Land der Widersprüche

Gerhard Schweizer analysiert die Türkei und ihre "Zerreißprobe zwischen Islam und Nationalismus"

Von Josef BordatRSS-Newsfeed neuer Artikel von Josef Bordat

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Türkei möchte der Europäischen Union beitreten. Dieser Umstand ist Anlass für ein zunehmendes Interesses an einem Land, das geografisch zu Vorderasien zählt. EU und Asien - das ist nicht der einzige Widerspruch, der sich auftut. "Wie passt das zusammen?" ist eine Art Leitfrage in der Auseinandersetzung mit der Türkei. Wie passen die laizistische Staatsdoktrin des Kemalismus mit dem immer stärker aufkommenden Islam zusammen? Wie passen republikanisches Staatsverständnis und Folterpraktiken zusammen? Wie passen die NATO-Mitgliedschaft mit dem Einsatz von schwerem Gerät im militärischen Kampf gegen die Kurden zusammen? Wie die Boomregion Istanbul mit der Armut im ländlichen Anatolien?

Gelungene Antworten auf dialektische Sachverhalte bestehen im Allgemeinen im Versuch einer Auflösung des Widerspruchs, also dem Formulieren einer Synthese, ohne dass sich dabei neue Widersprüche ergeben. Zunächst aber - insbesondere für den Fall, dass die Widersprüche gesellschaftlicher Art sind - in einer historischen Herleitung und einer Analyse ihrer Entstehungsbedingungen, was möglicherweise in eine Erklärung für ihre prinzipielle Unauflösbarkeit mündet. Oder das führt dazu, dass man neue Widersprüche aufweist, welche die alten belanglos erscheinen lassen. Gerhard Schweizer, ausgewiesener Kenner der islamischen Welt und "seit 1964" regelmäßig unterwegs in einem Land, dessen Bewohner "sehr gastfreundlich" sind, versucht sich an solchen Antworten und gibt insbesondere solche vom dritten Typ.

Einiges lässt sich unterdessen in der Tat rasch klären, weil es einem Klischee aus den 1960er- und 1970er-Jahren erwachsen ist. So setzt der Autor gegen die Vorstellung des armen Anatolien, aus dem die meisten der Arbeitsimmigranten der ersten Generation stammten, den aufstrebenden Mittelstand in dieser Region. Anderes lässt sich historisch begreifen: Der laizistisch orientierte Kemalismus habe schon von Beginn an unter großen inneren Widersprüchen gelitten, die in einem "quasi-religiösen Kult um Atatürk" kulminierten, der um der republikanischen Staatsräson Willen auch vor Gewalt gegen Andersgläubige und -denkende keinen Halt machte und macht.

Auf die Verzahnung von einerseits religiösem (Islam) beziehungsweise "quasi-religiösem" (Kemalismus) Absolutheitsanspruch und dem unbedingten Willen zum politischen Machterhalt andererseits, verweist Schweizer in seinen sehr erhellenden Ausführungen zur "Türkengefahr" als europäisches "Trauma". Das ist insbesondere mit den Jahreszahlen 1529 und 1683 verbunden, als die Osmanen vor Wien standen, allerdings auch mit zwei Daten aus der jüngeren Vergangenheit: 1915 und 1923. Die Meinung vieler Türken, der Völkermord an "mehr als eine Million armenischer Christen" (1915) und die Vertreibung von "über eine Million griechischer Christen" (1923) trage weniger Züge religiöser Verfolgung, sondern sei politisch motiviert gewesen, da die beiden Minderheiten in der Gründungsphase der Republik eine "Bedrohung" dargestellt hätten, scheint der Autor zu teilen, verweist er doch auf die große Toleranz des Islam, die den Angehörigen der anderen "Buchreligionen" stets gegolten habe. Die Rede vom "aggressiven Islam" sei vor diesem Hintergrund unangebracht. Jüngste Gewaltexzesse gegen Christen hält der Autor offenbar für Einzelfälle und findet es "bedauerlich, daß derartige Ereignisse in den westlichen Medien die größte Aufmerksamkeit erregen". Es bleiben jedoch, wie er selbst einräumt, "Fragen offen", sowohl hinsichtlich der historischen wie auch der aktuellen Fälle.

Die türkische Gesellschaft, die Schweizer detail- und kenntnisreich beschreibt, ist "gespalten", sie steht am "Scheideweg". Sie ist dabei in erster Linie voller neuer Widersprüche, die ganz anderer Art sind als in den gängigen Reichtum-Armut- / Laizismus-Islamismus-Dichotomien, die im Westen beim Stichwort "Türkei" assoziiert werden. Diese neuen Widersprüche sind also vor allem Tatsachen, die unseren Vorurteilen widersprechen. Solche Probleme ergeben sich insbesondere im Zusammenhang mit dem Wiedererstarken des Islam, dem vermeintlich größten Hemmnis für einen EU-Beitritt, zu dem West-Klischee, der "Islam" stünde für "undemokratisch", "frauenfeindlich" und "fortschrittshemmend".

