Regnier, Enkel eines Großvaters, dem er nie persönlich begegnet ist. Was er erzählt, ist die berechtigterweise als 'Männertragödie' überschriebene Geschichte eines Mannes, der sich selbst immer wieder den Boden unter den Füßen weggezogen und das Wasser abgegraben hat, der nie glauben konnte, dass Zuwendung ihm galt - und der schlug und tobte, wenn sie ihm nicht galt.

In drei Teile zu je neun Kapiteln ist dieses tragische Leben verpackt; jeder Teil trägt als Überschrift ein Zitat aus Wedekinds Chorus der Elendenkirchweih aus "König Nicolo oder So ist das Leben" (1901). Die Chronologie beginnt bei den Großeltern und reicht im ersten Teil bis zu dem 27jährigen Wedekind, dessen "Frühlings Erwachen" bereits beendet, und dessen Kunstfigur Lulu noch nicht ersonnen ist. Die entsteht im zweiten Teil, der den Junggesellen Wedekind über 14 Jahre hinweg porträtiert. Die letzten 12 Jahre seines Lebens, die er an der Seite seiner Frau Tilly verbringt, werden im dritten und längsten Teil rekonstruiert und enden mit dem skandalösen Begräbnis auf dem Münchner Waldfriedhof.

Das überzeugend gestaltete und von erfahrener Hand lektorierte Buch, das ohne Vor- oder Nachwort auskommt, klingt mit Ausblicken zu Wedekinds Werk und Wirkung und den weiteren Lebenswegen der 50 wichtigsten Personen aus Wedekinds Biografie aus. Eine Zeittafel, die auch die genannten Vorfahren Wedekinds umfasst, über 400 Anmerkungen und ein Personenregister machen die Biografie auch als Nachschlagewerk interessant, wenngleich sich der wissenschaftlich interessierte Leser noch über ein Sachregister gefreut hätte.

Doch sind diese Anmerkungen zweirangig angesichts des schillernd-schaurigen Porträts Wedekinds, der bereits während seiner Aarauer Schulzeit die ersten Texte hervorbringt und dessen Abiturprolog (1884), hundertfach gedruckt, sein erster größerer Publikumserfolg wird.

Als Gerhart Hauptmann sein "Friedensfest" (1890) schreibt, erkennt Wedekind darin seine eigene Familiengeschichte, die er dem jungen Naturalisten selbst anvertraut hatte. Es entsteht seine radikale Gesellschaftsutopie "Eden" - das erste detaillierte Konzept einer gewalttätigen und aller emotionalen Bindungen enthobenen Sexualität. Noch im gleichen Jahr beginnt er seine 'Kindertragödie' "Frühlings Erwachen"; die autobiografischen Bezüge zu seiner Schweizer Schulzeit sind dabei unübersehbar: "Melchior Gabor ist so, wie ich sein wollte, Moritz Stiefel so, wie ich zu sein fürchtete."

In Paris entsteht die Idee zu einer 'Schauertragödie' um die Kunstfigur Lulu; der Beginn eines langen, dabei äußerst mühseligen Arbeitsprozesses um die beiden Dramen "Erdgeist" (1896) und "Die Büchse der Pandora" (1904).

1896 kommt Wedekind nach München und hebt den "Simplicissimus" mit aus der Taufe, der in nur wenigen Monaten zur bedeutendsten Satire-Zeitschrift Deutschlands wird. Während der Münchner Erstaufführung des "Erdgeist" soll Wedekind wegen eines Spottgedichtes auf Kaiser Wilhelm II verhaftet werden; ihm gelingt die Flucht nach Zürich, von dort aus folgt er Oskar Panizza nach Paris. Als er sich schließlich freiwillig stellt, wird er zu sieben Monaten Gefängnis verurteilt; die meiste Zeit davon sitzt er auf Königstein bei Dresden ab, in der Zelle neben sich Thomas Theodor Heine.

