Abbilder einer Epoche in ihrem Überdruss

Eine opulente Neuausgabe von Claude Lévi-Strauss' "Traurigen Tropen" feiert den 100. Geburtstag des großen Ethnologen

Von Jan SüselbeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Süselbeck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wenn einer der wichtigsten Anthropologen des 20. Jahrhunderts seine weltberühmt gewordene Expeditionsbeschreibung "Traurige Tropen" (1955), die unter dem französischen Originaltitel "Tristes Tropiques" sogar noch viel schöner klingt, mit folgender Bemerkung einleitet, muss er Humor haben: "Ich verabscheue Reisen und Forschungsreisende."

Claude Lévi-Strauss schreibt in seinem Buch über Erfahrungen im tiefsten brasilianischen Dschungel. Doch sein Text ist nicht nur packende autobiografische Literatur, sondern machte auch als philosophisches Grundlagenwerk der Anthropologie Geschichte. Dass der Soziologe, der gerne als Doyen des Strukturalismus bezeichnet wird, seine Erkundungstouren trotz offener Vorbehalte gegen das Genre der Reiseliteratur zehn Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg doch noch aufschrieb, ist ein Glück. So wettert Lévi-Strauss in "Traurige Tropen" zunächst einmal: "Heutzutage ist es ein Handwerk, Forschungsreisender zu sein; ein Handwerk, das nicht, wie man annehmen könnte, darin besteht, nach vielen Jahren intensiven Studiums bislang unbekannte Tatsachen zu entdecken, sondern eine Vielzahl von Kilometern zu durchrasen und - möglichst farbige - Bilder und Filme anzusammeln, mit deren Hilfe man mehrere Tage hintereinander einen Saal mit einer Menge von Zuschauern füllen kann, für die sich Platitüden und Banalitäten wundersamerweise in Offenbarungen verwandeln, nur weil der Autor, statt sie an Ort und Stelle auszusondern, sie durch eine Strecke von zwanzigtausend Kilometern geadelt hat."

Dennoch mag das Buch manch jungen Wissenschaftler ermutigen, der sich zu Zeiten einer zunehmend von wirtschaftlichem Profit- und bohrendem Ergebniszwang beherrschten Universität bereits für gescheitert hält, wenn er mit 35 noch nicht als Juniorprofessor angestellt ist und immer noch keine mindestens kilometerlange Veröffentlichungsliste vorzuweisen hat. Entpuppt sich doch Lévi-Strauss' Philosophie als Entdeckung der Langsamkeit und der Geduld angesichts der "Ungemach verlorener Wochen und Monate", von "tausend Beschwerlichkeiten, die so sinnlos die Tage beschneiden und das Leben im Urwald in eine Art Militärdienst verwandeln". Auch schreibt der Ethnologe bereits im Anschluss an seinen eingangs zitierten Eröffnungssatz der "Tristes Tropiques": "Trotzdem stehe ich im Begriff, über meine Expeditionen zu berichten. Doch wie lange hat es gedauert, bis ich mich dazu entschloß! Fünfzehn Jahre sind vergangen, seit ich Brasilien zum letzten Mal verließ, und in all den Jahren habe ich oft den Plan gefaßt, dieses Buch zu schreiben; aber jedes Mal hat mich ein Gefühl der Scham oder des Überdrusses davon abgehalten. Soll man etwa des langen und breiten die vielen kleinen Belanglosigkeiten und unbequemen Ereignisse erzählen?"

Ja, man soll. Doch die Frage ist eben nur: wie. Die Kunst des Aufschiebens, heute als schwer zu behandelnde 'Industrie-Krankheit' namens "Prokrastination" verunglimpft, gebiert im Zweifelsfalle Weltliteratur, Weisheit und Erkenntnis. Kapitalistischer Marktaktionismus aber, voreilig ergebnisorientiertes Geschludere und dem Halbwissen abgerungenes Gepfusche also, zu dem man nun auch die 'freie Wissenschaft' zusehends zwingen möchte, weil man nicht mehr verstehen möchte, warum geistige Arbeit nach anderen Zeitmaßen voranschreitet als die eilige Selbstvernichtung der Finanzmärkte und die kurzsichtig auf Gewinne schielende industrielle Zerstörung unserer Lebensgrundlagen, erzeugt vor allem eines: viel Dummheit.

