Ein kläglicher Abschluss

Der letzte Band von Hans-Ulrich Wehlers deutscher Gesellschaftsgeschichte enttäuscht

Von Kai KöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Köhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nach fünfundzwanzigjähriger Arbeit hat Hans-Ulrich Wehler ein Großprojekt abgeschlossen: Seine deutsche Gesellschaftsgeschichte umfasst nun einen Zeitraum von fast drei Jahrhunderten, die Zeit von 1700 bis 1990. Dabei ist der Autor beharrlich seinem methodischen Ansatz treu geblieben, Gesellschaftsgeschichte als Geschichte struktureller Verschiebungen im Sozialen zu gestalten. Das bedeutete zunächst eine Distanznahme von einem Bild der Geschichte als Abfolge der Taten und Entscheidungen großer Politiker; später trat die Frontstellung gegen einen kulturgeschichtlichen Ansatz hinzu, der idealistisch den ideologischen Selbstbildern der Handelnden folgt.

Eine solche Gesellschaftsgeschichte überzeugt besonders da, wo sie Daten, Fakten, Statistiken ins Feld führen kann. Im Idealfall vermag sie zu zeigen, wie der Erfolg der Heroen doch nur im Mitvollzug dessen, was sich ohnehin ereignete, bestand; und wie die Selbstbilder Täuschungen sind, wenn auch aus bestimmten Ursachen und mit bestimmtem Zweck. Mit dem einen Gegner setzt sich Wehler im neuen, fünften Band seiner Gesellschaftsgeschichte gar nicht auseinander, auch wenn die historische Biografie ein heute eher noch beliebteres Genre ist als zu dem Zeitpunkt, als er sein Großprojekt begann. Das ist verständlich, sind doch hier die Argumente weitgehend ausgetauscht. Dagegen hätte man sich einige Gründe mehr gegen die Kulturgeschichte gewünscht. Dass ihr bislang die Fähigkeit zur großen Synthese fehlt, wie Wehler bemängelt, könnte ja auch Anreiz sein, sie in dieser Hinsicht weiter zu entwickeln; und sein Hinweis, er wolle aus Gründen der Einheitlichkeit bei den erprobten "Achsen" -Bevölkerungsentwicklung, Wirtschaft, soziale Ungleichheit, politische Herrschaft, Kultur - bleiben, ist ganz formal und äußerlich. Hier hätte eine eingehende methodische Auseinandersetzung produktiv werden können.

Nachdem der umfangreiche vierte Band auf weit über tausend Seiten die gut dreißigjährige Konfliktperiode seit 1914 zum Thema hatte, schildert der fünfte Band die Jahre von 1949 bis 1990, mithin die Epoche der deutschen Zweistaatlichkeit. Mit nur wenig über fünfhundert Seiten fällt er trotz des längeren Zeitraums nur halb so lang aus, was bei einem politikgeschichtlichen Ansatz angesichts der früheren Ereignisdichte leicht zu rechtfertigen wäre, bei einer Gesellschaftsgeschichte, die es nun sogar mit zwei Staaten zu tun hat, jedoch überrascht. Tatsächlich sind viele Aspekte mit holzschnittartiger Knappheit vorgestellt. Wehler liefert sogar im weitaus umfangreicheren Teil zur Bundesrepublik nur Ergebnisse - und zwar die seinen. Auf eine argumentative Abwägung verschiedener Sichtweisen muss der Leser verzichten, und Übersichtstabellen, von denen es im vierten Band fünfundzwanzig gab, fehlen nun ganz.

Manche Themen haben den Autor erkennbar nicht interessiert. Die Parteiengeschichte etwa ist derart oberflächlich abgehandelt, dass man in der Wikipedia leicht Besseres findet. Die demografische Entwicklung ist für einige Jahrzehnte solide nachgezeichnet; für die Gegenwart verfällt Wehler dann einem feuilletonistischen Alarmismus, als könnten nicht Produktivitätszuwachs und Einsparungen angesichts einer geringeren Schülerzahl den Unterhalt von mehr Rentnern nicht, wie schon bisher, ausgleichen.

Die besten Abschnitte des Buchs finden sich dort, wo Wehler sich erkennbar selbst orientiert hat und sich auf der Basis von Zahlen mit anderen Positionen auseinandersetzt. Die gut hundert Seiten zur fortbestehenden sozialen Ungleichheit in der Bundesrepublik stützen sich nachvollziehbar auf Fakten und zeichnen überzeugend das Bild einer Gesellschaft, die nach wie vor Klassenunterschiede kennt. Wehlers Gegner sind hier Soziologen wie Ulrich Beck, die eine angebliche Pluralisierung von Lebensstilen feiern und doch nur ihre privilegierte soziale Lage verabsolutieren. Tatsächlich sind zwar einige Bereiche - Politik, Militär - für Aufsteiger durchlässiger geworden, doch hat sich der wichtige Bereich der Wirtschaft eher noch mehr abgekapselt und sind Einkommens- und Vermögensverteilung zwischen 1949 und 1990 erstaunlich stabil geblieben. Seit der deutschen Einigung haben sie sich zugunsten der ohnehin schon Reichen verschoben. Angesichts dessen überrascht es, wenn Wehler im gleichen Buch einen "übersteigerten Sozialstaat", der eine "hypertrophe Form" angenommen und "gegen den Willen seiner verwöhnten Klientel" entschlossen umgebaut werden müsse, wahrnimmt; überhaupt klingt es stets ein wenig obszön, wenn wohlausgestattete Professoren über angeblich verwöhnte Hartz IV-Empfänger klagen.

