Ist doch Phraseo-logisch!

Die dritte Auflage von Harald Burgers Einführung in die Phraseologie ist da

Von Nils BernsteinRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nils Bernstein

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nur bedingt ließe sich die Behauptung aufrechterhalten, die Phraseologie friste ein Schattendasein als Stiefkind der Linguistik. Phraseologie beschäftigt sich mit festen Mehrwortverbindungen, die teilweise eine semantische Transformation erfahren haben, welche man Idiomatizität nennt (zum Beispiel "jmdn. auf die Palme bringen", "das fünfte Rad am Wagen sein" oder auch Routineformeln wie "meine Damen und Herren"). Institutionell konnte diese Forschungsdisziplin sich mit der Gründung der Europäischen Gesellschaft für Phraseologie (EUROPHRAS) 1999 konsolidieren. Wurde sie noch in der renommierten Reihe der Handbücher für Sprach- und Kommunikationswissenschaft im Band 21 als Teilbereich der Lexikologie behandelt, liegt seit 2007 das von einem Redaktionsteam um Harald Burger herausgegebene zweibändige Mammutwerk, der Band 28.1 und 28.2, in der selben Reihe vor, das sich ausschließlich der Phraseologie widmet. Und Studierende, die sich in einem Seminar mit dem Forschungsbereich auseinander setzen, können sich aus drei Einführungen in die Phraseologie eine auswählen.

Zunächst gäbe es die von Wolfgang Fleischer, 1997 in der zweiten Auflage erschienen, in der er eine Klassifizierung nach syntaktischen Kriterien vornimmt und deren Definitionen manchmal nicht allzu handlich daher kommen, was die Benutzerfreundlichkeit bisweilen schmälert. Sehr viel lesefreundlicher ist die ebenso 1997 zum zweiten Mal aufgelegte Einführung von Christine Palm, die - ebenso wie Burgers Buch - mit zahlreichen Phraseologismen aus der Literatur etwa aus Franz Kafkas "Das Urteil" oder aus Christian Morgensterns "Palmström" aufwartet und den interpretatorischen Zugewinn einer an Phraseologie orientierten literaturwissenschaftlichen Analyse veranschaulichen kann. Und nun gibt es die aktuellste, 2007 in der dritten Auflage erschienene Ausgabe von Harald Burgers Einführung.

Der Emeritus der Universität Zürich hat sich bereits seit den Anfängen einer in der westeuropäischen Linguistik sich abzeichnenden Phraseologieforschung in den 1970er-Jahren diesem Forschungsbereich verschrieben. So ist es auch keineswegs verwunderlich, dass er in seiner neuesten Auflage der Einführung noch an einer Definition festhält, die er bereits 1982 in dem wirkungsmächtigen "Handbuch der Phraseologie" vorgelegt hat. Er zitiert diese Definition daher in der aktuellen Einführung: "Phraseologisch ist eine Verbindung von zwei oder mehr Wörtern dann, wenn (1) die Wörter eine durch die syntaktischen und semantischen Regularitäten der Verknüpfung nicht voll erklärbare Einheit bilden, und wenn (2) die Wortverbindung in der Sprachgemeinschaft, ähnlich wie ein Lexem, gebräuchlich ist." In dieser Definition sind bereits die drei zentralen Eigenschaften von Phraseologismen genannt: (1) Polylexikalität, (2) Festigkeit und (3) Idiomatizität. Im ersten Kapitel der Einführung, die insgesamt in neun Kapitel unterteilt ist, legt Burger diese drei Eigenschaften dar und erläutert sie genauer.

Ein Phraseologismus muss also (1) aus mehreren Wörtern bestehen und ist (2) syntaktischen Restriktionen unterlegen, die eine Kommutation oder Permutation unmöglich machen (etwas kann "klipp und klar" sein, nicht aber "klar und klipp" oder "klipp und einleuchtend"). Und hinzu kommt der Terminus der (3) Idiomatizität, den man zumindest unter dem Lemma ,Idiom' in zahlreichen Nachschlagewerken findet, wohingegen man ,Phraseologismus' etwa bei Hadumod Bußmanns sehr bekanntem "Lexikon der Sprachwissenschaft" auch in der neuesten Auflage noch vergeblich sucht. Mit Idiomatizität bezeichnet man den semantischen Mehrwert oder die übertragene Bedeutung von Phraseologismen, was bedeutet, dass die Summe der Einzelkomponenten stets mehr oder etwas anderes bedeutet als die einzelnen freien Lexeme. Die Gesamtbedeutung des Phraseologismus kann also nicht aus der Bedeutung der einzelnen Komponente hergeleitet werden. Dies macht Phraseologismen auch für den Deutsch als Fremdsprache-Unterricht besonders interessant: Lernende, die jedes einzelne Wort der Wendung "jmdn. auf die Palme bringen" kennen, werden damit nicht sofort die übertragene Bedeutung ,jmdn. wütend machen' assoziieren können, zudem es auch bei Phraseologismen die berüchtigten falschen Freunde gibt. Im Spanischen bedeutet "ser la quinta rueda del coche" nicht etwa "das fünfte Rad am Wagen sein", sondern ,ein Taugenichts sein'.

