Thema verfehlt, Vielfalt gewonnen

Das kulturwissenschaftliche Jahrbuch "Moderne" stellt in seiner zweiten Ausgabe nicht nur hinter den "Iconic Turn" ein Fragezeichen

Von Peter C. PohlRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter C. Pohl

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es gibt zwei Themen, die einen roten Faden für das "Iconic Turn?" betitelte Jahrbuch "Moderne" hätten darstellen können. Naheliegend wäre einerseits die Frage gewesen, ob man mit Gottfried Boehm von einer dem linguistic turn vergleichbaren Wende zum Bild sprechen kann: Gibt es eine eigenständige Logik der Bilder? Zum anderen hätte man die interdisziplinäre Herangehensweise problematisieren können: Kann man die verschiedenen Disziplinen, die Bilder als Erkenntnisquelle und -gegenstand behandeln, unter dem Dach der Kulturwissenschaft vereinen?

Seit der Neugründung der Kulturwissenschaft steht sie im Ruch, Vielseitigkeit zu fördern und Vertiefung zu verhindern. Das betrifft die Debatten der 1990er-Jahre und gilt bis zum heutigen Tag. Daraus erklären sich eine Reihe von Anforderungen, die man als Kulturwissenschaftler an interdisziplinäre Publikationen stellt: Sie sollen kulturelle Phänomene vielschichtig behandeln, ohne beliebig zu wirken. Sie sollen Vielfalt dort affirmativ aufgreifen, wo Vereinheitlichungen nicht möglich scheinen. Der zweiten Ausgabe des in Innsbruck erscheinenden Jahrbuchs ist dies aber nicht gelungen. Das ist umso ärgerlicher, als die fachliche Qualität vieler Beiträge überzeugt.

Insbesondere die Einleitung erfüllt nicht den Zweck der Vorstellung der einzelnen Beiträge und ihrer argumentativen Rahmung. Zwei Beispiele: Die Herausgeber sagen, dass sich bildzentrierte Wissenschaften wie die "Archäologie" durch die "archivarische[n] Vermögen" der "Fotografie" etabliert hätten. Das ist ungenau. Zumindest die klassische Archäologie ist eine Wissenschaft, deren Institutionalisierung weitaus älter ist. Und selbst wenn man ihre Gründung nicht auf das Jahr 1762 datiert, als sie Johann Joachim Winckelmann ausruft, sondern noch vier Jahrzehnte wartet, bis für Winckelmann der erste Lehrstuhl für klassische Archäologie eingerichtet wird: Es fehlen noch vierundzwanzig Jahre bis zur ersten Fotografie von Nièpce. Ungenauigkeiten gibt es auch in der Zusammenfassung der Aufsätze, wo es heißt, "in der Sattelzeit vor hundert Jahren", also um 1900, habe es eine Verlagerung im Text-Bild-Verhältnis gegeben. Die Sattelzeit ist ein feststehender Begriff, der auf den Historiker Reinhard Koselleck zurückgeht. Er bezeichnet den Übergang von der frühen Neuzeit zur Moderne (ca. 1750-1850). Der Autor des Artikels, Dominik Schnetzer, spricht aber auch gar nicht von dieser Sattelzeit, sondern von einer "massenmedialen Sattelzeit" - einem mediengeschichtlich überaus interessanten Konzept, vorausgesetzt man benutzt es richtig.

Auch bei der Gliederung und dem Verhältnis von Titel und Textauswahl finden sich weitere Kritikpunkte. So gibt es zwei Sektionen: Unter dem Rubrum "Iconic Turn" finden sich zehn, unter dem Titel "Moderne" zwei Beiträge. Weshalb, bleibt unklar. Denn mit Martin Mittelmeiers Aufsatz "Die Besänftigung der Katastrophe. Bildpolitik bei Goethe und Proust" fällt einer der wenigen Texte in die zweite Sektion, die sich dezidiert mit dem Iconic turn auseinandersetzen. In seiner diskurstheoretisch inspirierten Goethe- und Proust-Lektüre wird rasch deutlich, dass es mit einer eigenständigen Logik der Bilder (Boehme) nicht allzu weit her ist. Vielmehr zeigt Mittelmeier, wie die Visualisierung im Kontext der Moderne sozial und individuell konstruiert wurde, welche Zwecke sie hatte und welche Gefahren die Autoren in Bildern sahen, die auf halluzinative Weise Wünsche erfüllten.

Eine weitere eigenständige Auseinandersetzung mit dem Titelthema findet sich im Aufsatz "Iconic Turns" von Jasmin Mersmann. Sie untersucht "[d]ie Wende zum Bild in Bildern von Wenden" und vermag am Beispiel visualisierter Umbruchsituationen, wie Camille Flammarions "L'Atmosphère", "bildliches Potential ernst zu nehmen, zu analysieren und kreativ zu nutzen". Dem Beitrag geht es darum, die Bildlichkeit der Wende nicht aus den Augen zu verlieren. Den Turn selbst stellt er jedoch nicht in Frage. Was zudem für eine Reihe von Forschungsarbeiten zutrifft, die bildgebende Verfahren - Radar, digitale Photo-Collagen, Power Point - untersuchen. Weil auch ihnen die im Titel in Frage gestellte Wende als Voraussetzung dient, wären die Herausgeber besser beraten gewesen, anstelle des werbewirksamen, aber irreführenden Titels den Akzent auf die Vielschichtigkeit der Beiträge zu legen. Sie ist das größte Plus des Sammelbands. Denn wie die Aufsätze das Potenzial der Bildwissenschaft für die Technik-, Körper- und Wissenschaftsgeschichte fruchtbar machen, ist oftmals unterhaltsam, anregend und hier und da - so etwa Sebastian Grevsmühls Aufsatz "Zur Epistemologie bildgebender Verfahren" - beeindruckend. So hat das Buch das Thema verfehlt, aber Vielfalt gewonnen.

Wer einen ersten Zugang zur deutschsprachigen Diskussion sucht, dem sei hingegen der facettenreiche Band "Iconic Turn. Die neue Macht der Bilder" von Christa Maar und Hubert Burda empfohlen. Seine Grundlagentexte (von Gottfried Boehm über Friedrich Kittler bis Peter Sloterdijk) bilden auch die Referenzpunkte der theoretisch versierten Beiträge im vorliegenden Sammelband.


Titelbild

Helga Mitterbauer / Ulrich Tragatschnig (Hg.): Moderne. Kulturwissenschaftliches Jahrbuch 2 (2006). Iconic Turn?
Studien Verlag, Innsbruck 2007.
260 Seiten, 27,90 EUR.
ISBN-13: 9783706543217

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