Mehrfach-Leser

Paul Raabes "Leserleben" ist eine Hommage an Mechthild Raabe und die Wolfenbütteler Bibliothek

Von Stefanie HartmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefanie Hartmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Paul Raabe, Deutschlands bekanntester Bibliothekar, wie der Verlag ihn nicht zu Unrecht nennt, leitete im Laufe seiner Karriere das Deutsche Literaturarchiv Marbach, die Herzog-August-Bibliothek, war Direktor der Franckeschen Stiftungen in Halle und Mitglied des Stiftungsrates der Klassik Stiftung Weimar.

Seine 2005 verstorbene Frau Mechthild Raabe hat sich ebenso dem Bibliothekswesen gewidmet und anhand der Ausleihbücher der Herzog-August-Bibliothek in Wolfenbüttel Leserleben rekonstruiert und in langjähriger Arbeit ein achtbändiges Quellenwerk vorgelegt. Eine kleine Auswahl ihrer Leser-Biografien, anekdotenhaft ausgeschmückt, hat Paul Raabe nun posthum veröffentlicht.

Er berichtet beispielsweise von dem kinderreichen Bibliothekssekretär Johann Georg Sieverds, der mittels Werken über ferne Länder wie Brasilien und Indien der alltäglichen Enge entfloh, von einem Theatermenschen, der sich zu Tode las, einem Architekturtheoretiker, der dank seiner Lektüre die Aufklärung herannahen sah und vielen mehr. Leider bleiben die Leser, die vorgestellt werden, oft blass - zum Teil ist biografisch einfach wenig über sie bekannt - oder ihre Lektüre nichtssagend, weil der heutige Leser die Werke nicht kennt und die Ausleihbücher keinen Aufschluss darüber geben, welche Bedeutung die Werke für Denken und Handeln der Ausleiher hatten.

Interessant sind auch weniger die mehr oder minder bekannten Gelehrten, deren Forschungsgegenstände heute wenig interessieren, sondern die weiblichen Leser, so etwa Fräulein Charlotte Louise von Cramm, unverheiratete Tochter eines Kammer- und Hofrats. Sehr langsam las sie verschiedene französische Werke der Unterhaltungsliteratur, wurde schließlich aufgrund der durch einen Bibliotheksleiterwechsel strenger ausgelegten Regeln für 20 Jahre von der Ausleihe ausgeschlossen, da sie eine Frau war und kehrte in fortgeschrittenem Alter in den Kreis der Nutzer zurück, um sich nun in die erbauliche Literatur des Barock zu vertiefen. Spannend auch die Lektüre der geheimnisvollen Mademoiselle de la Porte, die sich für das Leben der schwedischen Königin Christine interessierte und frauenfeindliche Polemiken entlieh: eine frühe Feministin also? Nicht gekannt haben wird sie wohl die Schmähschrift "Ob die Weiber Menschen seyen oder nicht?", die vom Bäcker bis zum Fabrikanten - so belegen es die Ausleihbücher - reges Interesse bei den männlichen Lesern fand.

Aufschlussreich ist ferner die Nutzung der Bibliothek durch einfache Bürger, als sich die Institution zu Beginn des 18. Jahrhunderts einem breiten Publikum öffnete. Man erfährt, wie sich einfache Handwerker für ihr Metier interessierten, sei es Mühlen- oder Gartenbaukunst, welche Romane sie lasen und welchen Stellenwert religiöse Erbauung hatte.

Der wohl bekannteste Leiter der Bibliothek, Gotthold Ephraim Lessing, war natürlich selbst eifriger Nutzer der Bestände; allerdings lassen sich die von ihm gelesenen Werke schwerer nachweisen, schließlich hatte er das Privileg, keinen Leihschein ausfüllen zu müssen. Lediglich seine Notizen und Werke geben Aufschluss über seine Lektüre. Dagegen zeugen die Leihscheine von der Lektüre seiner vier Stiefkinder, die nach dem Tod ihrer Mutter in seiner alleinigen Obhut verblieben: Nicht nur die frühesten Werke der Jugendliteratur wurden von ihnen entliehen, sondern auch die scheinbar in allen Zeiten von Heranwachsenden gleich begehrten Räuberpistolen und Schauergeschichten.

Beneidenswert sind "Raabes Leser" aus heutiger Sicht vor allem, weil sie - auch aufgrund des beschränkten Angebots von Büchern - viele Werke mehrmals lasen. Ein Luxus, den sich heutige Leser aufgrund explodierender Veröffentlichungszahlen kaum noch erlauben können.


Titelbild

Paul Raabe: Leserleben.
Arche Verlag, Zürich 2008.
208 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783716023839

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