Terrorismus gegen die Elite

Susan Chois Roman "Reue" über das Thema des Schuldigsprechens und die Gewalt einer Rhetorik des Verdachts

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was Spannung ist, hat Alfred Hitchcock einmal am Beispiel einer Bombe erklärt: Explodiert sie im Lauf der Handlung plötzlich, wird das Publikum nur überrascht. Weiß es aber schon vorher von ihrer Existenz, muss es um das Leben der Figuren bangen, wird also bis zur Explosion auf die Folter gespannt.

So gesehen, wird bei Susan Choi der Leser nicht einmal überrascht. Die amerikanische Autorin lässt die (Paket-)Bombe in ihrem Roman "Reue" schon im ersten Satz hochgehen. Macht aber nichts: Ihr 500-Seiten-Buch hat dennoch seine Spannungsmomente. Und das, obwohl selbst die Frage nach der Identität des Attentäters eher zweitrangig ist. Der verschickt seine Sprengsätze an Mathematiker und Programmierer im ganzen Land wie einst der "Una-Bomber" Theodore Kaczynski, nach dessen Vorbild Choi ihren "Elite-Killer" gestaltet hat. Doch "Reue" ist kein Thriller, mag auch der actiongeladene Schluss in Hollywoodfahrwassern schippern. Sondern das psychologisch subtile Porträt eines Menschen, der ganz zu Unrecht verdächtigt wird - und der dennoch schuldig ist.

Die eingangs detonierende Bombe findet zwei Opfer, beides Mathematikprofessoren an einem bedeutungslosen College irgendwo im Mittleren Westen der USA. Ihr Adressat ist Hendley, ein aufstrebender, allseits beliebter, junger Wissenschaftler; er stirbt wenige Tage nach der Explosion. Das zweite Opfer ist Lee, Chois Hauptfigur: ein einsamer, verbitterter alter Mann asiatischer Herkunft, der die Explosion in seinem benachbarten Büro überlebt; äußerlich unverletzt, aber innerlich bis ins Mark getroffen. War doch sein einziger Gedanke, als ihn die Wucht der Explosion zu Boden warf, ein jäher Ausdruck der Genugtuung über das Ende des von ihm verachteten (und beneideten) Kollegen: "Ah, wie gut."

Dass Lee danach rasch die Kontrolle über sein Leben verliert, liegt nicht nur am Schock über die jähe Einsicht in die eigenen Abgründe. Sondern auch an einem Brief, den er nach dem Anschlag erhält. Dieser ist von einem ehemaligen Studienfreund, Lewis Gaither, einem Evangelikalen, dem Lee einst die (inzwischen verstorbene) Frau, Aileen, ausgespannt hat. Nach Jahrzehnten öffnet sich ihm so ein Tor zu seiner Vergangenheit, und in den Erinnerungsschüben des Helden enthüllt sich dem Leser die Tragödie von Lees gescheiterter Ehe, seiner eigentlichen Lebensschuld.

Kein Wunder also, dass es ihm nicht gelingt, in den Tagen nach dem Attentat den Erwartungen der Öffentlichkeit zu entsprechen. Dieser Mann hat einfach zu viel mit sich selbst zu tun, als dass er sich im Stande fühlte, so zu trauern, wie es in der von kollektiven Ritualen beherrschten amerikanischen Gesellschaft erwartet wird - ohne zu bedenken, dass gerade das ihn verdächtig werden lässt.

"Sein Verbrechen war", heißt es im Roman, "dass er nicht den äußeren Schein wahrte, obwohl er die Masken, die er hätte anlegen sollen, sogar kannte; er hätte zur Trauerfeier gehen und ein paar Tränen vergießen sollen." Das "collegeweite Programm der Trauerbewältigungsarbeit" mit eilig herbeigerufenen Trauerberatern - die eine wohlbemessene Zeit später überall Plakate mit der Aufschrift "Normalsein erlaubt" aufhängen - hält er für "scheinheilig und selbstgefällig".