Nachdem diese drei Eigenschaften anhand von zahlreichen Beispielen und mit der notwendigen Terminologie, ohne sich darin zu verirren, anschaulich dargelegt wurden, widmet sich Burger im anschließenden Kapitel der Klassifikation sowie den Randphänomenen der Phraseologie. Nach einer syntaktischen Klassifikation unterscheidet man verbale ("jmdm. einen Bären aufbinden"), nominale ("der Stein des Anstoßes"), attributive ("unter der Hand") und adjektivische ("schief gewickelt") Phraseologismen. Ins Randgebiet der Phraseologie fallen dann etwa Zwillingsformeln ("klipp und klar", "gang und gäbe") geflügelte Worte (etwa "to be or not to be"), also landläufige Zitate, deren Ursprünge wir noch kennen sowie Autorphraseologismen. Letztere veranschaulicht Burger anhand eines Beispiels aus Thomas Manns "Die Buddenbrooks": Zwischen Tony Buddenbrook und Morten entsteht die nur im Roman und dort nur unter diesen beiden verständliche Wendung "auf den Steinen sitzen" mit der Bedeutung ,jmdn. Versetzen'.

Natürlich gibt es auch Autorphraseologismen, die in einem Roman in einem bestimmten Kontext verwendet und erklärt werden und sich dann zu geflügelten Worten entwickeln. Theodor Fontanes Formulierung "ein weites Feld" aus "Effi Briest" wäre dafür ein Beispiel, da es aus dem individuumsgebundenen Sprachsystem des alten Briest in unser allgemeines Sprachsystem eingegangen ist und der Entstehungszusammenhang, hoffentlich, den meisten heute noch klar ist. Auch Sprichwörter gehören in den Randbereich der Phraseologie - Fleischer schließt sie in seiner Einführung rigoros aus. Burger widmet ihnen aufgrund ihres Sonderstatus ein eigenes Kapitel und räumt damit der Sprichwörterforschung, der Parömiologie, den ihr gebührenden Platz ein.

Sehr umfangreich und überzeugend ist das Doppelkapitel zur Semantik. Hier wie auch in den übrigen Kapiteln legt Burger zunächst gerafft den Forschungsstand dar, kritisiert anschließend einige Herangehensweisen und bildet eine plausible Synthese. Erfrischend wirkt dabei, dass er sich der im deutschsprachigen wissenschaftlichen Diskurs so geschmähten ersten Person bedient und somit einerseits zwar die subjektive Färbung zu erkennen gibt, dies andererseits aber auch sofort markiert ist und die Vorschläge auf den Leser orientierend wirken. Im Semantik-Kapitel löst er dadurch beispielsweise die begriffliche Verwirrung um Bildhaftigkeit, Bildlichkeit und Bildkräftigkeit auf und zählt die Eigenschaften auf, die ein idiomatisches Bild charakterisieren. Insgesamt wird dadurch die Leserfreundlichkeit entschieden erhöht.

Zwischen erster (1998) und zweiter Auflage (2003) war kaum ein Unterschied bemerkbar und auch in der dritten Auflage fällt eine Überarbeitung nicht stark ins Gewicht. Der Seitenumfang ist gegenüber der zweiten Auflage um 16 Seiten gewachsen, vor allem das sehr kritische Kapitel zu Phraseographie, zu Phraseologismen im Wörterbuch, wurde aktualisiert und ergänzt. Ebenso die Literaturliste hat an Umfang zugenommen. Wer nun aber bereits eine der älteren Auflagen besitzt, kann von einer Neuanschaffung absehen. Für das Zitieren in wissenschaftlichen Arbeiten hingegen sollte natürlich die aktuellste Auflage herangezogen werden.

Gäbe es einmal ein Lexikon zum "Who is Who in Phraseology", Harald Burger müsste dort an prominenter Stelle stehen. Nicht nur weil ihm sein Familienname eine Vorrangstellung im Alphabet einräumt, sondern weil er sich selbst um diese Vorrangstellung in der Phraseologie bemüht gemacht hat, sowohl was deren Vermittlung an Studierende anbetrifft als auch deren sprachwissenschaftlicher Weiterentwicklung von Forschungsansätzen. Daher ist es auch durchaus konsequent, dass der emeritierte Professor für germanische Philologie seit der letzten Tagung der EUROPHRAS in Helsinki im August 2008 zum Ehrenpräsident der Gesellschaft ernannt wurde.


Titelbild

Harald Burger: Phraseologie. Eine Einführung am Beispiel des Deutschen.
Erich Schmidt Verlag, Berlin 2007.
240 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783503098125

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