Schweizer zeigt eindrucksvoll: Es sind nicht die Kemalisten, die sich für eine Demokratisierung des Landes einsetzen, sondern es ist der politische Islam mit der AKP Erdogans an der Spitze. Die Türkei Atatürks machte sich auf den Weg nach Europa, gegenwärtig forcieren aber nicht die säkularen Parteien in der Tradition des Staatsgründers das Tempo, sondern die islamischen Reformkräfte. Was in der Abwendung vom Islam seinen Ausgang nahm, erfährt in der Hinwendung zum Islam seine Fortsetzung. Und Frauen würden, so Schweizer, vom Koran auch nicht schlechter gestellt als in anderen Religionen. Als Beispiele nennt er den Konfuzianismus, den Buddhismus und den Hinduismus, zitiert aber auch einschlägige Bibelverse zur Stellung der Frau in der im Abendland wirkmächtigen paulinischen Theologie, die - entgegen anderer Schriftstellen, "in denen Jesus die Frauen keineswegs in derart strikte Hierarchien eingeordnet wissen wollte" - von einer "ohnehin patriarchalisch geprägten Gesellschaft" dankbar aufgenommen wurden. Zwar gebe es in den westlichen Industriestaaten bessere politische und soziale Rahmenbedingungen, welche die Gleichberechtigung von Frauen und Männern "viel nachhaltiger als bisher in islamisch geprägten Staaten" verwirklichen halfen, doch das hoffnungsvolle Schlüsselwort lautet "bisher". Denn dem Islam als Fortschrittshemmer setzt Schweizer einen Islam entgegen, der zum Motor eines Wirtschaftsbooms geworden ist: Seit 2004 weist die Regierung Erdogan erstaunliche Wachstumsraten von sechs bis acht Prozent aus. Ferner gewinne "der religiös konservative Mittelstand Anatoliens an ökonomischer Bedeutung".

Das Menschenrecht "Religionsfreiheit" (im Sinne der Freiheit zur ungehinderten Ausübung von Religion, nicht im Sinne der Freiheit von Religion) wird unter der AKP, die bei den letzten Wahlen im Juli 2007 fast 47 Prozent erhielt, in größerem Umfang gewährleistet, als dies unter einer kemalistischen CHP-Regierung zu erwarten wäre. So wird die islamische AKP auch für armenische Christen wählbar. Die erfolgreiche Wirtschaftspolitik lässt sie zudem bei säkularen Städtern und armen Kurden punkten, kurz: sie wird zur Volkspartei, die das Land stabilisieren kann. Allerdings muss sie sich dabei zweier Risikofaktoren erwehren: der rechtsradikalen Nationalisten von der MHP und des traditionell putschbereiten Militärs, das sich im Zweifel wohl kaum von der 2003 beschlossenen Entmachtung des Nationalen Sicherheitsrats und dem damit verbundenen Entzug der verfassungsrechtlichen Möglichkeit, "als Hüter der Verfassung" eine Regierung zu stürzen, wird abschrecken lassen. Doch Schweizer ist sicher, dass die AKP gerade vom zunehmenden Misstrauen der Bevölkerung gegenüber dem Militär profitieren wird: "Es eröffnet der AKP weitere Möglichkeiten, ihre Macht auszubauen."

Damit könnte Europa durchaus leben - und einem EU-Beitritt stünde nichts mehr im Wege. Diese Gedanken des Lesers zerstreut der Autor, denn der Teufel steckt wie immer im "Detail". Ein solches ist der "Paragraph 301". Er regelt die "Herabwürdigung des Türkentums" als Straftatbestand. "Herabwürdigung des Türkentums" ist ein sehr weit dehnbarer Begriff. Unter Erdogan werden darunter auch kritische Äußerungen über den "türkischen Islam" und seine Regierung subsumiert, mit der Folge: "Die Zahl der unter diesem Gesetz verfolgten Personen hat sich 2006 verdoppelt." Ein herber Rückschlag in den Beitrittsgesprächen mit der EU, wie ein Ende 2007 erschienener Kommissionsbericht feststellt. Änderungen solcher "Details" geschehen nur mit Druck aus Brüssel: Gerade vier Monate nach Erscheinen des EU-Berichts wurde der "Paragraph 301" reformiert - er stellt fortan die "Herabwürdigung der türkischen Nation" unter Strafe; ob damit in der Praxis viel gewonnen ist, bleibt abzuwarten.

Diese Reform unterstreicht einerseits den Willen der türkischen Regierung, ihr Land in die EU zu führen, andererseits wirft es die Frage auf, was geschehen wird, wenn dieses erst zum Vollmitglied geworden ist. Dass es dazu, bei aller Mühe und allem Fortschritt, gar nicht erst kommen wird, hat nach Schweizer vor allem damit zu tun, dass das Volk seiner Regierung in Sachen EU-Beitritt zunehmend die kalte Schulter zeigt (2004 waren 73 Prozent für einen EU-Beitritt, 2007 nur noch 40 Prozent) und stattdessen eine stärkere Anbindung an die islamischen Bruderstaaten im Südosten wünscht. Es hat den Anschein, die AKP würde zum Opfer ihrer sanften "Islamisierung der Politik". Schweizer wünscht sich "in dieser verfahrenen Situation [...] eine starke Opposition säkular und laizistisch orientierter Parteien".

Die Schrift, die bei der Betrachtung unseres Türkeibildes und der ausführlichen Darstellung der neueren Geschichte sowie der politischen und sozialen Gegenwart des Landes insbesondere die aktuellen Tendenzen Islamisierung und Nationalismus in den Blick nimmt, gewährt einen tiefen Einblick in die türkische Seele. Auch formal gefällt das Buch: eine umfangreiche Zeittafel, die Bibliografie mit zahlreichen aktuellen Publikationen, zwei Karten und das Personenregister erleichtern die Orientierung. Schweizers Analyse ist durchaus geeignet, Ruhe in einen stark emotionalisierten Diskurs zu bringen.

Vielleicht aber auch zuviel Ruhe. Weder Kreuzzugsparolen noch eine Rhetorik prinzipieller Verharmlosung vermag die Türkei und den sie offenbar immer stärker treibenden Islam richtig zu beurteilen. Zumindest die Tendenz zur unangemessenen Verharmlosung wird bei Schweizer an einigen Stellen deutlich, wo die kritische Einordnung historischer Gegebenheiten im Blick auf Gegenwart und Zukunft nur unzureichend vorgenommen wird, etwa hinsichtlich der Vernichtungs- und Vertreibungspolitik der Gründungszeit. Die schweren Verbrechen gegen die Menschlichkeit und das Schweigen der türkischen Eliten zu ihrer blutigen Geschichte beziehungsweise die brutale Verfolgung derer, die heute - fast ein Jahrhundert später - darüber sprechen (wollen), sind mit Attributen wie "befremdlich" und "irritierend" wohl kaum treffend qualifiziert. Die Fehler der Vergangenheit als solche zu erkennen und zu benennen, ist die Bedingung der Möglichkeit eines Aufbruchs in eine andere Zukunft. Das Fehlen eines solchen Bewusstseins lässt es Europa wohl zu Recht schwer fallen, der Türkei über den Weg zu trauen.

Der Appell Schweizers an die Glaubhaftigkeit des ohnehin schon "multikulturellen und multireligiösen" europäischen Kontinents im Bemühen, das "islamisch geprägte Land in das kulturell pluralistische Europa einzufügen", wirkt daher angesichts der türkischen Vergangenheit und Gegenwart auch nach den Resultaten der von "vorsichtigem Optimismus" geprägten Studie unangemessen. Denn Hemmnisse bestehen wohl nicht nur im politischen (Modernisierungs- und Demokratiedefizit) und wirtschaftlichen Bereich (Labilität, trotz des Wachstums), wie der Autor meint, sondern eben auch auf religiösem und kulturellem Gebiet. Die schließlich implizit geäußerte Vermutung, es handele sich bei dem EU-Beitritt der Türkei um eine global bedeutsame Schicksalsentscheidung, die entweder - im Beitrittsfall - die Vereinbarkeit von Orient und Okzident nachweist oder - sollte der Beitritt nicht erfolgen - den Dauerkonflikt der kulturellen Sphären befeuern wird, den die "ideologischen Scharfmacher" auf beiden Seiten für unausweichlich halten, erscheint etwas plakativ. Offenbar kommt friedliche Koexistenz und partnerschaftliche Zusammenarbeit ohne wechselseitige kulturelle Vereinnahmung für den Autor nicht als Möglichkeit in Betracht, die Verbindung zwischen der EU und der Türkei für beide Seiten annehmbar zu gestalten. Dabei wäre ein europäisches "Nein" zur EU-Mitgliedschaft der Türkei, verbunden mit einem entschiedenen "Ja" zu vertieften politischen und wirtschaftlichen Beziehungen unter Nachbarn ausnahmsweise einmal kein Widerspruch.


Titelbild

Gerhard Schweizer: Die Türkei - Zerreißprobe zwischen Islam und Nationalismus.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2008.
320 Seiten, 18,90 EUR.
ISBN-13: 9783608941128

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