Näher dran an der Not

Annett Gröschner unternimmt in "Parzelle Paradies" eine Berlin-Tour der anderen Art

Von Andreas TiefenbacherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Andreas Tiefenbacher

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nachdem sie immer schon "ein Binnenschifferkind sein" wollte, verwundert es kaum, dass Annett Gröschner ihren Lebensmittelpunkt in Berlin hat. Gibt es doch "nirgendwo in Mitteleuropa [...] ein dichteres System von Wasserstraßen als in und um Berlin". 190 Kilometer sind es genau, wie die Autorin in ihrem im August dieses Jahres in der Edition Nautilus erschienenen "Berliner Geschichten" berichtet. Es riecht zwar "hier niemals nach Meer", dennoch ist Berlin eine Hafenstadt, mit Ost- und Westhafen, beide unter Stadtbaurat Friedrich Krause entstanden.

Um historisches Faktenmaterial herum hat Annett Gröschner viele ihrer in diesem Band versammelten Texte gebaut. Sie transportieren eine große Fülle an Wissen, das auf sorgfältigen Recherchearbeiten beruht. Trockenen Akten spannende Geschichten abzutrotzen, darin sieht die Autorin nichts Beschwerliches, sondern "ein kleines Abenteuer".

An Berlin selbst hat Annett Gröschner, wie sie im Interview mit dem "Aviva"-Magazin erklärt, "immer die Geschichte interessiert". Sie ist hier auch gern unterwegs und genießt es, "von einer Sekunde auf die andere den Schreibtisch verlassen und durch die Menge streichen" zu können, obwohl es "das ganze Jahr über grau" ist, "zwischen Oktober und April immer Nebel über der Stadt" hängt und "allüberall digitale Überwachung durch Kameras" stattfindet. Doch "eine Autorin sein, die am Schreibtisch sitzt und über eine Frau schreibt, die am Schreibtisch sitzt", das würde Gröschner auch trotz der häufig feuchten Witterung nie wollen. Da ist sie schon lieber "den Narben der Häuser" oder "den Hinterlassenschaften eines verschwundenen Staates" namens DDR auf der Spur, stöbert im Keller eines ehemals nationalsozialistischen Musterbetriebes herum oder begibt sich vom Bahnhof Lichtenberg aus, in dessen Eingangshalle sich immer mehr Menschen tummeln, die "nie wegfahren", laut sind und "viel vom Ficken [...], von Stütze und Alkohol reden", auf die Ostbahn, wo hauptsächlich "polnische Putzfrauen", Händler und Pendler aus dem Kreis Märkisch-Oderland verkehren.

Theodor Fontane ist zu seiner Zeit auf "andere Fuhrwerke" angewiesen, sie allesamt viel zu teuer, so dass Monate vergehen, bis er das Geld der "hohen Reisekosten [...] zurückerschreibt".

Ähnlich dem schriftstellernden Fontane ist auch im 21. Jahrhundert für viele Autoren "das Geld [...] knapp". Doch um zeitweilig in der "Stammkneipe zwischen Sozialhilfeempfängern, glücklichen Arbeitslosen und anderen eigentümlichen Existenzen" zu verschnaufen und dabei ein bisschen Zeit zu vertrödeln, dafür reicht es noch. Doch diejenigen, für die es weniger reicht und welche die Stadt "nicht mehr ernährt", werden mehr.

"Wer in Berlin wohnt, ist näher dran an der Not. Trotzdem leben die meisten gern hier", resümiert Gröschner. Man richtet sich in Armut und Einsamkeit ein, sucht dafür, dass es das Leben nicht allzu gut mit einem gemeint hat, Trost in Eigenwilligkeiten und Schrullen, wie jener alte Mann, der "sechs Monate im Jahr auf seinem Balkon (sitzt) und mit seiner Katze wie mit einer Frau" spricht, sich das Essen mit ihr teilt und gemeinsam mit ihr fernsieht.

