Eine gute Zeit für Drogen

Wiederbegegnung mit Ernst Jüngers "Annäherungen"

Von Christophe FrickerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christophe Fricker

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ernst Jünger backt nicht gern kleine Brötchen. Auch dann nicht, wenn es um Hasch-Kekse geht. Oder um LSD. Darauf trinkt er gern noch eine Flasche Rotwein. Wie jeden Abend. "Annäherungen. Drogen und Rausch" ist das Logbuch eines (schon zum Zeitpunkt der ersten Veröffentlichung 1970) langen Lebens mit Drogen.

Es liegt nun in einer Neuausgabe vor, wiederum im Verlag Klett-Cotta, der Jüngers Werke vorbildlich betreut. Das Buch selbst kann wie eine Einstiegsdroge ins Jünger'sche Werk wirken. Es wird in 315 Dosen (Abschnitten) verabreicht und ist eine Kulturgeschichte der Rauschmittel in Europa, im "Orient" und in Mexiko. Es berichtet darüber hinaus ausführlich von Jüngers persönlichen Erfahrungen mit Drogen zu verschiedenen Zeitpunkten, deren historische Situation stets klar umrissen wird. Welt- und individualhistorische Ereignisse sind locker miteinander verwoben. Systematisierende Definitionen finden sich nur wenige. Das führt zu der irritierenden, aber für Jünger charakteristischen Unübersichtlichkeit der behandelten Themen: Jüngers unbeugsame Bildung streift von Ariost zu Hieronymus Bosch, vom Großen Barriere-Riff nach Walhalla, von Baudelaire zum Apostel Paulus, und weil das noch nicht ausreicht, müssen sechs Parerga unter anderem klären, ob Hunde oder Katzen besser sind, und welcher preußische König der beste war. Jünger ist hier in Hochform, und wer keines seiner Bücher gelesen hat, findet hier die wichtigsten Themen in fesselndem Ton angesprochen.

Warum das alles im Zusammenhang mit Drogen? Jüngers Drogenkonsum hat eine negative und eine positive Seite: Die negative besteht in seiner Abwendung von der Welt des Arbeiters. Der ist, wie 1932 festgestellt, nicht der noch auf der bürgerlichen Machtmatrix verortbare Proletarier, sondern jene moderne Gestalt, für die jeder Bestandteil des eigenen Lebens Arbeitscharakter erhalten hat. Es ist, um es mit zwei Beispielen aus der gegenwärtigen Kulturstufe zu illustrieren, der Facebook-User, der mechanisch morgens einzeilige Geburtstagsgrüße verschickt, weil er sich durch seine Mitgliedschaft im Netzwerk dazu verpflichtet fühlt. Und es ist der Sportler oder Sportfan, für den der Agon zur Statistik geworden ist; die Berichterstattung von Leichtathletik-Ereignissen auf einem Sportkanal ist visuell der Präsentation der Börsennachrichten eng verwandt. Während Jünger 1932 emphatisch die Teilnahme an einer solchen Welt forderte, änderte er im Lauf der folgenden Jahre seine Bewertung jener Arbeitswelt, an deren Diagnose er gleichwohl stets festhielt. Mit den meditativen Tagebüchern der späten Dreißiger und frühen Vierziger, mit der traumwandlerischen Zweiten Fassung des "Abenteuerlichen Herzens" (1938), mit der allegorischen Long Story "Auf den Marmorklippen" (1939), den kritischen Kriegstagebüchern und schließlich dem programmatischen Essay "Der Waldgang" (1951) wurde Jünger zum Anwalt des Widerstehens.

Hier setzt die positive Seite seiner Beschäftigung mit den Drogen an: Sie sind ihm ein Weg zurück aus der Berechnung in die Fülle, aus der Berechenbarkeit der Arbeits-Gesellschaft in die Zuverlässigkeit der bergenden Natur (das Wort sei hier im weitesten Sinne gebraucht). 1951 - mitten im Wirtschaftswunder - macht er die ersten LSD-Experimente, 1970 - mitten im sozialen Umbruch - die letzten. Manche von dessen Agenten, die ihn noch verteufeln, preist er für ihren Unwillen, am Ringen um Erfolg und Profite teilzunehmen: "Sie stellen vielleicht, ohne es selbst zu ahnen, den Vortrupp des Widerstandes gegen die technische Welt und ihre Wertungen, sind weder Revolutionäre noch Gegenrevolutionäre, sondern wirken durch Nichthandeln" (Eintrag im Tagebuch am 14./15. Juni 1966).

