Zwischen Didaktik und Rätsel

Unter dem Titel "Kurve und Gerade" sind Erzählungen von Yi Yun-Gi erschienen

Von Kai KöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Köhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Einer bekommt von seinem verehrten, früheren Lehrer eine wichtige Lektion erteilt. Ein zweiter trifft nach vielen Jahren seinen Schulfreund, der in den USA promoviert hat, wieder: Statt des Stotterers, der panische Angst vor jedem öffentlichen Auftritt hatte, steigt ein fast schon zu selbstbewusster Mann aus dem Flugzeug und zeigt binnen kurzer Zeit dem in Korea Gebliebenen, wie wenig der ihn schon früher kannte. Ein dritter muss die Eltern eines Jugendfreunds besuchen und in der Lügenwelt mitspielen, in der dem Vater der Tod eines seiner Söhne verborgen wird. Ein vierter schließlich tritt kurz nach dem Tod seiner Mutter als Reporter eine Reise in die koreanische Inselwelt an, um über das einsame Leben von Leuchtturmwärtern zu berichten. Auf einer dieser Inseln, die sexualmetaphorisch vielleicht etwas zu aufdringlich vorgestellt wird, trifft er eine Frau und lernt - ja was eigentlich?

Es sind Ich-Erzähler, aus deren Perspektive Yi Yun-Gi in den meisten und gewichtigsten der im Band "Kurve und Gerade" versammelten Texte die Welt vorstellt. Stets handelt es sich um nicht mehr ganz junge Männer, um Reporter oder Wissenschaftler, denen eine große Karriere nicht gelungen ist und die eine solche auch wohl nie erwartet oder auch nur erhofft haben. Sie haben einen durchaus beschränkten Blick auf die Welt, mit gesundem Menschenverstand und vernünftigen Ansichten, die aber nicht über das Durchschnittliche hinausgehen.

Das ist einerseits der Trick des Autors: Seine gar nicht heldenhaften Helden können sich so durch die Welt bewegen und von anderen Männern (Frauen kommen meist nur am Rande vor) gezeigt bekommen, wo ihre Blindstellen sind. Und wo sie etwas lernen, überhöhen sie es nicht ins Begriffliche, sondern geben es so wieder, wie sie es erfahren haben. Andererseits verdammt die eingegrenzte Figurenperspektive Autor und Leser zu einer sowohl gedanklich als auch sprachlich eingegrenzten Welt: Im Ganz- wie im Halbbegriffenen herrscht eine gewisse Simplizität, die ihren je verschiedenen Stellenwert hat.

Ganz platt ist ausgerechnet die Titelerzählung, in der der Ich-Erzähler zu lernen haben soll, dass auch ein abstoßender Mensch seine Qualitäten habe und er mit aller seiner Kritik im Unrecht war: vorgeblich ein Plädoyer für Toleranz, tatsächlich aber die Forderung, noch den größten Blödmännern unbegrenzt Kredit zu gewähren. Sehr viel geschickter ist das Problem, den Erzähler fragwürdig werden zu lassen, in "Der Fliegenträger" gelöst. Hier spielt Yi gekonnt mit verschiedenen Zeitebenen und behält die unerwartete Überlegenheit des promoviert zurückgekehrten Schulfreunds in der wiederum überraschenden Schlusswendung einen Grad an Fragwürdigkeit, der ein Gleichgewicht herstellt. Wenn im dritten Beispiel der belogene Vater des Toten andeutet, dass er die Wahrheit schon kennt, und das Schauspiel dennoch fortdauert, ist die Problematik vielleicht doch humanen Verschweigens angedeutet und nicht aufgelöst.

Die Spannung zwischen Lehre und Frage geht verloren in "Ein Haus ohne Zaun und Mauern", jener Erzählung, die nach dem allzu didaktischen Auftakt den Band beschließt. Es bleibt nur das Rätsel, was der Erzähler auf einer kleinen Insel mit einem ihn an eine Vagina erinnernden Rinnsaal, das in eine Bucht zwischen zwei mit Frauenbeinen verglichenen Landzungen mündet, und einem phallisch aufragenden Leuchtturm, in dem der Vater der Inselfrau regiert, begriffen haben mag. Dass eine solche Wahrnehmung der Landschaft weniger kühn als verklemmt erscheint, mag zur Perspektive des Erzählers passen, der als über Dreißigjähriger bis zum Tod seiner Mutter auf sie fixiert blieb; es ergibt dann aber, trotz oder wegen expliziter Anspielungen auf Georges Bataille, einen letztlich verklemmten Text.

Der Aufbau zeigt Parallelen, von der konservativen Didaktik über die klugen Infragestellungen bis zum Lob der vage erträumten Geschlechtlichkeit: Eine Einleitung exponiert Motive, die unbegriffen sein müssen, bis sie im Verlauf allmählich verdeutlicht werden und in einer Schlusspassage ihren Ort finden. Die wörtliche Rede dominiert, und damit eine einfache Sprache: Sogar die Körperlichkeit der zweigeschlechtlichen Insel ist im Dialog mit einem Inspektor der Küstenwache erörtert. Das führt zu einer sprachlichen Einfachheit, die uneingelöster dichterischer Prätention allemal vorzuziehen ist. Die wörtliche Rede, die dominiert, in lebendiger Weise wiederzugeben ist den Übersetzern Matthias Augustin und Kyunghee Park gelungen.

Es handelt sich um teils lesenswerte Erzählungen, aber um keine Meisterwerke. Das gilt auch für die hier nicht genannten Texte, deren wichtigster, "Enten und Menschen", autoritäre Strukturen beim Militär mit einem brutalen Mord im Tierreich parallelisiert, ohne eine eindeutige Antwort zu geben. Äußerst interessant sind sie durch die Einblicke in die koreanische Lebenswelt, die sie ermöglichen: das durch Formalitäten geregelte Nebeneinander, das die Individuen dann doch isoliert.

Die Ausgabe lässt einige Fragen offen: Handelt es sich um eine Zusammenstellung von Erzählungen, die der 1947 geborene Autor irgendwann so veröffentlicht hat? Oder liegt eine Auswahl der Übersetzer vor, mit Texten ganz verschiedenen Entstehungsdatums? Und wenn Letzteres der Fall sein sollte: Dokumentiert der Band einen Entwicklungsprozess vom Belehrenden zum Offenen, oder sind die Erzählungen nach anderen Gesichtspunkten angeordnet? Ein Nachwort, wie bei den für Literatur aus Korea seit längerem etablierten Verlagen Pendragon und Edition Peperkorn üblich, wäre auch hier hilfreich gewesen. So aber tappt der Leser im Dunklen wie die Erzähler, die ihre vorgeblich Nächsten doch nicht verstehen.


Titelbild

Yun-Gi Yi: Kurve und Gerade. Erzählungen.
Übersetzt aus dem dem Koreanischen von Kyunghee Park.
Wallstein Verlag, Göttingen 2008.
223 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783835302419

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