Jetzt also ist Lévi-Strauss, dessen Lebenswerk bereits im 20. Jahrhundert vielen absolut unzeitgemäß vorkam, 100 Jahre alt geworden. Der Suhrkamp Verlag ehrt den Jubilar mit einer wirklich wunderschönen Ausgabe seiner "Traurigen Tropen", in der preisgekrönten Übersetzung Eva Moldenhauers, mit den Abbildungen und Fotografien der Originalausgabe sowie 40 farbigen Gouachen des Brasilienkenners und Künstlers Mimmo Paladino.

In den großen Tages- und Wochenzeitungen ist dieser Tage schon viel über den ins biblische Alter vorgerückten Denker geschrieben worden. Doch Jean Améry gebührt die Ehre, einen der schönsten deutschsprachigen Essays über Lévi-Strauss verfasst zu haben. Wer sich schon einmal in Kürze einen Eindruck von den Debatten verschaffen möchte, die seit dem Erscheinen der "Traurigen Tropen" um Lévi-Strauss' Werk entbrannten, konsultiere bitte in diesem Falle einmal nicht "Wikipedia", sondern den im Band 6 der Klett-Cotta-Werkausgabe Jean Amérys enthaltenen Beitrag "Fremdling in dieser Zeit. Zu Werk und Gestalt des Strukturalisten Claude Lévi-Strauss", der zuerst 1975 im WDR gesendet wurde.

Améry stellt dort Lévi-Strauss, der damals zarte 67 Jahre alt war, zunächst als komischen Kauz vor. Erzogen von seinem Großvater, der Rabbiner war, und zudem umfassend nach der Methode der guten, alten "französischen Drillschule" in Philosophiegeschichte gebildet, schwor er laut Améry bizarrerweise zeitlebens auf die schwülstige Musik Richard Wagners, bekundete, sich für den Marxismus ganz einfach nicht zu interessieren und wischte alles Tagespolitische schroff vom Tisch, allein in Zeiträumen von Äonen kalkulierend: "Man kann nur feststellen, daß sein ganzes Denken, sein gesamtes großes Werk jenseits der Aktualität siedelt. Als Anthropologe und Ethnologe rechnet er mit Zehntausenden, Hunderttausenden von Jahren." Die Bemühungen seiner philosophischen Zeitgenossen aber habe Lévi-Strauss als bloßes "Stammtischgeschwätz (dialectic du Café de commerce)" abgetan.

Einerseits rühmt Améry diesen "Charakterkopf" als "Literaten", der "keineswegs trocken schreibt" und verteidigt Lévi-Strauss gegen den schnell erhobenen Vorwurf, mit seiner Skespsis gegenüber den Errungenschaften westlicher Zivilisation ein eskapistischer Irrationalist zu sein. Andererseits kann er es doch nicht lassen, "zumindestens zum Teil" folgende, seinerzeit gerade aktuelle Bemerkung des englischen Kritikers John Weightman über die "strukturalen Linguisten" auf den großen Ethnologen zu beziehen - also die Veralberung einer Schule, die maßgeblichen Einfluss auf Lévi-Strauss' anthropologische Theoreme hatte: "Sobald wir mit dem Lesen beginnen, sprießen in Fülle Schwierigkeiten an allen Stellen. Es kann gewiss niemals in der ganzen Geschichte des Geschriebenen mehr rätselhafte, preziöse und verbogene Texte geben, als diejenigen es sind, welche die gegenwärtige Generation der Pariser Intellektuellen uns bieten. Die Strukturalisten und Semiologen sind besessen vom Verlangen nach 'Wissenschaftlichkeit', jedoch oftmals schreiben sie, als wäre Thomas von Aquin eine monströse Kopulation eingegangen mit Hegel, Mallarmé oder James Joyce, um die vielfältigsten Stimmen des immanenten verbalen Gottes zu zeugen."