Während Wehler seine Auseinandersetzung mit den Apologeten der Risikogesellschaft zwar hart im Ton, doch auf die Sache bezogen führt, gerät er ins Toben, wenn ihm linke Wissenschaftler in die Quere geraten. In die Frankfurter Schule sei erst mit Jürgen Habermas "neue intellektuelle Bewegung" gekommen; Theodor W. Adorno und Max Horkheimer gelten bei Wehler nichts. Für die Zeit um 1968 ist von "ultralinken Soziologentraktaten" die Rede, die den Weg in die Edition Suhrkamp fanden, "obwohl sie nicht einmal den Ansprüchen an eine gediegene Seminararbeit genügten", oder von "Pamphleten" von "DKP-Politologen", die binnen kurzem zu Makulatur geworden seien. Lange Zeit zurückliegende Beiträge werden als "unsäglich schablonenhaft", ohne jegliche "Ahnung von der empirischen Sozial- und Politikgeschichte" beschimpft. Wolfgang Abendroth habe in Marburg einen "dogmatischen Kommunismus" herangezüchtet, "bis sein Fachbereich sich überwiegend in dieser selbst gewählten Isolierung bewegte."

Dass Wissenschaften, zumal die Politik- und Geschichtswissenschaft, sich nicht unabhängig von politischer Macht entwickeln und die Isolation alles andere als selbst gewählt war - davon will Wehler nichts wissen. Wenn er seinem eigenen Fach schon für die Jahre vor 1968 eine vorbildliche Entwicklung bescheinigt, so dass es "keiner neomarxistischen Fundamentalkritik bedurfte" und es "kaum Geschichtsstudenten gab, Assistenten und Privatdozenten schon gar nicht, die sich an der 68er-Bewegung aktiv beteiligten", so spricht daraus eine gewollte Naivität. Die harschen Urteile, die Wehler noch vierzig Jahre später hinschreibt, verraten ungewollt, warum die Privatdozenten lieber vorsichtig abwarteten.

Zuweilen erweckt das Buch den Eindruck, Wehler würde hier Privatkriege fortsetzen. Die Literaturnachweise sind wenig brauchbar: unstrukturierte Listen von Büchern, die irgendwie mit dem Geschriebenen in Verbindung stehen. Um so mehr fällt auf, dass in der Anmerkung zum Abschnitt über die Demokratisierung der Bundesrepublik Luciano Canforas "Kurze Geschichte der Demokratie" (siehe literaturkritik.de 9/2006) genannt ist. 2006 hatte Wehler mit einem Gutachten das Erscheinen dieses Buchs in der Reihe "Europa bauen" verhindert und es in einen Kleinverlag abgedrängt. Mit dem Thema hat es wenig zu schaffen - Canfora widmet der Bundesrepublik knapp fünf Seiten. Wehler nennt den Titel nur, um ihn - als einen von nur zweien in einer langen Liste - noch einmal zu kommentieren und zu dem "umstrittenen, sachlich schlechthin unseriösen kommunistischen Pamphlet" eine negative Kritik anzuführen. Hier wie sonst nennt Wehler keinerlei Argumente für seine Beschimpfungen.

Ob das, was gemeinhin unter "politischer Kultur" läuft, analytisch wirklich zu fassen ist, darf man mit guten Gründen bezweifeln. Wehler macht es sich jedenfalls im zwanzigseitigen Abschnitt zur "neuen Politischen Kultur" der Bundesrepublik recht einfach: über weite Strecken referiert er einfach Debatten seiner Fachkollegen, und zwar derart, dass die Wehler'sche Position sich stets als die einzig vernünftige durchsetzte.

