"Der Plural ist mein tägliches Brot"

Marica Bodrožic - eine deutsche Dichterin aus Dalmatien

Von Klaus HübnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hübner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Noch nicht einmal 30 Jahre alt war Marica Bodrožic, als sie sich mit dem Erzählungsband "Tito ist tot" (2002) ihren Platz in der deutschen Literatur eroberte. In 24 kurzen Erzählungen, die in der Zeit zwischen Titos Todestag (1980) und dem Umzug der Autorin nach Deutschland (1983) spielen, zeichnete sie mit unbefangenem Kinderblick poetische Bilder aus ihrem dalmatinischen Heimatdorf - leicht und schwebend, voll spätsommerlicher Melancholie bisweilen, aber doch nirgendwo düster.

Allerdings ist die Erzählperspektive ihres nuancenreichen und bildkräftigen Erinnerungs-Albums nur scheinbar unbefangen. Von der Großfamilie und den Großeltern wird erzählt, von Katzen und Eseln und vom Zauber längst verschwundener Alltagsdinge, vom Wind und vom Meer und vom Fels. "Im Blick des Kindes gewinnen die - in der Realität - kleinen und beschädigten Menschen des Dorfes eine schmerzende, manchmal fast mythische Größe", hebt der Kritiker Claus-Ulrich Bielefeld hervor. "So nah alles an der Realität angesiedelt ist, weist es doch über sie hinaus, gewinnt gleichnishaften Charakter [...]. Das Vergangene und Abgelebte bleibt auf geheimnisvolle Art lebendig, unzerstörbar".

Der sanfte, bisweilen fast magische Umgang mit der deutschen Sprache, der in seinen Verknappungen und Neologismen ungewöhnliche Tonfall dieser Prosa wurden bald bemerkt, und zudem war auch der Buchtitel gut gewählt. "Tito ist tot" wurde, gemessen an den für weniger bekannte Literaten geltenden bescheidenen Erwartungen, ein Erfolg, und erste Auszeichnungen, vor allem der Chamisso-Förderpreis im Jahr darauf, taten ein Übriges.

"Aber welches Gedächtnis hat der Abschied, welche Farbe, welchen Geruch?", heißt es ganz am Anfang des Romans "Der Spieler der inneren Stunde" (2005), in dem das viel zu früh Züge einer erwachsenen Frau annehmende Mädchen Jelena Abschied nehmen muss von ihrem Land und ihrer Sprache und, nicht ohne Vorfreude, aufbricht ins ferne Deutschland. Dalmatien ist bald nur noch das Ziel ihrer Ferienreisen, und doch trägt sie es, selbst wenn sie in der alten Heimat bald eine gänzlich Unbekannte wird, für immer in sich.

Marica Bodrožic erzählt den Roman einer Familie, die in gewisser Weise aus der Zeit fällt, in einer anderen ankommt und ihre "innere Stunde" dingfest zu machen versucht: "Warten auf nichts und auf alles und am meisten darauf, dass sie endlich älter und das Weggehen nur schon bald möglich würde. Aber wohin wollte Jelena eigentlich gehen? Die Zeit zog lange Fäden". So verrinnen die Jahre, und zugleich zieht in Jelenas einst bitterarmes Heimatland eine andere Zeit ein: "Die Lippen waren nun nicht mehr ungeschickt mit Himbeeren bemalt worden, jetzt musste man beweisen, dass man richtige Lippenstifte besaß". Das eigentliche Geheimnis der Zeit aber wird immer bleiben, "dass es die zukünftigen Fragen nicht ohne die alten Lücken erlaubte" - und so finden sich Jelena und all die anderen am Ende irgendwo, "in einer schon einmal geatmeten Ferne", in der Stille, "im Rücken der vergehenden Zeit". Der erste Roman, dessen Themen und Motive oft ganz unmittelbar an "Tito ist tot" anschließen, bestätigte das große Talent einer Dichterin, die ihren langen Atem für die große epische Form unter Beweis stellte und mit ihm zugleich die erste Phase ihres literarischen Schreibens abschloss.

In den Jahren 2007 und 2008 veröffentlichte Marica Bodrožic weitere Erzählungen, dazu zwei Gedichtbände und mehrere Essays, und ihr zweiter Roman mit dem Titel "Das Gedächtnis der Libellen" wird 2009 erscheinen. Die Autorin ist mitten im deutschen Literaturbetrieb angekommen, und ihre Lesungen sind in den Literaturhäusern zwischen Graz und Rostock ähnlich gefragt wie im Goethe-Institut, in dessen Auftrag sie, etwa in Nowosibirsk, ganz selbstverständlich die deutsche Gegenwartsliteratur repräsentiert. Eine erfolgreiche junge deutsche Schriftstellerin - und das hat vielerlei Gründe. Spielt womöglich auch die Tatsache eine Rolle, dass sie aus einer anderen Sprache kommt und sich das Deutsche, als Alltags- wie als Literatursprache, auf ihre ganz eigene Weise angeeignet hat? "Sehr oft werde ich aufgrund meiner schon im Vorfeld als Mehrwelt definierten Biografie nach dem DAZWISCHEN gefragt, nach dem Dazwischen der Sprachen, der Länder, der Echoräume, der Erinnerung", heißt es in ihrem Essay "Die Sprachländer des Dazwischen". Diese Frage jedoch führt weg von den Texten, die immer schon die "Mehrwelt" in sich tragen - poetische Gebilde, die natürlich aus Sprache gemacht sind und sich nicht allein von kroatisch-deutschen Befindlichkeiten her schreiben und verstehen lassen. "Auch das Dazwischen ist erst einmal ein Ganzes. Für mich als schreibenden Menschen ist es eine unerschöpfliche Quelle".

