Mit Utopien gegen perfekte Gesellschaften und ganzheitliche Paradiesideale

Ein Tagungsband utopischer Perspektiven

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Auch HistorikerInnen blicken gern hoffnungsvoll in die Zukunft. Im Spätsommer 1997 veranstalteten das "Zentrum zur Erforschung der frühen Neuzeit" der Universität Frankfurt und die "Arbeitsgemeinschaft Frauenforschung" der Universität Bonn im sicher malerischen Salecina eine Tagung zum Thema "Utopische Projekte und Perspektiven". Die Ergebnisse liegen nun in Form eines Sammelbandes vor. Zwar werden in einzelnen Beiträgen die Utopie-Kritiken Marx' und Nietzsches (Roberto Nigro) sowie Francis Bacons "Neu-Atlantis" (Astrid Wilkens) thematisiert, oder es werden auf der Grundlage von Fredric Jamesons "Postmodernism" Überlegungen zu einer ebenso "nötigen" wie "plausiblen" Alternative zu den derzeit "gängigen poststrukturalistischen und dekonstruktivistischen Ideen" angestellt (Staci von Boeckmann). Doch gemäß den ausrichtenden Institutionen der Tagung nehmen die meisten Beiträge feministische Utopien in den Blick.

Den Schnittpunkt zwischen früher Neuzeit und feministischer Utopie bildet der Aufsatz von Anette Kuhn, der sich Christine de Pizans "Buch von der Stadt der Frauen" (1405) widmet. Pizans Werk ist, so die Autorin, nicht nur von historischem Interesse, sondern ermöglicht ein "realutopisches Denken in der Moderne aus einer feministischen Perspektive". Auch noch zur Zeit der Millenniumswende könne ihr Buch "vergessene Spuren einer christlich-humanistischen Utopie" aufdecken, die den Weg in eine "humanere Zukunft" zu zeigen vermöge. Vermutlich überschätzt Anette Kuhn die aktuelle Wirkungsmächtigkeit der "Stadt der Frauen". Doch ist erfreulich, dass neben Bettina Roß eine weitere Autorin dazu beiträgt, dass Christine de Pizans von Utopie-ForscherInnen zu unrecht weitgehend vergessenes Werk wieder etwas mehr Aufmerksamkeit genießt.

Anders als Anette Kuhn, die sich mit Christine de Pizan der Mutter feministischer Utopieproduktion widmet, beschäftigen sich zwei weitere Autorinnen, Martina Mittag sowie die Mitherausgeberin Birgit Marx, in einem der aufschlussreichsten Beiträge des Bandes mit gegenwärtigen Entwürfen feministischer Utopien. Derzeit, so stellen sie lapidar und zutreffend fest, stehen "Frauen an der Spitze der literarischen Utopieproduktion". Dies habe seinen Grund darin, dass gerade Frauen unter den "zunehmend unerträglicher" empfundenen patriarchalen Gesellschaftsstrukturen und der alltäglichen Anmache misogyner Machos leiden. Feministische Utopien, die "die Dystopie mitdenken oder sogar in dieser angesiedelt" sind, weisen in literarisierter Form "Auswege und Alternativen" auf. Im Unterschied zur typisch 'männlichen' Utopie wird meist nicht das Telos des vollkommenen und somit geschichtslosen Staates propagiert, sondern werden "neue Lebensformen imaginiert", die durch das "Aufbrechen traditioneller Binarismen" ermöglicht werden sollen. Unter diesen Vorzeichen untersuchen die Autorinnen Monique Wittigs "Verschwörung der Balkis" (1980) und Marge Pierces "Body of Glass" (1991). Schon Wittigs inzwischen nicht mehr ganz so neues Werk problematisiert die hierarchisierten Bipolaritäten nicht nur der Geschlechterdifferenz und entwirft ansatzweise ein Geschlecht "jenseits der bisher gelebten Binarismen". Hierum geht es auch in Piercys "Body of Glas", einer Cyborg-Utopie, die dem "Manifesto for Cyborgs" von Donna Haraway viel zu verdanken hat. Überhaupt besteht ein enges intertextuelles Verhältnis zwischen der literarischen utopischen Produktion von Feministinnen und der "Neuerfindung der Natur" Donna Haraways, die ihrerseits wiederholt auf Octavia Butlers Romane "Surviver" (1978) und "Dawn" (1987) Bezug nimmt. Ebenso wie in Donna Haraways "Manifesto" verschwimmen in den Romanen von Piercy die Grenzen zwischen organischem und anorganischem 'Leben', auch richtet sie sich gleichfalls gegen "perfekte Gesellschaften und ganzheitliche Paradiesideale", wie sie, so Marx und Mittag, Ökofeminismus, Marxismus und Psychoanalyse geprägt haben. Für die Psychoanalyse muss man diese Behauptung allerdings mit einem großen Fragezeichen versehen.

Ihrem grundlegenden Statement, dass es "heute weniger denn je um statische, ideale Gesellschaften" gehe, sondern vielmehr um ein "prozessuales Verständnis utopischer Entwürfe überhaupt", möchte man hingegen ebenso wenig die Zustimmung verweigern, wie der programmatischen Bemerkung im Vorwort, "daß die beste aller Welten nicht erreicht, sondern durch tätiges Verhalten von Menschen gestaltet werden" könne. Wenngleich auch sie bei näherer Überlegung vielleicht doch noch allzu hoffnungsfroh klingt.

Titelbild

Gisela Engel / Birgit Marx: Utopische Perspektiven.
Röll Verlag, Dettelbach 1999.
203 Seiten, 0,00 EUR.
ISBN-10: 389754122X

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