Zwei Dinge interessieren Jünger im Zusammenhang mit der Befreiung des Menschen: neue Möglichkeiten künstlerischer Produktivität, und der erneuerte Kontakt mit der Grenzen überschreitenden Fülle der Welt, aus der Götter geschaffen werden. Individuelle Autorschaft auf der einen Seite also, Theogonie auf der anderen. In dem Chemiker Albert Hofmann (1906-2008) hatte Jünger einen naturwissenschaftlich geschulten Gesprächspartner, der die geistige Dimension der Suche nach bewusstseinserweiternden Mitteln verstand und in gemeinsamen Experimenten ins Spiel brachte. Hofmann sah, dass sich etwa im Zusammenhang mit dem Opium auch Wissenschaften verändern, weil ihnen Neues in den Blick kommt. Er stellte die Frage, die auch den Nihilismus-kritischen Jünger umtrieb: die Frage nach der Integrität des Menschen. Wird der Mensch durch seinen Drogenkonsum nicht selbst, durch sich selbst, verändert - erschafft er sich in einem prometheischen Akt neu? Für Jünger sind diese Veränderungen Teil eines evolutionären Prozesses an der "Zeitmauer", der den Menschen aus der Geschichte herausführt und der "im Reich der Träume wie in dem der Moleküle" zugleich stattfindet. Herstellung und Konsum von Drogen stehen emblematisch dafür.

Der Begriff Annäherung steht für die abenteuerliche Reise des Berauschten hin zu einem Reich, das in sich vielfältig ist, sich aber stets durch seine Fülle auszeichnet. Es ist wirklich, lebendig und urvertraut: Der Platoniker Jünger versteht es als des Menschen Heimatland, als den Urtext, gegenüber dem das unberauschte Leben nur die schwache Übersetzung ist, als das Eine jenseits des Vereinzelten, als das Bild hinter der Erscheinung. Jünger spricht vom "Sein", bevorzugt aber, wie stets, den Begriff des "Ungesonderten". Der Neuplatoniker Jünger erkennt in der Annäherung stets schon die sich intensivierende Präsenz dieses universalen und immer auch vergeistigten Lebens, dessen Bote die Pflanze ist.

Im Zeitalter der atomaren Bedrohung hält Jünger emphatisch an der Unzerstörbarkeit des Lebendigen fest. Die Sehnsucht des Menschen danach ist unstillbar und wird gerade in der Nähe des Todes dringend. Zur Vereinigung mit der heimatlich ungesonderten Sphäre reicht freilich die sich öffnende, aber noch selbstbestimmte Suche des Menschen nicht aus. Kirchen und Kulte können sie ebenso wenig herstellen wie Pflanzen, insofern sie genutzt werden. Selbst die "höhere Neugier" (Jünger verwendet den Begriff auch in der Erschießungsszene im Pariser Tagebuch - Verbindungen wären auszuloten) ist kein Werkzeug. Der Mensch bedarf der Zuwendung, des Eintretens des (anonymen) Göttlichen. Er darf darauf vertrauen, dass diese Zuwendung jederzeit und an jedem Ort möglich ist: Jeder Schritt ist ein Schritt in die richtige Richtung. Indem Jünger die gelingende Annäherung mit dem "Es ist vollbracht" der Passion bezeichnet, weist er auf die gefährliche, augenscheinlich todbringende Seite des Rausches hin, der den Menschen aus den Zusammenhängen reißt, die er für das ganze Leben hält; und auch darauf, dass ein solches Sterben "misslingen" kann. Wenn es gelingt, ist ihm aber nicht die Verbindung mit einer jenseitigen Heimat wieder gefunden, sondern die Verwurzelung im gegenwärtigen Leben wahrnehmbar erneuert.

