Straffe Komposition, bewegte Formen

Texte des frühen Filmtheoretikers und -kritikers Rudolf Kurtz - neu aufgelegt

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Vor etwas mehr als 80 Jahren, genauer gesagt 1926, erschien ein Buch mit dem Titel "Expressionismus und Film", dessen Einfluss "weit über seine Zeit hinausreicht" und das "bis heute zum festen Kanon deutschsprachiger Filmliteratur" zählt, wie Michael Wendt jüngst konstatierte. Von der Bedeutung des Werks kann man sich nun wieder leicht überzeugen, denn nach einer - inzwischen längst vergriffenen - Neuausgabe in den 1960er-Jahren und Übersetzungen ins Italienische und Französische im Laufe der 1980er-Jahre hat es der Schweizer Chronos Verlag erneut zugänglich gemacht. Als Herausgeber des Bandes firmieren Christian Kiening und Ulrich Beil, die auch das umfangreiche Nachwort beigesteuert haben.

Kurtz, der Ende 1884 in Berlin geboren wurde und Germanistik, Philosophie und Nationalökonomie studierte, ohne allerdings eines dieser Fächer abzuschließen, war nicht nur mit zahlreichen Künstlern und Filmschaffenden bekannt und befreundet, sondern konnte deren cineastischen Werke "treffsicher charakterisieren und bewerten", wie die Herausgeber der vorliegenden Ausgabe zutreffend bemerken. Darüber hinaus beweise er in der vorliegenden - von ihm selbst als "aphoristisch" kleingeredeten - Arbeit die Fähigkeit, eine Chronologie des expressionistischen Kinos "[zu] skizzieren, Paradigmatisches heraus[zu]arbeiten und einen kleinen Kanon [zu] erstellen". Auch zeige er auf, "welchen Tendenzen, Kunstgattungen und Diskursen" die expressionistischen Filme "korrespondieren".

Tatsächlich bettet Kurtz seine Ausführungen zum expressionistischen Film in Erörterungen zur expressionistischen Literatur, Architektur, Plastik, Musik und anderen Künsten sowie zur - wie er mehrfach betont, gegen Impressionismus und Psychologie gerichteten - expressionistischen "Weltanschauung" ein und erlaubt sich sogar einen kleinen, allerdings nicht ganz abseitigen Abstecher zur abstrakten beziehungsweise, wie es damals hieß, "absoluten Kunst".

Die zentralen Kapitel sind allerdings ganz dem expressionistischen Film selbst gewidmet, der "als Bedingung seiner Existenz" einen "Lebensraum" herstelle, der von dem der "gelebten Welt" ganz "grundsätzlich verschieden" sei. Seine "Methode und Komposition" sei durch "straffe Komposition" sowie eine strikte "Beschränkung auf sparsame, aber stark bewegte Formen" gekennzeichnet.

Insgesamt lässt Kurtz gerade mal sechs Filme als expressionistisch gelten: "Das Cabinet des Dr. Caligari" (1919/20), "Von Morgen bis Mitternacht" (1920), "Genuine" (1920), "Das Haus zum Mond" (1920), "Raskolnikow" (1922/23) und schließlich "Das Wachsfigurenkabinett" (1924). Einigen anderen Filmen konzediert er immerhin expressionistische Elemente: Filme wie etwa "Die Bergkatze" (1921), "Der letzte Mann" (1924), der Film "Der Golem - und wie er in die Welt kam" (1920) und der Vampir-Film "Nosferatu" (1922) hätten sich "der dekorativen Ausdruckswerte des Expressionismus bemächtigt".

Doch nicht nur diese, auch den genuin expressionistischen Filmen sei es nicht gelungen, "Caligari" zu übertreffen. So sei der expressionistische Film in Deutschland nicht über eine "Geschichte von Wiederholungen" hinausgekommen. Hier wie auch in vielen anderen Fragen teilen die Herausgeber die Auffassung des Autors. "Kurtz sollte rechtbehalten" assistieren sie im umfangreichen Nachwort: "Der Caligari-Film blieb auch in der Folgezeit unerreicht."