Die Werke eines Adelbert von Chamisso, Joseph Conrad, Vladimir Nabokov, Elias Canetti oder Joseph Brodsky beweisen nachdrücklich, dass Zwei- oder gar Mehrsprachigkeit in der Geschichte der Literatur nichts Neues ist - und diesen Werken wird man mit Sicherheit nicht gerecht, wenn man immer nur auf die Herkunft ihrer Schöpfer verweist, statt ihre ganz unterschiedliche poetische Gestaltung eines potentiell unendlichen Dazwischen in den Blick zu nehmen. Dieses dichterische Verzaubern der Welt geschieht bei Bodrožic in deutscher Sprache, und warum das so ist, hat sie in einem äußerst bemerkenswerten Essayband detailliert zu beschreiben versucht: "Sterne erben, Sterne färben" ist eine Art Liebeserklärung an die Möglichkeiten der deutschen Sprache, an ihre Musikalität und ihre Formenvielfalt. Eine Liebeserklärung übrigens, die mit aller Freude und Begeisterung am Gegenstand formuliert ist und gerade deshalb höchst plausibel erscheint, ein spracherotisches Manifest von großer Zärtlichkeit und Überzeugungskraft, das man allen uns täglich umgebenden, im Alltag wie in den Medien oft recht sinnfrei dahinplappernden Verächtern des Deutschen dringend empfehlen muss. "Meine Ankunft in Wörtern" lautet der Untertitel dieses Groß-Essays, in dem es gleich zu Beginn heißt: "Aber erst in der deutschen Sprache wird mein eigenes Zuhause für mich selbst hörbar". Gerade durch den Entzug alles Vertrauten gewinnt die Autorin ihre dichterische Freiheit im Umgang mit der deutschen Sprache, und den blutigen Zerfall des Staates, in den sie 1973 hineingeboren wurde, nimmt sie mit deutschen Augen und Ohren wahr: "Nur mit dem Schutzdamm der deutschen Sprache konnte ich vor dem Fernseher meine eigenen Tränen zurückhalten". Das ist die wahre Geburtsstunde der Schriftstellerin Marica Bodrožic. "Alles, was ich bin, bin ich mit diesen Menschen geworden, bin es mit und unter ihnen schon als Kind gewesen. Lange Zeit glaubte ich mich in der deutschen Sprache jenseits davon [...]. Als ich zu schreiben begann, das Gesicht des Großvaters mit deutschen Wörtern betretend, dieses Gesicht der Liebe, sprach auch dieses erste Menschenland mich an, sprang aus mir heraus und wurde eine autonome Welt, wurde das, was es in all den Jahren in mir ohnehin gewesen ist. Das sprachgenaue Wissen um diese Welt hat mich zu einem Menschen mit Gedächtnis gemacht".

Dass die Wörter, die deutschen Wörter, als Echoräume unzähliger Ideen und Gedanken dienen können, dass man der Sprache vertrauen kann wie einem Fluss, in dem man schwimmt und der einen hinaus trägt ins offene Meer - das ist die Grunderfahrung, die sie in ihrem wunderbaren Essay an einleuchtenden Beispielen beschreibt und vorführt. "Sterne erben, Sterne färben" sollte, so formuliert es der Germanist Jörg Drews, "ein Standardwerk sein als Antwort auf die Fragen: Warum sollte man Deutsch lernen?, und: Ist die deutsche Sprache schön?". Man sei es einfach nicht mehr gewohnt, dass jemand die deutsche Sprache so sehr braucht und so sehr lieben kann, stellt der Kritiker Burkhard Müller erstaunt fest, und Walter Hinck, einer der großen deutschen Germanisten der älteren Generation, spricht von einer "Huldigung an die Sprache". Viel Lob und viel Ehre also für die junge Sprachkünstlerin, und das vollkommen zu Recht.

"Die Lektüre von Marica Bodrožic' Texten versetzt den Leser zuweilen in ein eigentümliches Schweben, Schwanken, auch Strudeln, führt ihn in Räume, in welchen er sich mitunter tastend, im Vertrauen auf die eigene Wahrnehmung des Begreifens, zurechtfinden muss", schreibt die Publizistin Katharina Herzmansky über den 2007 erschienenen Band "Der Windsammler", der elf märchenhafte und realistische - "traumwirkliche" - Erzählungen enthält. Die Erfahrung des Fremdseins, die des Übersetzens in eine andere Welt und Sprache, die des Ankommens in einer neuen Sphäre wie die des Abgeschnittenseins und des Verlusts der alten findet in diesen meist in der dalmatinischen Inselwelt spielenden Prosatexten ihren prägnanten poetischen Ausdruck. Viel intensiver als in "Tito ist tot" oder "Der Spieler der inneren Stunde" vertraut die Autorin nun ihrer assoziativ-kreativen Sprachfantasie. Der neue, traumverloren-märchenhafte Sprachduktus macht die Lektüre ihrer Texte nicht unbedingt einfacher, aber es macht sie knisternder und letztlich noch beglückender. Denn Bodrožic gelangt, in der bewährten Form der Prosaerzählung bleibend, weit hinaus über das bloße Geschichtenerzählen, sei es auch noch so komplex und raffiniert. "Ich lernte, dass Dinge nicht nur Dinge sind und Wörter nicht nur Wörter", heißt es in der Erzählung "Der Vorhof der Ewigkeit". Und: "Die Wahrheit hinter der Wahrheit ist eine ganz andere Wahrheit".

Dass die Wörter nicht nur Wörter sind und ihre außergewöhnliche Kombinatorik eine ganz andere Wahrheit zum Vorschein kommen lässt, zeigen vor allem die beiden Gedichtbände. Schon ihre zunächst durchaus rätselhaften Titel sind Programm: "Ein Kolibri kam unverwandelt" heißt der eine, "Lichtorgeln" der andere. Wobei man sich bei den synästhetisch durchwehten Textflächen der "Lichtorgeln" durchaus nicht sicher sein kann, ob es sich hier überhaupt um einen Gedichtband handelt oder ob der universalpoetisch freie Umgang mit Sprachpartikeln nicht vielmehr jegliche Gattungsgrenze aufsprengt. Kindheit, Muttersprache, Naturempfinden und Balkankrieg bleiben auch hier thematische Bezugspunkte, und natürlich immer wieder auch die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten der Sprache. "Wenn Marica Bodrožic die Einheit der Synästhesie in Sprache vereinzelt, gewissermaßen in Einzelteile zerlegt, dann entstehen jene unvermeidlichen Wortinseln, die nur das Wagnis, ins Unheimliche des Dazwischen einzutauchen, miteinander verbinden kann", bemerkt Nadja Wünsche in der "FAZ".

Die Allbezüglichkeit der Sprache und, damit verbunden, eine den Leser zunächst irritierende und ihn bald in ihren Bann ziehende Explosion von ungewöhnlichen, fast immer faszinierenden Neologismen prägen wesentlich den Charakter der Lyrik von Bodrožics. Und genau das ist etwas eigentümlich Neues, etwas die Ausdrucksmöglichkeiten des Gedichts beglückend Bereicherndes in der deutschsprachigen Poesie der Gegenwart. Trotzdem wird es die Lyrikerin schwer haben, wie die meisten ihrer Kolleginnen und Kollegen auch. Ihre sinnlichen, fast körperlichen Gedichte verdienen aber Beachtung, und man kann sich gut vorstellen, dass sie ihre Wirkung beim Vortrag am eindringlichsten zu entfalten vermögen. Zu unserem Glück scheut die Autorin öffentliche Auftritte nicht, und womöglich begegnet man ihr bald einmal in einer Buchhandlung, einer Schule oder einem Literaturhaus.

Werke (Auswahl)

Tito ist tot. Erzählungen. Frankfurt am Main 2002 (Suhrkamp).

Der Spieler der inneren Stunde. Roman. Frankfurt am Main 2005 (Suhrkamp)

Sterne erben, Sterne färben. Meine Ankunft in Wörtern. Essay. Frankfurt am Main 2007 (Suhrkamp)

Der Windsammler. Erzählungen. Frankfurt am Main 2007 (Suhrkamp)

Ein Kolibri kam unverwandelt. Gedichte. Salzburg 2007 (Otto Müller)

Lichtorgeln. Gedichte. Salzburg 2008 (Otto Müller)

Die Sprachländer des Dazwischen. Essay. In: Uwe Pörksen / Bernd Busch (Hg.): Eingezogen in die Sprache, angekommen in der Literatur. Positionen des Schreibens in unserem Einwanderungsland (= Valerio 8). Göttingen 2008 (Wallstein)

Das Gedächtnis der Libellen. Auszug aus einem Roman. In: manuskripte 181/2008, S. 36-40

Titelbild

Marica Bodrožić: Tito ist tot. Erzählungen.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2002.
154 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-10: 3518413082

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Marica Bodrožić: Der Windsammler. Erzählungen.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2007.
182 Seiten, 16,80 EUR.
ISBN-13: 9783518419144

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Marica Bodrožić (Hg.): Ein Kolibri kam unverwandelt. Gedichte.
Otto Müller Verlag, Salzburg 2007.
110 Seiten, 17,00 EUR.
ISBN-13: 9783701311262

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