Die Bestandsaufnahme der Varietäten und Effekte von Drogen fällt umfassend und weitestgehend wohlwollend aus. Immer wieder spricht Jünger von der Heiterkeit und Gemütlichkeit vieler Berauschter; sie werden angenehm. Andere aber werden unangenehm, erschöpft oder langweilig. Die Widersprüche sind Indizien für die umfassende Bedeutung des Phänomens. Vom dionysischen elementaren Mysterium zur Trinkfestigkeit des germanischen Gottes Odin mustert Jünger berauschende Getränke. Er spart aber den sexuellen Rausch nicht aus und gelangt von da aus zu Krankheiten und Mord aus Eifersucht, womit das Drogenbuch zur ebenso farbenfrohen wie zwielichtigen Sittengeschichte wird.

Aber keine Sorge: Der allem Puritanischen abgeneigte Jünger kommt nicht ins Moralisieren. Er erklärt den Staat, der den Drogenkonsum seiner Bürger beschränken will, für doppelzüngig, solange er Kriege führt (ein Wort Gottfried Benns). Zugleich sieht er den Umgang mit der Unmäßigkeit als eine Frage des individuellen Charakters: Jeder genießt anders, je nachdem, wer er ist, und wie er angesprochen wird. Damit wird der Drogenkonsum zur Frage nicht nur der Gewohnheit, sondern auch des Talents. Wenn Jünger gleichwohl feststellt, dass "vor jeder Droge gewarnt werden muß", so tut er das aus zwei Gründen: erstens aus Sorge darum, dass sich bei übertriebenem Genuss die Wirkung einer Droge nicht mehr einstellt; der Mensch hat sich dann vom Feiernden zum Konsumenten degradiert. Und zweitens aufgrund der Ambivalenz dessen, was dem Berauschten vor die Sinne kommt: kannibalische Phantasien sind leichter heraufzubeschwören als zu verarbeiten. Die Persönlichkeit, auch die soziale, des Berauschten wird durch den Rausch verändert: Was immer er gesehen hat, wird an ihm, als Aura, sichtbar.

Um die Aura des Designer-Drogen konsumierenden Ravers und des koksenden Journalisten ist es wohl weniger gut bestellt: Sie verlassen sich laut Jünger auf die Arbeit der Pharma-Industrie, auf die Produkte der Wissenschaft, die der Steigerung von Leistung und Motorik dienen. Für Jünger sind sie nicht Rauschmittel, sondern Treibstoff. Sie führen nicht zum außerordentlichen Bild, sondern festigen die Normalität. Sie sind nicht Weg zur Gemeinschaft, sondern narzisstisches Instrument: Wer sie einnimmt, sieht sich, ohne sich zu erkennen. Jünger, dem Apodiktischen weniger abgeneigt als dem Definitiven, urteilt hart: Niemand kann sich auf Dauer entfliehen, das heißt niemand kann sich auf Dauer selbst ignorieren. Mehr Trost als Drohung ist die Feststellung, der Moment der Erkenntnis werde kommen; die Chance zur Vereinigung mit dem kosmogonischen Eros hat der, der in einer Nacht im Tunnel "mit der Stoppuhr den Orgasmus mißt", nicht verspielt.

"Annäherungen" ist auch Jüngers Autobiografie - vielleicht nicht seine einzige, aber wohl die umfassendste. Ein Leben mit Rauschmitteln: Bier bei den Wandervögeln, in der Schule, im Ruderklub, mit Drill und methodischem Trinken, und in der Folge ein toxikologisches Allerlei, durch das Jünger Kriege, Inflation, Zwielicht, Revolution und Restauration darstellt. Seine zahlreichen Reisen manifestieren sich in einer putativen Kulturgeografie des Rausches, in der er Länder des Bieres und des Weines mustert (mit dem Caveat, dass das keine methodische Unterscheidung ist). Er spricht von Wein und Brot, von der Sonne und den Elementen. Der Ton ist der des Teilnehmers und des distanzierten Beobachters: mal gelöst und weit ausholend, dann wieder präzise und nüchtern.