Lee, dessen lautstarken Auseinandersetzungen mit Hendley offenbar jedem an der Uni, nur nicht ihm selbst, noch in den Ohren dröhnen, wird bald schon von den Kollegen geschnitten, das FBI beginnt sich für ihn zu interessieren - und bald auch die Medien. Am Ende muss der Mann, der nichts so sehr fürchtet, als dass das Elend seines tristen Privatlebens öffentlich werden könnte, nicht nur einen Lügendetektortest über sich ergehen lassen, sondern auch zur besten Sendezeit eine Hausdurchsuchung vor versammelter Nachbarschaft - eine der großartigsten und erschütterndsten Passagen des Romans. Inmitten der Trümmer seiner Existenz kommt Lee zu der Überzeugung, dass niemand anderes als sein "alter Erzfeind" Lewis Gaither hinter dem Anschlag steckt mit dem Ziel, aus später Rache Lees Leben zu ruinieren.

"Reue" ist bereits Susan Chois dritter, wie seine Vorgänger von der amerikanischen Kritik gefeierter Roman, aber erstaunlicherweise der erste, der auch auf Deutsch zu lesen ist. Choi erzählt die Tragödie ihres Helden in einer ebenso feinfühligen wie kraftvollen Sprache mit eindringlichen Bildern und mäandernden Satzkonstruktionen, die den Leser in ein Labyrinth aus peinvollen Erinnerungen, Eifersucht, Reue- und Schamgefühlen ziehen. Verblüffend ist Chois Kunst, mit der Beschreibung von Alltagsgegenständen die Seele ihres Helden zu erhellen: "Meist hing die Aktentasche praktisch leer an seiner Hand, aber sie hatte ohnehin nie der Beförderung dienen sollen.... Wenn seine Kollegen die Aktentasche irgendwo in der Hochschule allein auf einem Stuhl kauern sahen, dachten sie im Nachhinein, sie hätten Lee selbst gesehen."

Wie in ihrem für den Pulitzerpreis nominierten Erstling "American Woman" über die Patty-Hearst-Entführung transformiert Choi auch hier zeitgeschichtliche Ereignisse in Literatur. Neben dem Fall des "Una-Bombers" Kaczynski ist es vor allem der des 1999 zu Unrecht der Spionage verdächtigten kalifornischen Atomwissenschaftlers Wen Ho Lee, der ihrem Roman zugrunde liegt. Wie Wen Ho Lee wird auch Chois Lee für das FBI und die Medien "A Person of Interest", wie der Originaltitel lautet. Hier patzt die ansonsten zuverlässige Übersetzung: "Person of Interest" ist in den USA ein ungleich ambivalenterer Begriff als das deutsche "ein wichtiger Zeuge"; es ist jemand, von dem die Justiz noch nicht genügend Beweise hat, um ihn offiziell als verdächtig zu erklären.

Und wie im Fall Wen Ho Lees gründen sich die Verdächtigungen auch bei Susan Choi (Tochter eines koreanischen Vaters und einer russisch-jüdischen Mutter) nicht zuletzt auf dem ethnischen Hintergrund ihres Helden. Lee ist in seiner Jugend aus einem nicht näher bezeichneten asiatischen Land in die USA emigriert, hat seine Herkunft rasch abgelegt, fühlt sich selbst einzig als "echter Amerikaner". Doch für seine Umwelt sieht er so aus "wie ein kleiner alter Chinese". So hilft es Lee wenig, dass er den Lügendetektortest besteht, glaubt man doch beim FBI, "dass gewisse Personen gewisser Rassen und Kulturen dem Polygraphen gegenüber immun sind", da sie eine andere Auffassung von Wahrheit und Lüge hätten. "Reue" spielt irgendwann in den 1990er-Jahren, aber mit seiner scharf beobachteten Xenophobie der amerikanischen Gesellschaft in Zeiten des Terrorismus, die hinter der liberalen Fassade haust, handelt es sich doch um einen Post-9/11-Roman.


Titelbild

Susan Choi: Reue.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Annette Hahn.
Aufbau Verlag, Berlin 2008.
480 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783351032395

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch