Der ewige Sohn

Hans Wollschlägers gesammelte Essays zu Arno Schmidt künden von der fragwürdigen Vergötterung eines Übervaters

Von Jan SüselbeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Süselbeck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer sich mit dem Werk Arno Schmidts beschäftigt, hört und liest unweigerlich von einem Mann, dem geradezu Geniestatus bescheinigt wird: Hans Wollschläger. Auf die Publikation des Briefwechsels dieses sagenumwobenen Geistesmenschen mit seinem - wie er selbst immer wieder stolz betonte - 'Lehrer' Arno Schmidt wartet nicht nur die Fachwelt seit Jahrzehnten. Über die Gründe dieser Verzögerung sprach man gemeinhin nur hinter vorgehaltenener Hand - sie lagen wohl unter anderem in der immensen Bedeutung begründet, die Wollschläger diesem Konvolut in seinen Texten selbst beimaß: Vielleicht kam ihm eine Veröffentlichung zu Lebzeiten irgendwann nur noch wie die unnötige Profanierung eines 'heiligen Textes', einer Apokryphe vor.

Eventuell spielten aber auch verletzende Worte eine Rolle, die Schmidt seinen Briefpartnern mit der ihm eigenen Launenhaftigkeit selten ersparte und die Wollschläger, falls sie auch ihn einmal per Post erreicht haben sollten, zeitlebens lieber nicht veröffentlicht sehen wollte. Mit Sicherheit kann man als Außenstehender derzeit nur sagen, dass in der Schmidt-Szene kaum etwas mit einer derartigen Neugier erwartet wird wie die Publikation dieses Briefwechsels. Nach dem Tod Wollschlägers im Jahr 2007 können sich trauernde Fans zumindest einen schwachen Trost konkreter ausmalen: Einer posthumen Publikation des Materials dürfte nun nichts mehr im Wege stehen.

Schon jetzt macht sich außerdem der Göttinger Wallstein Verlag mit der Herausgabe von Wollschlägers "Schriften in Einzelausgaben" um das Andenken des vielgerühmten Essayisten verdient. Unter dem Titel "Die Insel und einige andere Metaphern für Arno Schmidt" - so lautete auch das Thema von Wollschlägers paradigmatischer Rede zur Verleihung des Arno-Schmidt-Preises am 18. Januar 1982 in Schmidts niedersächsischem Wohnort Bargfeld, die in diesem Band nachzulesen ist - sind jetzt Essays, Interviews und Texte aus dem Nachlass des Autors erschienen.

Neue Erkenntnisse über Schmidt darf man von diesen Arbeiten nicht erwarten. Es sind vielmehr wichtige Dokumente einer exemplarischen Schmidt-Rezeption, aus denen sich viel über das 'sektenbildende' Phänomen dieses Autors und seines von Wollschläger so geschätzten Werks lernen lässt. Wer die im Band versammelten Gespräche und Texte liest, kommt zunächst einmal nicht umhin, anzunehmen, dass die Freundschaft Wollschlägers seinem 'Mentor' Schmidt weit weniger wichtig war als die Schmidts für Wollschläger. Der vielbeschworene 'Schüler' Schmidts betonte seine über ein Jahrzehnt währende persönliche Nähe zu dem großen Vorbild - eine Gnade, die von 1958 bis etwa 1970 währte - immer wieder wie die eines Erwählten zu einer Gottesfigur, einer jener Übervater-Gestalten, "in deren Machtschatten sich gesichert leben ließ", wie es in der "Insel"-Rede so bezeichnend heißt. Und Wollschläger setzt an dieser Stelle noch vielsagend hinzu, wer Schmidts Leserschaft analysiere, fände auch dort "das entsprechende Ambivalenzbild des Reagierens".

Im Grunde ist es komisch - und man wundert sich, dass bisher nicht alle, denen er davon erzählte oder die in seinen Interviews solche Anekdoten lasen, gleich in lautes Gelächter ausbrachen angesichts der Absurdität der Szenerie: Wie Schmidt seinen 'Schüler' mit nach oben in den ersten Stock seines Mini-Häuschens in Bargfeld nahm, während die Ehefrauen unten zu warten hatten, um ihm Lektüren aufzugeben, nach genau und in seiner winzigen Schrift auf pedantische Zettel notierten Arbeitsplänen. Wenn ihn die Gegenwart seines Besuchers ermüdete, sagte Schmidt plötzlich nichts mehr und nahm seine Brille ab. Eingeweihte wie Wollschläger wussten dann gleich, was das zu bedeuten hatte: Der extrem kurzsichtige Schmidt konnte seinen Gegenüber so gar nicht mehr sehen und 'verabschiedete' sich auf diese Weise abrupt. Man hatte zu gehen.

Wollschläger aber schafft es, selbst diese skurrile Taktlosigkeit seines Gurus noch positiv darzustellen: "Er nahm, sich absondernd, manchmal die Brille ab. Aber wer in dieser Geste des Kurzsichtigen nicht den Affront, sondern die Ohnmacht zu spüren wußte, dem wurde gerade jene Gemeinschaft zuteil, die sich darin aufkündigte; und wer das Glück hatte, von ihm durch die Brille angesehen zu werden, der fand Teilnahme, Liebe sogar auf dem untersten Grund des Blicks".

Eigenen Bekundungen nach widersprach Wollschläger seinem großen Vorbild im Grunde nie - und wer Schmidts bisher veröffentlichte Briefwechsel oder auch die mittlerweile vorliegenden Tagebücher Alice Schmidts kennt, weiß ja, dass so ein Fauxpas mitunter auch katastrophale Folgen haben konnte. "War denn ein Dialog überhaupt möglich?", fragt Thomas Schreiber in einem im Band abgedruckten Interview bang. Wollschlägers Antwort ist ein Musterbeispiel der Diplomatie: "Ja, in dem Sinne, daß - was ja das Ziel von Dialogen sein kann - Einvernehmen hergestellt wurde."

Dissens war in diesem offensichtlichen Fall von Hörigkeit also nur als Unfall möglich. So in der ausnahmsweise überaus sympathischen Anekdote, in der es Wollschläger, der im Abitur ein "ungenügend" in Mathematik bekommen hatte, in einem unbedachten Moment über ein vom Meister präsentiertes astronomisches Zahlenkonvolut entfuhr: "Krauses Tabellenzeug, welches niemandem etwas beut". Da setzte es prompt einen "empfindlichen Tadel" Schmidts: "Im Gegenteil, ohne das kann man praktisch überhaupt nicht mehr die Feder ansetzen."

So lustig sich diese Anekdoten auch lesen, Wollschlägers Essays sind in ihrem salbungsvollen und fast schon religiös verehrenden Ton auf Dauer kaum zu ertragen. Von kritischer Distanz, einer Grundvoraussetzung zumindest literaturwissenschaftlichen Arbeitens, sind seine elitär anmutenden Beschwörungen auch noch in den 1980er-Jahren, also nach Schmidts Tod im Jahr 1979, weit entfernt. Im Gegenteil, seither gab es wohl keinen bedingungsloseren Verteidiger Schmidts als Wollschläger. Für ihn ist das "Phänomen Arno Schmidt" in der "gesamten Weltliteratur unserer zweiten Jahrhunderthälfte" von "einziger Art", als "einzige Erscheinung jener innovatorischen Kraft, nach deren Auftauchen in der Geschichte der Sprach-Kunst dann die Epochen benannt werden".

Geht es nicht auch eine Nummer kleiner? Nein, bei Wollschläger nicht: Schmidt sei "ersichtlich und fraglos der Avancierteste von allen" gewesen, und "wahrhaftig, abgesonderter von allem, was Zeit ist und Mitwelt, hat keiner gelebt, hat keiner geschrieben". Mehr noch, "abgesonderter hat keiner leben, keiner schreiben müssen". Natürlich sei deshalb auch die zeitgenössische Literatur im Vergleich zu der Schmidts dazu verurteilt gewesen, "wie Plunder zu wirken". Und das geht dann immer so weiter mit den großzügigsten Mystifizierungen, von denen wir längst wissen, dass sie kompletter Unsinn sind. Nochmals: "Abgeschiedener hat keiner geschrieben, fern jedem Betrieb der Kultur-, fern jeder Betriebsamkeit der Politgeschichte." Oder auch: "Er hatte, physisch ein Riese, die vegetative Empfindlichkeit eines Kristalls, und sein gußeisernes Gedächtnis war nicht imstande, auch nur die kleinsten Verletzungen zu vergessen. Die ihm zugefügt wurden, waren die größten; ihnen entkam er nie."

Nicht zuletzt ist der Zweite Weltkrieg, an dem Schmidt als Mitläufer und Soldat der Wehrmacht teilnahm, laut Wollschläger "jener Krieg, der ihm nicht nur die nie wiederkehrende Kraft der dreißiger Jahre sinnlos weggefressen, sondern den rasend Empfindlichen, umfassend, so tief verletzt hatte, daß ihm noch zwanzig Jahre später die Worte im Mund abbrachen, wenn er davon sprach". Unwillkürlich muss man angesichts dieser lupenreinen Täter-Opfer-Umkehrung an Hermann L. Gremlizas polemische Zuspitzung denken, wonach sich alte Nazis gerne darüber beklagten, dass sie sich beim Schließen der Gaskammertür auch einmal den Finger eingeklemmt und damit im Krieg 'schwer gelitten' hätten. In einem im Band zu findenden, Schmidts Funk-Essay-Kunst äußerst holperig und peinlich imitierenden Dialog Wollschlägers, der sich mit Schmidts Erfahrungen bei dessen Wehrmachts-Stationierung in Norwegen beschäftigt, heißt es übrigens an einer Stelle lakonisch: "Anstrengendes fiel kaum an; die wirkliche Arbeit verrichteten die russischen Zwangsarbeiter, die unterhalb der Artillerie am Fjord in einem Zeltlager hausten." Punkt. Weiter nichts. Welch 'schweres Leid' muss das doch für denjenigen gewesen sein, der dort oben im hohen Norden auf der anderen Seite des Stacheldrahtes saß.

Trotzdem ist für Wollschläger klar: "Ja, daß, nach dem Krieg, Literatur traditionellen Begriffs nicht überhaupt hätte aufgegeben werden müssen, wie laut Adornos großem Satz nach Auschwitz das Gedicht, hat er vollbracht und niemand außer ihm; von dieser Errungenschaft bezieht auch das restliche Jahrhundert weit mehr seiner Erlaubnisse, als es weiß." Schmidt soll also nicht nur das größte poetologische Problem der Nachkriegsliteratur ganz allein gelöst haben, nein - wie ein Demiurg dirigierte er offenbar selbst diejenigen, die ihn nie gelesen hatten, wie Marionetten an Fäden durch ein ganzes Jahrhundert, erteilte der restlichen Literatur dubiose "Erlaubnisse" von höchster Warte.

Dass man dagegen endlich einmal versuchen könnte, Schmidt literarhistorisch klarer in der Zeit, in der er schrieb, 'einzuordnen', sein Werk gar mit dem schreibender Zeitgenossen seiner Generation zu vergleichen, versuchte Wollschläger vor allem in seiner "Insel"-Rede mit vorbeugenden und 'deckelnden' Angriffen gegen die "Germanistik" zu verhindern: "Hier freilich, im Seitenblick auf die Beschaffenheit der Anderen, wird der Blick, der den Einzelnen erkennen möchte, unhaltbar ins Nichts gezogen, und eine Literatur-Wissenschaft, die aus ihrer Unfähigkeit, monadische Individuen zu beschreiben, spähtrupphaft in deren Umfelder ausschwärmt und immer mehr der Verschmelzung mit jener Banalsoziologie zustrebt, die den Einzelnen nur noch aus dem viel zu Großen Ganzen erläutern will, ist hier noch grotesker als sonst zum Scheitern verurteilt."

Wer sich also anmaßt, über das 'allein Recht setzende Wort' seines Leitbilds Schmidt unabhängig zu urteilen, gehört für Wollschläger vor den Kadi, zumindest rhetorisch: "Schon Binsenweisheit wäre vielleicht, das Ghettowesen der Germanistik zu verklagen, Platitüde der Vorschlag, sie an ihren so teuer gedüngten Früchten zu erkennen, als bloß raschelnden Betrieb, als Aleatorik und Zungenspiel".

Wollschläger postuliert damit ein regelrechtes Bilderverbot, indem er Schmidt zu einer unantastbaren und unbegreiflichen Gestalt stilisiert, einem personifizierten und in seinem inkommensurablen Werk emanierten Arkanum, vor dem alle Beschreibungsversuche Unberufener - ausgenommen davon ist offensichtlich der 'Jünger' Wollschläger selbst mit seiner Rede - unweigerlich scheitern müssen: "Das geht - schon mancher hat es erfahren - weit noch über die Schwierigkeit hinaus, ein so riesiges, die platte Greifbarkeit per se vereitelndes Monumentalgebilde auch nur zu beschreiben, eine Schwierigkeit, vor der zu versagen die Literatur-Kritik, die bloß den Bargewinn des Wissens anzielt, die sture Information, geradezu bestimmt scheint."

Schmidts zweifelhaften Rat, literaturwissenschaftliche und literaturkritische Äußerungen anderer über eigene literarische Hervorbringungen besser gar nicht erst zur Kenntnis zu nehmen, um sich davon nicht beeinflussen oder deprimieren zu lassen, hatte Wollschläger angeblich übernommen, wie er in seinem Rundfunkinterview aus dem Jahr 1980 äußerte: "Ich habe diese Regel auch inzwischen befolgt und komme ganz gut damit über die Runden." In seiner "Insel"-Rede beliebt er das eine "Hygienelehre" zu nennen.

Gerade bei einem angeblich so großen Stilisten wie Wollschläger, dessen Wortwahl sich "mustergültig von dem beklagten Übel" unterscheide, "wonach die Germanistik vor ihren Gegenständen oft durch sprachliche Unangemessenheit versage" (Werner Morlang), wird man vielleicht doch noch einmal deutlicher darauf aufmerksam machen dürfen, welcher Begrifflichkeiten aus welcher Ressentiment-Traditionen sich Wollschläger hier bedient, wenn es ihm darum geht, die Germanistik und die Literaturkritik allgemein zu diskreditieren. Da wird die Literaturwissenschaft, wie zitiert, mit einem "Spähtrupp" verglichen, der partisanengleich und wimmelnd "ausschwärmt"; sie wird von einem ominösen "Ghettowesen" bestimmt und ist gut bezahlt, ohne wirklich Geistvolles hervorzubringen (man möge sie an ihren "teuer gedüngten Früchten" erkennen, genauso wie die Literaturkritik ja stets nur auf den "Bargewinn" schiele).

Richtig, das sind allesamt Paradebeispiele ursprünglich antisemitischer Stereotypen, genauso wie das Papiergeraschel, die Aleatorik und das "Zungenspiel", das Wollschläger der Germanistik in seiner Rede vorwirft - also wie in dem alten Hassbild, die neunmalklugen, auf störende Weise an allem 'herumnörgelnden' Juden seien von Natur aus "Rabulisten", also Wortverdreher. Besaß Wollschläger, der doch seinen Adorno gelesen hatte, so wenig Sprachgefühl, dass er diese Bedeutungsebene seiner Tirade übersah? Wie konnte das passieren? Wer jedenfalls die planmäßige Ignoranz gegenüber der Literaturwissenschaft und der Literaturkritik ausdrücklich auch noch als Akt der "Hygiene" definiert, der muss das Gemiedene wohl für Schmutz halten. Bei allem Respekt: Dies sind antiintellektuelle Entgleisungen, die man an sich weniger in einer Arno-Schmidt-Preisrede der 1980er-Jahre vermuten sollte, als vielmehr 40 Jahre früher im Stürmer oder im Schwarzen Korps.

Im Fall eines auf ihn selbst zielenden publizistischen Angriffs allerdings, der bald darauf folgte, brach Wollschläger bereits schon wieder mit seinem strengen Vorsatz, Kritiken gar nicht erst wahrzunehmen. Mehr noch, er schrieb auffälligerweise sogar eine nicht endenwollende Entgegnung darauf. Der selbsternannte Gralshüter des Schmidt'schen Werks reagierte verdächtig ausführlich auf Dieter Kuhns 1982 erschienenes Bändchen "Das Mißverständnis. Polemische Überlegungen zum politischen Standort Arno Schmidts". Kuhn hatte darin reaktionäre Ansichten, rassistische Figurenreden und politische Unsäglichkeiten aus Schmidts Œuvre zusammengetragen und den Schriftsteller - unter der allerdings literaturwissenschaftlich fragwürdigen Prämisse, diese Äußerungen seien stets auch immer gleich als Meinungsäußerungen des Autors Schmidt zu lesen - als konservativen Kleinbürger zu entlarven versucht. Der Glaube seiner Lesergeneration, Schmidt sei ein Linker, sei ein Missverständnis gewesen, konstatierte Kuhn. Dabei bekam natürlich auch Wollschläger sein Fett weg: "Seit ihm das Glück wiederfahren ist, von Schmidt ein paar wohlwollende Worte zu hören, seit er mit Schmidt zusammen Poe ins Deutsche übersetzen durfte (und es war gar keine Meisterleistung, verglichen mit den Texten seines Mitübersetzers), rankt er sich an seinem Mentor empor wie nur je eine parasitäre Kletterpflanze am Baum; und um den Vergleich zu Ende zu führen: heute ist er ein Hexenbesen am gefällten Stamm."

Das ist nun wirklich nicht gerade nett formuliert - und in einem Text, in dem man gegen diskriminierende Sprachelemente bei Schmidt protestiert, sollte man jemand anderen wohl besser nicht als "Parasiten" bezeichnen, da man so den inkriminierten Fehler selbst begeht. Doch Wollschlägers gefühlt 500-seitige, gestelzt formulierte Antwort auf Kuhns Suada nimmt sich am Ende nicht viel reflektierter aus - und ist gerade deshalb einer der bezeichnendsten Texte des Bands. Auch Wollschläger argumentiert in seiner Entgegnung nicht literaturwissenschaftlich, sondern abermals eher mit typisch deutschen Drohungen: "Sicher, das hat man mir natürlich auch geraten: den Kuhn wegen all dieser schlicht unwahren Tatsachenbehauptungen und -verbreitungen einfach einem Richter zu übergeben", schreibt er. Der Angegriffene versteckt sich also scheinheilig hinter radikalen Forderungen anderer, um sich die Folgen eines solchen juristischen Schrittes dann doch auffällig genüsslich auszumalen: "Gleichviel nochmals: eine Abstrafung nach dem StGB würde jedenfalls auch für den beamteten Lehrer Kuhn Folgen haben, die ich ihm nicht wünsche, so menschenfreundlich es andererseits wieder wäre, seine Lehrtätigkeit einzuschränken und ihn für eine Weile an einen Ort zu bringen, der Gelegenheit zur Besinnung gibt."

Die Wortwahl macht eben auch bei einem vielgerühmten Essayisten, dem man "geschmeidige Formulierungskunst" bescheinigte, die Musik: Wollschläger zieht Kuhns "geistige Gesundheit" in Zweifel, nennt ihn einen "armen Kopf" - und in pseudoironischer Bezugnahme auf eine Bemerkung seines Kritikers nennt er Rezensenten wiederholt "Wanzen und Läuse". So schillernd die betreffende Erörterung Wollschlägers an der Stelle auch klingen mag - selbst als "Witz" möchte man so eine offene Bezugnahme auf die Perhorreszierung kritischer Autoren im Nationalsozialismus einfach nicht mehr lesen.

Nachdem Literaturkritiker tatsächlich einmal als 'zu vertilgendes Ungeziefer' und 'Parasiten' verfolgt wurden, verbietet es sich, mit solchem Wortmaterial noch essayistische Ränkespiele frivol zu garnieren: Gerade Leute wie Wollschläger musste und muss man immer wieder daran erinnern, dass das von ihnen so selbstgerecht angefeindete Metier der Literaturkritik im Nationalsozialismus wirklich verboten wurde. So gesehen ist das von Kuhn aufgespießte Zitat, nach dem Wollschläger das Aufhalten des Verschwindens von Krikikernamen aus dem Gedächtnis für "nicht gerechtfertigt" hielt und das Kuhn im Blick auf den Akt der Auslöschung, den dies impliziert, als "kammerjägerhaft" charakterisiert, auch nach der Lektüre von Wollschlägers geharnischter Entgegnung mitnichten entkräftet. Auf Kuhns Argument, Wollschlägers Rezensentenfeindschaft sei von "bläßlicher Dummheit", weil seine Vorbilder schließlich selbst als Literaturkritiker aufgetreten seien, antwortet der Angegriffene jedenfalls, irgendwann begreife er "sicher auch die bläßliche Dummheit des Satzes, daß Lessing, Kraus und Schmidt schließlich auch Rezensenten gewesen seien - und daß die Wanzen und Läuse deshalb ein Anrecht auf Respekt hätten."

Heute fragt man sich anhand mancher durch Wollschläger in Erinnerung gerufener Bemerkungen Kuhns einmal mehr, ob dieser Autor bei aller über das Ziel hinausschießenden Polemik wirklich ein so "obsoleter Typus" war, wie sein zurückschlagender Metakritiker Wollschläger meinte: Trotz der Schrillheit und beklagenswerten Unwissenschaftlichkeit seiner Einwürfe lesen sich Kuhns Zitate in Wollschlägers Text oft bemerkenswerter, als viele der geschwätzigen und beleidigten, ja mit sozialer Vernichtung drohenden Antworten, die Wollschläger darauf präsentiert.

Wie konnte es aber überhaupt dazu kommen, dass dieser überschätzte Essayist zu einem solchen Ansehen gelangte und dass man für Empörung sorgt, wenn man es zur Abwechslung einmal wagt, den Kaiser in einer Rezension nackt zu nennen? Schmidtianer, die ihren Lieblingsautor distanzlos verehren, sind für unterkomplexe Superlativ-Hymnen auf den Meister sicher auch weiterhin leicht zu begeistern. Dass sich Wollschläger damit als Schmidts 'Schüler' auf durchschaubare Weise immer auch selbst gleich mit meinte, stört diese Lesergemeinde nicht weiter - im Gegenteil, diese plumpe Selbstbeweihräucherung ist bei ihnen immer bestens angekommen.

Seriöse Literaturwissenschaftler aber, die sich jenen Fragen zuwenden, die in Bezug auf Schmidt noch immer in kaum zufriedenstellender Weise beantwortet sind - unter anderem derjenigen nach der Rolle des Nationalsozialismus in seinen Werken - können die vorliegende Ausgabe getrost zum Anlass nehmen, auch ihren Autor als Teil eines unbewältigten Rezeptionsproblems aufzufassen und in ihre analytischen Überlegungen mit einzubeziehen. Denn eines führt die Sammlung dieser Essays und Interviews deutlich vor Augen: wie sehr sich Wollschläger mit seinen vernebelnden Lobhudeleien als Lenker einer lange Zeit überaus hagiografischen Schmidt-Rezeption zu profilieren versuchte und damit auch weitreichendes Gehör fand. Gerade die Zusammenstellung dieser bis heute folgenreichen rhetorischen Manöver in einem Band erleichtert es, ihre Suggestionen und Funktionsweisen als literarhistorisches Phänomen verstehen zu lernen.


Titelbild

Hans Wollschläger: Die Insel und einige andere Metaphern für Arno Schmidt.
Wallstein Verlag, Göttingen 2008.
367 Seiten, 29,00 EUR.
ISBN-13: 9783892442998

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