Biologische Genealogie der Moral

Joachim Bauers Postdarwinismus und Frans de Waals Primatenethik: Zwei aufschlussreiche Neuerscheinungen behandeln die Evolution der Sitten

Von Josef BordatRSS-Newsfeed neuer Artikel von Josef Bordat

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

I.

Dass die menschliche Natur etwas mit der Moralität des Menschen zu tun hat, steht außer Frage. Was seit jeher umstritten ist und - soviel sei jetzt schon verraten - auch weiterhin heftig umstritten sein wird, das ist die Frage, was wir denn meinen, wenn wir von der "Natur" sprechen. Wenn Thomas von Aquin die natura humana anspricht, um den Hang des Menschen zum Guten zu erklären, meint er nicht das gewordene Genmaterial, sondern den seienden Geist Gottes, der das Gewissen formt, vor dessen Urteilskraft dem Menschen Tugenden und Laster als solche identifizierbar sind. Wenn die Aufklärer von "Vernunftnatur" sprechen, erscheint ihnen dabei die menschliche Ratio als unbestechlicher "Gerichtshof" (Immanuel Kant), der in der Lage ist, Handlungen (eher: handlungsleitende Maxime und Normen) letztgültig als gut und böse zu qualifizieren. Wenn nun die "evolutionäre Ethik" von einer "Natur des Menschen" spricht, dann meint sie die biologische Natur - alle anderen Naturvorstellungen, insbesondere, soweit sie eine metaphysische Ontologie des Naturbegriffs aufrecht erhalten und die übernatürlichen Bezüge menschlicher Lebenspraxis betonen, werden je nach Temperament des Autors als "unwissenschaftlich", "unvernünftig" oder "unsinnig" charakterisiert, wobei das naturalistische Paradigma eines streng materialistischen Biologismus zur Voraussetzung jedes Definitionsversuchs der Begriffe "Wissenschaft", "Vernunft" und "Sinn" gemacht wird. Natürlich.

Dieses Vorgehen soll nun auch für die Erforschung der Ursprünge der Moral fruchtbar gemacht werden. Im Gefolge von Edward O. Wilsons Empfehlung, "die Ethik vorübergehend den Philosophen aus den Händen zu nehmen und zu biologisieren" ("Sociobiology", 1975) erscheinen in den letzten Jahren zahlreiche Schriften, die sich einer "evolutionären Ethik" im Allgemeinen oder auch einer "Tierethik" im Speziellen annehmen - Ethiken, die auf eine Moralität und daraus resultierende Handlungsdispositionen abzielen, welche biologisch, also mit unserer genetischen Konstitution vollständig erklär- und beschreibbar sind. Vorbei die Zeit der Transzendenz- und Transzendentalkonzepte, die den Menschen erstens auf eine grundlegend andere Stufe hoben als Tiere und Pflanzen (etwa über Exklusivitäten wie "Seele" oder "Vernunft"), um zweitens überhaupt erst so etwas wie Moral einführen zu können. Lange Zeit - jahrtausendelang - wäre über den moralischen Status von Tieren und Pflanzen oder gar über deren inhärente Moralität nicht ernsthaft verhandelt worden. Diese Zeit ist, wie bereits erwähnt, vorbei. Unter der Prämisse, dass Menschen auch nur Tiere sind, die mehr oder minder zufällig zu sprechen und denken begannen, muss ja auch das, worüber gesprochen und gedacht wird, bereits im gemeinsamen Vorfahren beider Spezies angelegt und damit bei Mensch und Tier nachweisbar sein. Antworten auf die Fragen des Menschen soll man demnach im biologisch-animalischen Anteil der menschlichen Natur suchen. Am besten gleich in der natürlichen Tierwelt.

Unter diesem allumfassenden Paradigma der Biologie stehen denn auch die beiden hier besprochenen Bücher, die sich in einem weiteren Sinne zur "evolutionären Ethik" rechnen lassen: Joachim Bauers "Das kooperative Gen. Abschied vom Darwinismus" und Frans de Waals "Primaten und Philosophen. Wie die Evolution die Moral hervorbrachte". Was bisher göttlich gegeben, vernünftig verinnerlicht, erzieherisch vermittelt, gesellschaftlich gestützt und persönlich eingeübt wurde, das sollen nun die Gene (Bauer) beziehungsweise die Makroevolution (de Waal) erklären: die Moral.