Es ist dies eine seltsame Mischung von Triumphalismus und Unsicherheit, die auf tiefe lebensgeschichtliche Verletzungen verweist. Wenn Wehler gleich zweimal ausführlich dagegen polemisiert, dass Assistenten, Studierende und gar Sekretärinnen an Universitäten mitbestimmen dürfen, so überlegt man, welche Abstimmungsniederlagen er wohl erlitten haben mag. Wenn er auf frühere Linke einprügelt, die historisch längst verloren haben, fragt man sich, in welcher Vergangenheit Wehler lebt - aktuelle Gegenpositionen wecken bei ihm kein vergleichbares Engagement. Vielleicht ist es auch einfach ein schlechtes Gewissen, wenn er die Geschichtswissenschaft der DDR insgesamt für wertlos erklärt: "Kein Wunder, daß die Evaluierungskommissionen nach der Wende dafür plädierten, die große Mehrheit der ostdeutschen Historiker aus ihren Positionen zu entfernen", rechtfertigt er die machtgestützte Durchsetzung westlicher Forschungsparadigmen.

Das führt zu der Frage, wie die DDR in vorliegendem Band dargestellt ist. Gleich im Vorwort verkündet Wehler: "Die kurzlebige Existenz der DDR hat in jeder Hinsicht in eine Sackgasse geführt. Daher wird auch in diesem Band der DDR-Geschichte keine gleichwertige Behandlung mit der Bundesrepublik eingeräumt." Der DDR sind dann auch nur etwa 130 Seiten gegönnt.

Freilich ist die Argumentation befremdlich. Der vierte Band hatte den nur vier Jahren des Kaiserreichs im Ersten Weltkrieg 230 Seiten gewidmet. Das Kaiserreich war nicht überlebensfähig und wurde für gut vierzehn Jahre von der Weimarer Republik (370 Seiten) abgelöst, und diese vom "Dritten Reich", das bereits nach gut zwölf Jahren (340 Seiten) am Ende war. Verglichen damit war die DDR, die vierzig Jahre existierte, nun wirklich nicht "kurzlebig" und hätte eine ausführlichere Behandlung verdient.

Allerdings: Liest man das wenige, das Wehler zur DDR einfiel, so ist man froh, dass er sich vergleichsweise knapp fasste. Das Niveau der früheren Bände wird hier auf deprimierende Weise unterboten. Eine einzige Orgie des Schimpfens über die "deutschen Bolschewiki" und deren angebliches Zerstörungswerk ersetzt einen analytischen Zugriff. Wehler reaktiviert eine längst veraltete Totalitarismustheorie und nimmt in seiner Fixierung auf einen "Linkstotalitarismus" die Veränderungen in der DDR-Geschichte kaum wahr. Dass auch in der DDR unter spezifischen sozialen und politischen Verhältnissen Interessengruppen um Einfluss kämpften, entgeht ihm ganz; ihn interessiert nur die moralische Verurteilung. Zuweilen führt das bis ins Groteske: Etwa wenn er der Wandlitzer Nomenklatura vorwirft, viel wohlhabender als die durchschnittlichen DDR-Bürger gewesen zu sein, und sie im gleichen Satz für ihre "kleinbürgerliche Ärmlichkeit" rügt. Man müsste sich da schon entscheiden, was von beidem man kritisieren will.

Der Ton ist dabei meist maßlos. Ein Beispiel, unter vielen: Wehler rügt die Praxis der DDR, politische Häftlinge gegen Devisen in den Westen freizulassen. "Seit dem Sklavenhandel früherer Zeiten hatte man ein derart zynisches und geldgieriges Verhalten, wie es die deutschen Kommunisten jahrelang praktizierten, nicht mehr erlebt." Nun muss man diese Verhältnisse nicht rechtfertigen. Doch fallen dem Rezensenten etliche Beispiele ein, bis in Nachwendezeit, die es an Zynismus und Geldgier leicht mit diesem Fall aufnehmen können.

Es ist, als habe man zwei Bücher vor sich. Der Osten wird moralistisch niedergemacht, ein verspäteter Kalter Krieg - der Westen wird aus analytischer Distanz als Erfolgsgeschichte hingestellt, wenn etwa das sozialdarwinistisch geprägte Leistungsethos der NS-Zeit als Erfolgsfaktor der Wiederaufbauzeit gewürdigt wird. Dass beide Bücher vom selben Autor stammen, merkt man nur daran, wie auch Linke im Westen so hasserfüllt abgekanzelt werden wie die im Osten.

Mit den Konflikten der Gegenwart hat das nichts mehr zu tun. Indem Wehler sich nicht von den Kämpfen lösen konnte, in die er vor Jahrzehnten verstrickt war, hat er seinem Ansatz keinen guten Dienst erwiesen. Der Schritt vom Zeitgenossen zum Historiker ist hier misslungen; das aber sollte man nicht der Sozialgeschichte anlasten, die zu Besserem in der Lage ist.


Titelbild

Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Vom Beginn des Ersten Weltkrieges bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten.
Verlag C.H.Beck, München 2003.
1187 Seiten, 49,90 EUR.
ISBN-10: 3406322646

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Titelbild

Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bundesrepublik und DDR 1949-1990.
Verlag C.H.Beck, München 2008.
548 Seiten, 34,90 EUR.
ISBN-13: 9783406521713

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