1905 lernt Wedekind seine spätere Frau Tilly Newes kennen, eine erfolgreiche Schauspielerin, die zu dieser Zeit schon als Desdemona, Luise Millerin und Ophelia überzeugt hat. Nun spielt sie die Lulu in der Wiener Aufführung der "Büchse der Pandora". Ihrem Heiratswunsch verleiht sie mit einem Sprung in die Spree den nötigen Nachdruck; nach der Hochzeit (1906) wird Tilly bis zu Wedekinds Tod nur noch in seinen Stücken und oft genug auch an seiner Seite auftreten. Und Wedekind wird für den Rest seines Lebens kein größeres Werk mehr verfassen. Dafür schafft "Frühlings Erwachen" dank Max Reinhardt den Durchbruch auf der Bühne und wird zum meistgespielten Stück seiner Zeit.

Wedekind bekommt endlich die Anerkennung, um die er bislang vergeblich gekämpft hat. Mit den Erfolgen seiner Stücke steigt nicht nur sein Selbstwertgefühl als Künstler, auch die Jahre der finanziellen Engpässe sind vorbei. Doch der Erfolg kann Wedekind nur kurzzeitig und punktuell glücklich machen - zu bürgerlich fühlt er sich in seiner kleinen Familie mit Frau und Töchtern (Anna Pamela, geboren 1907 und Fanny Kadidja, geboren 1911). Er hadert mit sich und seiner Situation, entwickelt Ängste und Minderwertigkeitskomplexe gegenüber der mehr als 20 Jahre jüngeren Frau und gängelt und dominiert sie gerade deshalb. Das Zusammenleben gestaltet sich schwierig. Immer öfter kommt es zu Szenen, Auseinandersetzungen, gegenseitigen Kränkungen, verletzenden Briefen, bis Wedekind eines Tages die Trennung will. Tilly Antwort ist wieder eine suizidähnliche Kurzschlussreaktion, die in einer Nervenklinik ein glimpfliches Ende findet. Das Paar bleibt letztendlich zusammen. Dies aber vor allem deshalb, weil Wedekind nach einer Bauchoperation Ende 1914 nicht mehr zur alten Form zurückfindet, sondern nach vier weiteren Operationen im März 1918 stirbt. Da ist er erst 53 Jahre alt; seiner Frau Tilly stehen zu diesem Zeitpunkt noch fast ebenso viele Lebensjahre bevor.

Was an dieser Lebensgeschichte erschüttert, ist die in alle Bereiche hineinreichende autodestruktive Energie, die vor allem in den persönlichen Aufzeichnungen immer wieder hervorblitzt. Solche sind in diese Lebensbeschreibung vielfach eingeflossen - Wedekinds Agenden und Notizbücher, weitere Dokumente aus einem Nachlass, einem Privatarchiv und sonstiges Material aus Recherchen in Forschungsstellen und Bibliotheken in Darmstadt, Aarau und München. Die Diskrepanz zwischen bewusster Auseinandersetzung und unbewusstem Ausagieren der eigenen Konflikte wird deutlich, wenn Aufzeichnungen und Werke gegenübergestellt werden: "In seinen Tagebüchern scheint sich Wedekind von außen zu betrachten, sich selbst zu ironisieren. In seinen dichterischen Texten steigt er hinab in die Tiefen und Abgründe seines Wesens und zeigt sich in geradezu zwanghafter, vielleicht auch übertriebener Ehrlichkeit nackt." Diese Nacktheit - das unverhüllt-offensive Präsentieren des eigenen Innenlebens - führt immer wieder zu verblüffend konkreten Bezügen zwischen Leben und Werk. Zwar tut sich gerade damit die durch den ausufernden Biografismus des 19. Jahrhunderts geläuterte Literaturwissenschaft etwas schwer, doch wertvolle Hilfestellungen zum alles andere als konsolidierten Werkverständnis sind sie allemal.

"Kein Mann kann wissen, was eine Frau empfindet." Dieser oft überlieferte Ausspruch Wedekinds steht in einem diametralen Gegensatz zu seiner Obsession, Frauen verstehen zu wollen, sie einordnen und katalogisieren zu können, und beschreibt seine hilflos-rationale Auseinandersetzung mit denen, denen er sich emotional unterlegen fühlt. Erstaunlich präzise analysiert Wedekind in diesem Kontext auch den Zusammenhang zwischen Prostitution und männlichen Ängsten - geholfen hat es ihm selbst allerdings nicht.


Titelbild

Anatol Regnier: Frank Wedekind. Eine Männertragödie.
Knaus Verlag, München 2008.
460 Seiten, 22,95 EUR.
ISBN-13: 9783813502558

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