Ob nun Balkon oder Haltestelle, an der ein Mädchen beim Einsteigen in die Straßenbahn einem kleinen "Hund auf den Schwanz zu treten" versucht; ob Imbissbude oder Schminkefabrik, deren "prominenteste Kundin [...] Milka-Kuh" heißt; ob ein "bis zum Kotzen authentischer" Platz, dem nur noch "der Liegestuhlverleih im Sommer" fehlt, oder einfach bloß ein unsaniertes Haus "mit Podestklo und alten Fensterkreuzen": Annett Gröschner verwandelt alles in einen beeindruckenden Ort der Poesie.

Eine ganz spezielle literarische Anziehungskraft dürfte auch von den "Kleingartenanlagen Borholm I und II" ausgehen. Schon 1986 Ideenlieferant für Uwe Kolbes gleichnamigen Gedichtband, werden sie Jahre später Mittelpunkt eines Theaterprojekts, das der Regisseur Roland Brus unter dem Titel "Parzelle Paradies" mit Kleingärtnern entwickelt. "Parzelle Paradies" klingt gut. Und Annett Gröschner bedankt sich auch herzlich "für die Überlassung des Titels". Doch das in kleine Flächen abgesteckte Grün entpuppt sich als zwiespältiges Paradies. Schließlich bewegt sich "alle drei Minuten [...] eine Maschine im Sinkflug über Prenzlauer Berg", was dem einen oder anderen Kleingärtner mit dem Flugzeugabsturz über der eigenen Parzelle den passenden Albtraum gleich mitliefert.

Wo der flüchtig Hinschauende fast noch Paradiesisches zu erkennen vermeint, dort fördert die genaue Beobachterin Gröschner schon manch kleinen Albtraum zutage: Da gibt es dann Keller, "in denen auch gefoltert wurde"; oder den leinelosen Kampfhund Rolf, der angeblich "friedlicher wie'n Mensch" ist und als solcherart "zartes Wesen [...] nur kacken und pinkeln (kann), wenn nix am Hals zerrt"; oder das so genannte ,Umkippen' einer Gegend, welches ein "Monate, wenn nicht Jahre (dauerndes) Theater mit Umsetzwohnung, Sanierung und Wiedereinzug" eröffnet. Davon tröstet man sich am besten mit einer Mahlzeit im Hafencasino, in dem die Teller den "Durchmesser von Wagenrädern" besitzen und das Essen darauf "drei Sekretärinnen drei Tage ernähren" könnte.

Ähnlich beeindruckend portioniert ist auch "Parzelle Paradies". Für vergleichsweise wenig Geld bekommt man viel gutes Buch. 45 Texte sind es, 39 davon in den letzten acht Jahren schon einmal erschienen, mehrheitlich auf den Berliner Seiten der "FAZ", in der "taz Berlin" und im "Freitag". Doch gesammelt in einem Band sind sie gleich noch einmal so gut. Bestechend ist vor allem die sachliche Genauigkeit und facettenreiche Gestaltung, die auf einer Mischung aus persönlichen Erfahrungen und erarbeiteten Tatsachen beruhen.

Sonderbares kommt zur Sprache wie Unangenehmes und Trauriges. Eingebettet in einem stark von der Dokumentation geprägten Erzählen, das auch dem Autorinnen-Ich keine Schonung gewährt, lassen Lebendigkeit und Authentizität der Texte eine Offenheit spüren, die wegführt vom oberflächlich als "hippe, schicke, von Internationalität geprägte" Metropole gesehenen Berlin hinter die Kulissen, wo sie auf einmal "piefig, unerträglich und provinziell" ist. Dass man dort in der seltsamen Friedlichkeit eines Sommerabends auch mal als Frau "betrunken vom Stuhl" fallen darf, steht außer Zweifel. Schließlich erholt man sich ohnehin schnell wieder, wenn man die "Sonnenblumen auf dem Balkon vierzehn Tage beim Blühen" betrachtet.

Aber nicht nur Sonnenblumen, - auch Bücher können blühen: im Ausdruck wie im Inhalt. "Parzelle Paradies" von Annett Gröschner ist der beste Beweis.


Titelbild

Annett Gröschner: Parzelle Paradies. Berliner Geschichten.
Edition Nautilus, Hamburg 2008.
220 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783894015756

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