Kurtz beendet sein Buch mit Erörterungen darüber, warum der expressionistische Film wo an seine "Grenzen" stößt. Er sei zwar eine "Bereicherung" und vielleicht sogar eine "wertvoll[e]" Episode der Filmgeschichte gewesen, doch sei er letztlich "unfruchtbar" geblieben, da er keine "allgemein erregende und umformende Bedeutung" erlangt habe. Das von ihm konstatierte Scheitern des expressionistischen Films erklärt Kurtz damit, dass dieser sich als solcher dem Wunsch des Publikums nach unangestrengter Unterhaltung entgegenstelle. Eben darum sei er als "reine Kunst [...] nicht lebensfähig."

Der Wunsch der Zuschauenden, "die durch den Film übermittelten Erlebnisinhalte reibungslos in [ihr] Weltbild einordnen können, ohne daß dieser Akt irgendeine Form geistiger Aktivität erfordert", ist Kurtz zufolge keineswegs deren individueller trägen Bequemlichkeit anzulasten oder sonst wie kontingent. Vielmehr bemüht Kurtz eine aus heutiger Sicht kurios anmutende Erklärung. Der allgemeine "Erfolg des Kinos" fuße auf einem "biologische[n] Bedürfnis von höchster Allgemeinheit", erläutert der Autor. "Der Kräfteverbrauch des Tages, der systematische Abbau der Zellen, fordert in den abendlichen Arbeitspausen die Umstellung zum Zellenaufbau, der während des Schlafes sich vollendet. Dieser Regenerationsprozeß verlangt einen Zustand geistiger Ausspannung, der gewöhnlich von einem Gefühl der Leere begleitet wird."

Nahezu zeitgleich mit Kurtz' zentralem Werk sind nun auch eine Reihe weiterer Texte des Filmtheoretikers und -kritikers neu zugänglich gemacht worden. Michael Wendt hat sie im Rahmen der Reihe "Film & Schrift" unter dem Titel "Rudolf Kurtz - Essayist und Kritiker" herausgegeben. Dem annähernd fünfzig Seiten umfassenden Vorwort zu diesem Band ist auch Wendts Zitat zu Beginn der vorliegenden Rezension entnommen. Über die "Vielfältigkeit seiner [Kurtz'] Filminteressen", das "breite Spektrum seines literarischen Schaffens" und den "schillernden Reichtum seiner Biographie" erfährt man hier sogar einiges mehr als in dem Nachwort Kienings und Beils zu "Expressionismus und Film", die sich vielleicht allzu sehr darauf konzentrieren, ihre eigenen Ansichten zum expressionistischen Film und bestimmten seiner Werke darzulegen.

Neben zahlreiche Filmkritiken aus den 1920er-Jahren bietet Wendts Sammlung etliche Aufsätze von Kurtz, etwa über den mit ihm befreundeten Schauspieler Emil Jannings. Außerdem gibt es Beiträge über Filmzensur und die Filmprüfstelle, über "Film, Filmindustrie und Staat" sowie über "Die Geschichte eines Filmmanuskripts". Oft schlagen die Texte einen launigen Ton an, wie etwa die Charakterisierungen von "Filmmännern" und "Filmweibchen" aus dem Jahre 1916. Bemerkenswert ist, dass sich in letztgenanntem Aufsatz die vermutlich erste "Soziologie der Diva" nachlesen lässt. Informative Biblio- und Filmographien sowie eine Zeittafel beschließen den Band.


Titelbild

Rudolf Kurtz: Expressionismus und Film.
Herausgegeben von Christian Kiening und Ulrich Johannes Beil.
Chronos Verlag, Zürich 2007.
224 Seiten, 22,80 EUR.
ISBN-13: 9783034008747

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

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Rolf Aurich / Wolfgang Jacobsen (Hg.): Rudolf Kurtz. Essayist und Kritiker.
edition text & kritik, München 2007.
270 Seiten, 17,00 EUR.
ISBN-13: 9783883778907

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