Die Welt ohne uns

Über Jean Baudrillards "Warum ist nicht alles schon verschwunden?"

Von Michael MayerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Mayer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es sollte sein letzter Text sein, testamentarisch vielleicht, in jedem Fall von verstörender Drastik. Die Zuspitzung, die ihn kennzeichnet, lässt in der Tat für eine alternative, die unterstellten Eindeutigkeiten unterlaufende Lektüre wenig Raum. Zumindest scheint es so: als Jean Baudrillard 2007 im Alter von 77 Jahren starb, hatte er das Rubrum, unter dem er in der Scientia communis gemeinhin abgehandelt wird, längst weg.

Der Theoretiker der Simulation, der Herrschaft referenzloser Zeichen, die nur noch sich selbst bedeuten, hatte vor allem in den 1970er und 1980er-Jahren einige der entscheidenden Stichworte der damals hitzigen Debatte markiert, hatte der Allerweltsfloskel vom "Turbokapitalismus" das begriffliche Inventar nachgereicht. Die marxsche Dialektik von Gebrauchs- und Tauschwert radikalisierend, beschrieb Baudrillard in "Der symbolische Tausch und der Tod" (1976, deutsch 1982) präzise, wie das kapitale Verwertungsinteresse mit einer tele-technischen Infrastruktur verschmolz, die die Realität als Ganze erfasst und im beliebigen Spiel der Codes auflöst. Der globale Transfer der Informationen verdecke die Ereignisse, von denen sie zu handeln behaupten. Die Grenze zwischen Realität und Fiktion verwische. Von der "Agonie des Realen" (1978) sprach Baudrillard; "Nihilismus" hätte das Friedrich Nietzsche genannt, den Baudrillard als Soziologe, studierter Germanist und einstiger Deutschlehrer gut kannte.

Das machte ihn berühmt. Das machte ihn einsam. Seine Prominenz, die damals vor allem auch den Diskurs der bildenden Künste prägte - man blättere nur in den einschlägigen Magazinen nach -, verhinderte nicht, dass er im Kreis der Kolleginnen und Kollegen seltsam isoliert dastand. Anschlussfähig war sein Denken nie. Wer ihn aber je erlebte, hörte, mit ihm sprach, war verblüfft über sein unprätentiöses Auftreten, seine Höflichkeit, ja Bescheidenheit, die zur Exzentrizität seiner in stakkatohaftem Stil vorgetragenen Thesen nicht recht zu passen schien. Das Hastige, Überschnappende in Zungenschlag und Gestus hatten sich mit der Zeit zwar abgeschliffen, war einer gekonnt rhythmisierten Argumentation gewichen. Doch von der Sache her blieb er kompromisslos.

Bis zuletzt. Und so auch mag die Frage, die seinen letzten Text titelt, als allenfalls rhetorische gelesen werden: "Warum ist nicht alles schon verschwunden?" Denn tatsächlich ist alles längst schon verschwunden oder dabei zu verschwinden: die Welt und das Reale, der Mensch und die Dinge, die Moral, die Werte, die Unterscheidung von Gut und Böse. Dass der Theoretiker einer universellen Verfallsgeschichte sich hartnäckig weigerte, die verheerende Diagnose therapeutisch zu mildern, ist wohl einer - vielleicht der Grund - warum es um ihn stiller geworden war. Seine unbestrittene Originalität münde in einem rabenschwarzen Pessimismus, der zu nichts mehr führe. Apokalyptische Weckrufe - werden sie nur oft genug wiederholt - ermüden selbst das aufgekratzte Publikum.

Doch wer es bei dem Attestat belässt, vergibt eine Chance. Der längst kongressaktenkundige Konsens verstellt eine Doppelbödigkeit, die alle Texte Baudrillards charakterisieren, zumal seinen letzten. Die Ambivalenz beginnt beim Begriff des Verschwindens selbst. Beschreibt er gleichsam auf der Oberflächenebene die negativ konnotierte Auflösung etablierter Wirklichkeits- und Wahrnehmungsmuster mit all ihren fatalen Effekten, stellt Baudrillard ihm klammheimlich, fast verschämt einen hiervor signifikant abweichenden Sinn entgegen: "Das Verschwinden kann jedoch auch anders gedacht werden, als singuläres Ereignis und als Objekt eines spezifischen Begehrens, als der Wunsch, nicht mehr da zu sein, der überhaupt nicht negativ ist, im Gegenteil: Das kann der Wunsch sein, zu sehen, wie die Welt in unserer Abwesenheit aussieht (Photographie), oder der Wunsch, über das Ende, über das Subjekt, über alle Bedeutung, über den Horizont des Verschwindens hinauszublicken [...]. Einen Bereich reinen Scheins, der Welt so wie sie ist."

