Lange Zeit bin ich früh joggen gegangen

Wir lesen Jochen Schmidt, der Marcel Proust liest

Von Georg PatzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Georg Patzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ja, auch Marcel Proust wollte man immer schon mal lesen. Aber wie nähert man sich so einem Brocken von 3.800 Seiten? Da gibt es nur eins: Man muss sich durchkämpfen. Und bei einem so riesigen Werk muss man Passagen seitenweise anstreichen, die einem ins Augen stechen, Sätze und Formulierungen laut vor sich hin murmeln und im Buch markieren, eigene Gedanken dazuschreiben, alles kommentieren, vielleicht auch eine Liste erstellen von all den Leuten, die immer wieder vorkommen, damit man nicht den Überblick verliert. Und am besten ist es, wenn man sich bei dieser doch sehr langen Lektüre auch noch überlegt, was es denn mit seinem eigenen Leben zu tun hat. Denn: Wozu liest man sonst? Noch dazu so ein Monsterwerk?

Der Journalist und Schriftsteller Jochen Schmidt hat sich vor zwei Jahren vorgenommen, jeden Tag 20 Seiten von Prousts "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" zu lesen, und hat alles schön in einem Internet-Blog dokumentiert: seine Lesefortschritte, seine Überlegungen dazu, seine Verwirrungen, seinen Frust damit. Auch seinen Alltag hat in diesem öffentlichen Tagebuch gleich mit dokumentiert. Jeden Tag las man da mit ihm, freute sich mit ihm, freute sich auf den nächsten Tag, wo man sicher sein konnte, dass es weiterging, und konnte sich so auch die eigene Lektüre des Mammutswerks gleich ersparen. Denn er las es uns ja quasi "vor". Jetzt ist das Konvolut als Buch erschienen, ein wenig bearbeitet, mit einer CD, auf der er daraus vorliest.

Es beginnt mit der Bemerkung: "Lange Zeit bin ich früh joggen gegangen." Diese Frechheit, die sich auf Prousts berühmten ersten Satz "lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen" bezieht, ist typisch für Schmidts Ton. Denn er hat keine Ehrfurcht vor dem großen Autor und seinem Riesenwerk. Er erkennt zwar an, dass hier ein großer Autor am Werk ist. Aber Schmidt zeigt auch die ganzen Schwächen auf, die dieses große Buch hat: Die überlangen Sätze, die manchmal über viele, viele Zeilen gehen. Die akribischen Aufzählungen aller, selbst der kleinsten Details, die man dann irgendwann auch gar nicht mehr alle wissen will und die ein normaler Leser wahrscheinlich irgendwann zu überblättern anfängt. Die einen dann manchmal doch wieder in den Bann ziehen. Und doch: Muss das alles so ausführlich sein? Schmidt meint dazu: "Ein bisschen hat es was von Abarbeiten, Proust muss eben allen Erscheinungen [...] eine eigene Deutung abgewinnen". Oder er schreibt über seine Methode, es sei ein "genaues Observieren, bis man die Materie durchdringt und über das Sichtbare hinaus zu halluzinieren beginnt".

Und so liest Schmidt und hält seinen Plan stringent durch, auch wenn er manchmal mit diesem so ausführlichen Buch hadert. Systematisch liest er sich weiter vor, systematisch und gleichzeitig manchmal unsystematisch, ungeordnet und in wildem Denken durchforscht er den Text und denkt darüber nach. Dabei interessieren ihn literaturwissenschaftliche Standards überhaupt nicht. Schmidt will auch die Forschungen über Proust nicht zur Kenntnis nehmen, schlägt keine Fremdworte nach. Sondern will ein ganz einfacher, normaler Leser sein. Als er erfährt, dass das Vorbild für Albertine, Marcels Geliebte, ein Mann ist, störte ihn das dann doch sehr.

Man erfährt auch viel über Schmidts alltägliches Leben in Berlin und Odessa, über seine Reisen und den Familienalltag, den Stasibericht über seine Mutter, Haushaltsgeräte und Computer, die nicht so wollen wie sie sollen. Oft merkt Schmidt an, dass er zwar etwas "von den flüchtigen Dingen, die einem im Leben passieren" aufschreibt, aber er ahnt auch, dass er sie inzwischen "vielleicht nur beachtet, weil man durch die Brille von Proust sieht". Proust als Beobachtungsschärfer? Durchaus, denn dieser Autor zeigt ja auch, aus welchen Kleinigkeiten die Welt besteht. Und auch das lehrt Proust, und - mit ihm - Schmidt: Dass man sich nicht "für seine sinnlosen Aktivitäten schämen" müsse, etwa wenn man "eine Nachtlang eine Blüte betrachtet, um ein versunkenes Gefühl wieder zu finden".

Eine seiner schönsten Ideen sind Schmidts witzige, respektlose, kurze Nebenbeikategorien. Wie die "verlorene Praxis". Da listet er alles auf, was heute nicht mehr geht: Einen "Rohrpostbrief schreiben", oder: "Während man seiner Frau den Mantel umlegt, ihre Kolliers arrangieren, damit sie nicht im Futter hängen bleiben." Oder: "Es für eine Form intellektueller Überlegenheit halten, leicht an Langeweile zu leiden." Oder die Kategorie "unklares Inventar" wie Griseldis oder "bei Potin kaufen", Gallégläser, Zinshahn oder Alfanzereien. Wie schnell das alles verschwindet. Aber deswegen handelt das Buch ja auch von der verlorenen Zeit.


Titelbild

Jochen Schmidt: Schmidt liest Proust. Mit CD.
Verlag Voland & Quist, Dresden 2008.
608 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783938424315

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