Dem Leser wird vorgeführt, wie dem LSD 'gerecht zu werden' sei oder wie etwas 'bei Gelegenheit' probiert wird, weil es ja 'nichts schaden konnte'. Formal ist "Annäherung" ein Hybrid aus Traktat und Tagebuch. Auf letzteres verweisen Formulierungen wie "ich habe eben..." oder "wir schreiben heute...". Die nüchterne Seite des Buches ist schon der experimentellen Anlage mancher Drogentage eingeschrieben: Dankbar notierte Jünger, wenn "eine Art von soziologischer Tarnung das Ungehörige milderte", das bald beginnen würde. Freilich bestätigen die minutiösen Mitschriften, die Jünger während mancher Experimente anfertigte, seine Warnung vor der Unzulänglichkeit des Wortes, und sie zeigen zugleich, dass für die literarische Kreativität im engeren Sinne nichts zu holen war. Wo sich die Zeichen selber beleben, wird das Schreiben weniger wichtig.

Welche Wirkung kann der Rausch beziehungsweise der eben noch Berauschte auf die Gesellschaft haben, die ihn nicht sanktioniert? Jünger untersucht die Implikationen des Drogenkonsums auf Zeitbegriff und Zeitwahrnehmung. "Annäherungen" schließt an den "Waldgang" an, indem davon ausgegangen wird, dass Zeit zum Raum werden kann, und dass ein Raum außerhalb der Zeit denkbar ist (der Wald).

Der Berauschte tritt aus der Zeit heraus und damit aus ihren Urteilen und Vorurteilen. Jüngers nächster Schritt ist die implizite Umwidmung des Bildfeldes "Ausstieg / Eintritt". Im Moment der Rückkehr aus dem nicht sanktionierten Rausch (in dem das Heimatliche wieder evident wurde) erfolgt der "Übertritt" in eine neue historische Situation. Der Berauschte hält sich (schon allein durch seinen Rausch, aber auch durch das dadurch induzierte Verhalten) nicht an gesellschaftliche Konventionen. Es gelte aber: "jeder Umsturz fängt beim Grüßen an". Wer den richtigen Gruß verweigert, provoziert. Den Mut zur Verweigerung bringt der Berauschte oft leichter auf als der nüchtern Kalkulierende.

Während der Beginn des Rausches als "Vollbringung" mit der Passion in Verbindung gebracht wurde, eignet der Rückkehr (ins Diesseits, wohlgemerkt) ein "Auferstehungsschimmer". Jünger enthält sich konkreter politischer Beobachtungen, dazu ist seine Perspektive zu sehr auf historische und anthropologische Muster gerichtet. Sein Augenmerk liegt auf der Wiederbegegnung mit einer Sphäre, aus der heraus historische und politische Alternativen denkbar werden. Das ist auf der einen Seite "Löschung" von Loyalitäten und Verstrickungen, auf der anderen Seite ein neues Erwirken des 'unmittelbaren Bildungstriebs', der sich künstlerisch, aber auch in anderen Bereichen des menschlichen Verhaltens manifestieren kann.

Eine der schönsten Erfahrungen des Rausches liegt "in der freien und heiteren Entfaltung der Persönlichkeit, vor allem im Gespräch". Ein unerwartetes Ergebnis von Jüngers pantheistischem Drogen-Enthusiasmus ist die letztendliche Relativierung des Drogenerlebnisses: Zwar realisieren Rauschmittel den lange vergessenen Wideranschluss an eine vollere Welt, aber dieser Anschluss ist nicht anders als derjenige, der in der Umarmung und im Gebet geahnt wird. Jünger fragt daher, ob der "legitime Weg nicht über Fasten und Beten" führt - während das Ziel von unübertrefflicher Bedeutsamkeit ist, gehören die Wege der Annäherung zu den von Jünger mit Sorgfalt und Risikobereitschaft erkundeten Akzidenzen.


Titelbild

Ernst Jünger: Annäherungen. Drogen und Rausch.
Mit einem Vorwort von Volker Weidermann.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2008.
456 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783608938418

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