Das aber, so Baudrillard, wären nichts anderes als die Prämissen einer Kunst des Verschwindens, einer anderen Strategie. Auch wenn sich diese allenfalls zaghaft angedeutete Aussicht sogleich wieder zu verschließen scheint, bleibt sie bestimmend. Was sich nämlich hier wie in einer Hohlform abzubilden beginnt, sind die Konturen einer Theorie der Kunst im Zeitalter einer umfassenden Derealisierung. Das Erregende dieses letzten Zeugnisses seines Denkens gründet in dieser nachgerade normativen Aufgabenbeschreibung künstlerischer Praxis als eines Versuchs, mit dem in Berührung zu kommen, was durch den Einsatz des tele-optischen Regimes distanziert wird: die Dinge, die Welt, Anderes, Andere.

Was nur wenige wissen, aber zu wissen sich lohnte: Baudrillard war ein passionierter Fotograf und zweifellos kein schlechter. Und so verbirgt sich in diesem kleinen Text nicht nur eine gewiss riskante Auseinandersetzung mit der Fotografie und dem Fotografischen Bild, sondern mit dem Begriff des Bildes überhaupt. Was er der digitalen Fotografie vorhält - ihr absoluter Mangel an Referenz wie ihre echtzeitliche Auslöschung des Aufschub zwischen Aufnahme und Entwicklung -, gerät der analogen zur Auszeichnung. Mit ihr träumt er von einem Bild, "das die écritue automatique der Singularität der Welt" wäre, ein Bild, das die Wirklichkeit nicht nach Maßgabe unserer Interesse und Vorstellungen je schon zurüstet, sondern sie so zeigt und in Erscheinung treten lässt wie sie wäre, hätte kein menschliches Auge sie je wahrgenommen.

Natürlich lassen sich die Einwände gegen diesen Gedanken beliebig programmieren: nicht nur erkenntniskritisch scheint sich Baudrillard in einer Aporie zu verfangen, aus der weder Transzendentalphilosophen noch Neurowissenschaftler ihm heraushelfen können oder wollen. Ebenso ist seine Demarkation, die er zwischen digitaler und analoger Fotografie aufbaut, zu technizistisch als dass sie zu überzeugen vermag. Nicht nur ist die Frage durchaus offen, ob nicht auch die digitale Fotografie, auch wenn sie keine optochemisch fixierte Lichtspur mehr auf ein Negativ brennt, einen signifikanten Realitätsbezug zu einem außerbildlichen Referenten unterhält. Strittig ist auch, ob man überhaupt sinnvoll von Referenz als einer medientechnischen Kategorie sprechen kann. Vielleicht ist der augenblickshafte Kontakt mit dem Realen, eben die Referenz, vor allem eine medienästhetische Frage: mithin eine Frage der Verwendung einer technischen Apparatur, deren künstlerisch reflektierter Einsatz eröffnet, was sie per definitionem verhindert: die Empfindlichkeit für eine Welt, die in dem Bild, das wir uns von ihr machen, nicht aufgeht.

Dass das Bild als Medium dieser Empfindlichkeit zu fungieren vermag, dass die Kunst, nicht zuletzt die bildende, an ihm arbeitet, definiert ihren stets paradoxen Einsatz: Ein Bild gegen die Herrschaft der Bilder zu finden, das Imaginäre gegen die imaginäre Hegemonie zu mobilisieren, eine Wirklichkeit zu suchen, die vor aller Augen zu liegen scheint und zugleich so fantastisch anmutet, so seltsam entrückt. Womöglich umschreibt der universelle Verblendungszusammenhang, den Baudrillard mit dem Begriff der Simulation übersetzte, tatsächlich das Schicksal des modernen Menschen. Zweifellos schockiert die Fatalität, mit der er auch in seinem letzten Text davon spricht. Doch schwingt bei alldem wie ein leiser, vielleicht zu leiser Oberton die Aufforderung mit, niemals damit aufzuhören, dieses Schicksal zu sabotieren.


Titelbild

Jean Baudrillard: Warum ist nicht alles schon verschwunden?
Übersetzt aus dem Französischen von Markus Sedlaczek.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2008.
120 Seiten, 12,80 EUR.
ISBN-13: 9783882217209

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