Es kann Entwarnung gegeben werden. Zumindest gleich das erste Kapitel von "Traurige Tropen" wiederlegt alle zitierten Kritikpunkte Amérys. Lévi-Strauss berichtet hier unter anderem von seiner Flucht vor der drohenden Deportation durch die in Frankreich 1941 einmarschierten Nationalsozialisten, buchstäblich im letzten Moment. Bevor es dann auf 'abenteuerliche' Weise doch noch mit der Flucht nach Übersee klappte, schien bereits schon einmal alles verloren zu sein - und solche Momente im Leben eines jüdischen Emigranten entschieden damals tatsächlich über Leben und Tod: "Der Botschafter Louis de Souza-Dantas, den ich gut kannte, der aber nicht anders gehandelt haben würde, hätte ich ihn nicht gekannt, hatte bereits den Stempel in der Hand und schickte sich an, ihn auf den Paß zu drücken, als ein willfähriger Botschaftsrat ihn kalt mit der Bemerkung unterbrach, daß er aufgrund einer neuen gesetzlichen Verfügung dazu nicht mehr befugt sei. Eine Sekunde lang blieb der Arm mit dem Stempel in der Luft hängen. Mit einem ängstlichen, fast flehenden Blick versuchte der Botschafter, seinen Mitarbeiter dazu zu bewegen, sich kurz abzuwenden, damit der Stempel sich auf das Papier senken könne, was es mir ermöglicht hätte, Frankreich zu verlassen und vielleicht in Brasilien einzureisen. Aber nichts geschah, das Auge des Botschaftsrats starrte unentwegt auf die Hand, die mechanisch auf das Dokument zurückfiel. Ich bekam kein Visum, und der Paß wurde mir mit einer bedauernden Geste zurückgegeben."

Dafür, dass Lévi-Strauss der Todesmaschinerie der Shoah gerade noch so eben entkam, sprühen seine Erinnerungen an diese Zeit nur so vor Selbstironie und Witz - womit sich die Behauptung, der Philosoph habe sich für die zeitgenössische Politik überhaupt nicht interessiert, einigermaßen übertrieben ausnimmt. Gleichzeitig muss man sich an dieser Stelle aber auch die Noblesse Amérys vor Augen halten, der sich als jüdischer Résistance-Kämpfer zur selben Zeit einem weit weniger glücklichen Schicksal ausgeliefert sah: Er wurde von der Gestapo verhaftet, gefoltert und nach Auschwitz deportiert. Kurz: Entweder man hatte Glück und saß in den Folgejahren halbwegs sicher am anderen Ende der Welt - oder aber man kam mit etwas mehr Pech eben doch anderswohin, ganz unfreiwillig. Wenn wir also Lévi-Strauss heute hierzulande ehren, so sollten wir dabei nicht vergessen, dass man auch diesen Mann, wenn es damals nach dem Willen der Deutschen gegangen wäre, zum nächstmöglichen Termin in die nationalsozialistischen Vernichtungslager deportiert hätte.

Bemerkenswert aber ist, dass auch Lévi-Strauss' Klassiker über die "Traurigen Tropen" diesen apokaplyptischen Zeithintergrund seiner Erlebnisse eben nicht ausblendet, sondern zum Ausgang seiner Ezählung nimmt. Strukturalismus hin oder her - die Lektüre seines großen Werks sei deshalb ganz einfach empfohlen mit den gemessenen Schlussworten, die Améry in seinem Essay zum Werk des Ethnologen findet. Selbst dann, wenn später einmal nichts von seinen "strukturalistischen Phantasmen" und nichts von seiner angestrebten "Wissenschaftlichkeit" Bestand haben sollte, so bliebe doch ein Signal: In keinem zeitgenössischen Œuvre habe sich so deutlich kundgetan, "daß wir uns an einer Wende unseres gesellschaftlichen und individuellen Daseins befinden. Ist die Menschheit Träger und Vollzugsorgan von Strukturen? Ich weiß es nicht. Aber ich glaube, dass Lévi-Strauss und sein Werk Sinnbilder sind für ein Kommendes, das wir noch nicht zu erkennen vermögen, und Abbilder einer sich zum eigenen Überdruß gewordenen Epoche."


Titelbild

Claude Lévi-Strauss: Traurige Tropen.
Mit farbigen Gouachen von Mimmo Paladino.
Übersetzt aus dem Französischen von Eva Moldenhauer.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2008.
541 Seiten, 38,00 EUR.
ISBN-13: 9783518585115

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