Mentor, Moderator, Manager

Zum 100. Geburtstag des Schriftstellers Hans Werner Richter - des Gründers und Leiters der Gruppe 47

Von Peter MohrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Mohr

Hans Werner Richter hat für die deutschsprachige Nachkriegsliteratur erheblich mehr geleistet als an der Summe (und der Qualität) seiner Bücher abzulesen ist. Als Gründer und langjähriger "spiritus rector" der legendären Gruppe 47 hat er vielen jungen Autoren in den 1950er-Jahren eine erste öffentliche Plattform geboten. So unterschiedliche literarische Charaktere wie Ilse Aichinger, Ingeborg Bachmann, Heinrich Böll, Günter Grass, Hans-Magnus Enzensberger, Uwe Johnson, Siegfried Lenz und Martin Walser machten auf den Gruppentagungen ihre ersten öffentlichen "literarischen Gehversuche" und fanden in Hans-Werner Richter einen väterlichen Mentor. Zwanzig Jahre lang führte Richter die Gruppe, die keine Satzung und keine feste Mitgliedschaft kannte, als unumstrittene Autorität. Er bemerkte einmal zu seiner Funktion in dieser Gruppe: "Das einzige Mitglied war ich, und das Wichtigste war meine Adresskartei."

Hans Werner Richter, der am 12. November 1908 als Sohn eines Fischers in Neu Sallenthin auf der pommerschen Insel Usedom geboren wurde, arbeitete nach dem Besuch der Volksschule in jungen Jahren zunächst als Gemeindediener, Matrose und Buchhändler. Erst in der amerikanischen Kriegsgefangenschaft kam Richter 1943 mit der Literatur in Berührung, und gemeinsam mit Alfred Andersch fasste er den Plan, eine antifaschistische Zeitschrift ins Leben zu rufen. "Der Ruf" brachte es bis zu seinem Verbot im Jahr 1947 durch die Besatzungsmächte auf stattliche 100.000 Abonnenten. Auch das Nachfolgeprojekt "Skorpion" scheiterte bereits nach der erste Ausgabe am Veto der "Besatzer". Richter machte aus der Not eine Tugend und fasste den Entschluss, die Autoren des "Skorpions" einzuladen, um sich gegenseitig Texte vorzulesen. Diese erste Einladung nach Füssen, der die meisten Autoren bereitwillig Folge leisteten, war die Geburtsstunde der legendären "Gruppe 47", die zwei Jahrzehnte die bundesdeutsche Literaturszene nachhaltig beeinflusste. Wer etwas auf sich hielt, der schielte danach, von Richter eine Einladungs-Postkarte zu erhalten.

"Niemand kann sich vorstellen, dass jemand die Literatur im Auge hat, nicht den Literaturbetrieb. Ich kann es, weil ich Dir begegnet bin", schrieb Alfred Andersch über seinen Freund Richter. Woran ist die Gruppe 47 gescheitert? Diese Frage beschäftigt heute mittlerweile die Literaturhistoriker. Ganz sicher war es nicht nur die Tatsache, dass die für 1968 in Prag geplante Zusammenkunft wegen des Einmarschs der sowjetischen Truppen ausfallen musste. Schon viel früher war eine gewisse "Gruppen-Müdigkeit" festzustellen, die nicht zuletzt aus Richters ausgeprägtem Harmoniebedürfnis und aus seiner Angst, sich Feinde zu machen, resultierte. Außerdem hatten "Fremdlinge" bereits 1953 durch Richter Zutritt zum Literaturzirkel erhalten - die Kritiker. Der erste Vertreter dieser Zunft war der damals gerade 25-jährige Joachim Kaiser und es folgten ihm im Laufe der Jahre all die, die zum Albtraum für manche Autoren wurden: Hans Mayer, Fritz J. Raddatz und Marcel Reich-Ranicki. Die Jahrestreffen der Gruppe 47 entwickelten sich in immer stärkerem Maße zu einer Art "Literaturbörse", bei der Verleger und Lektoren gewinnversprechende Talente sichten wollten. Presse, Rundfunk und Fernsehen berichteten alsbald regelmäßig über die Tagungen.

Kontraproduktiv für die Gruppen-Harmonie war überdies der in den 1960er-Jahren ausgetragene Generationskonflikt zwischen den Vertretern der "Kriegsgeneration" (die mit ihrer Literatur auch politisch-pädagogisch wirken wollten) und der nachrückenden jüngeren Generation (für die Peter Handke stellvertretend genannt sei). Der Umgangston verschärfte bei den Tagungen wurde zunehmend rüder. Eine gravierende Zäsur gab es, als Peter Handke 1966 in Princeton (USA) die "Beschreibungsliteratur" von Böll, Andersch und Lenz heftig attackierte. "Die konnten nicht einmal mehr mit uns trinken, das war eine ganz andere Welt", klagte Richter nicht zuletzt über die Entpolitisierung der nachrückenden Generation. Auf Initiative von Günter Grass fand nach über 20-jähriger Pause 1990 die allerletzte Tagung der Gruppe 47 statt.

Richters Erfahrungen mit der Gruppe 47 sind 1986 in Buchform unter dem Titel "Im Etablissement der Schmetterlinge" erschienen. Wie viele Autoren seiner Generation hat sich Richter selbst literarisch zunächst der Aufarbeitung der Kriegsgefangenschaft gewidmet - so in seinem weitgehend autobiografischen Tagebuch "Die Geschlagenen" (1949) und im 1951 erschienenen Roman "Sie fielen aus Gottes Hand", seinem literarisch wertvollsten Werk. Darin ist die Handlung in zwölf Erzählstränge aufgeteilt. Zusammengeführt werden die zwölf Protagonisten aus zwölf Ländern in einem Kriegsgefangenenlager. Zwölf Einzelschicksale hat Richter hier eindrucksvoll vereint.

Insgesamt zwölf Romane (alle samt aus der Perspektive des "kleinen Mannes" geschrieben) hat Richter, der 1979 mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet wurde, verfasst. Als uneigennütziger Förderer der Literatur, als loyaler Freund der Autoren, Gastgeber und Manager (Richter hätte dieses Wort nicht gern gehört!) der Gruppe 47 hat sich Richter, der am 23. März 1993 in München gestorben ist, verdient gemacht und sich so einen festen Platz in der deutschen Nachkriegsliteratur erworben.

Das ehemalige Feuerwehrhaus in Bansin auf Usedom, in dem der Autor seine Kindheit verbrachte, ist zur Gedenkstätte, zum so genannten Hans-Werner-Richter-Haus umfunktioniert worden. Im Parterre ist dort Richters letztes Münchener Arbeitszimmer rekonstruiert worden - mit einem schlichten Schreibtisch und einer betagten "Olympia"-Schreibmaschine.