Schon die Titel der Bücher legen nahe, dass trotz ähnlicher methodologischer Prämissen mit einem je unterschiedlichen Zugang zur Biologie des Menschen ein je unterschiedlich weiter Erklärungsanspruch erhoben wird. In beiden Texten wird jedoch das plumpe Egoismus-Postulat Charles Darwins und insbesondere Richard Dawkins' durch einen verschieden ausgeprägten Altruismus - und damit durch echte Moralität - zu ersetzen versucht. Während Bauer an das Phänomen des kooperativen Gens den Abschied vom Darwinismus bindet, der für ihn das Recht des Stärkeren auch unter den Menschen begründet (mit diesem Abschied steht er im Widerspruch zur klassischen Soziobiologie), ist es für de Waal die bei Affe und Mensch beobachtbare Rücksichtnahme auf Schwache, die sich unter der Voraussetzung, sie brächte Entwicklungsvorteile, durchaus mit den Annahmen der Soziobiologie vereinbaren lässt.

Bleibt de Waal also bei der biologistischen Vorstellung, menschlicher Moralität, das heißt altruistischem Verhalten, müssten letztlich naturgesetzliche egoistische Triebkräfte zugrunde liegen, billigt Bauer dem Altruismus Ursächlichkeit und Selbstzweck zu und lässt ihn schon auf der Genom-Ebene kreativ Regie führen. Mit beiden Vorstellungen kann das Prinzip der Evolution nicht nur problemlos vereinbart werden, vielmehr liefert dieses in beiden Modellen gerade die entscheidenden Hinweise auf den Grund von Moralität. Die Evolution lässt Altruismus (als das hervorstechendste Merkmal moralischen Verhaltens) vernünftig erscheinen, weil er, so de Waal, Tier wie Mensch Entwicklungsvorteile bringe (zwar nicht dem einzelnen Exemplar, dafür aber seiner Art) beziehungsweise weil er sich, so Bauer, bereits in der Entwicklung der Gene verstärkt hat, ja, diese Entwicklung ohne Altruismus als Wirkprinzip gar nicht stattgefunden hätte. So wundert es eben nicht, dass die phänotypischen Ausprägungen jener altruistischen Gene (Bauer belässt es in seiner Betrachtung beim Menschen) sich ebenso altruistisch verhalten.

II.

Joachim Bauer, zweifach habilitiert (Innere Medizin, Psychiatrie), ist eine Art "Popstar" der biologischen Anthropologie, breit ausgewiesen als Experte für neurowissenschaftliche Fragen des Menschseins. Seit Jahren popularisiert Bauer erfolgreich die Schlüsselthemen des Hirnforschungszeitalters und fügt seinen Bestsellern "Warum ich fühle, was du fühlst: Intuitive Kommunikation und das Geheimnis der Spiegelneurone" (2005) und "Prinzip Menschlichkeit: Warum wir von Natur aus kooperieren" (2006) nun einen dritten Band zur Verhältnisbestimmung von Biologie und Ethik hinzu - pünktlich zum Darwinjahr 2009. In "Das kooperative Gen. Abschied vom Darwinismus" möchte er zeigen, dass "Veränderungen des Genoms [...] nicht dem reinen Zufall überlassen [sind], wie man bisher glaubte, sondern [...] Regeln [folgen], die im biologischen System selbst begründet liegen."

Wer also denkt, der Darwinismus und die sich ihm anschließenden evolutionären Ansätze in den diversen philosophischen Disziplinen (man liest von "evolutionärer Ethik", "evolutionärer Ästhetik" und "evolutionärer Erkenntnistheorie", aber auch von "evolutionärer Psychologie") seien bereits die Revolution des Welt- und Menschenbildes, wird von Bauer eines besseren belehrt, der in seinem Buch eine Revolution des Darwinismus in Aussicht stellt. Sowohl im Original, als auch in der Weiterentwicklung ("New Synthesis"-Theorie) lägen unhaltbare Annahmen, die er, Bauer, als solche erkannt habe und durch eigene ersetzen möchte.

Der wissenschaftshistorische beziehungsweise -soziologische Auftakt verweist auf den Ausgang und zugleich die Schwierigkeiten des Bauerschen Denkens. In der Tat: Forscher, die vom (Neo-)Darwinismus abweichende Positionen vertreten, haben es schwer. Bauer erinnert an Barbara McClintock, die Pionierin der These, Gene besäßen neben der Information einen Selbstregulationsmechanismus, der sie in die Lage versetze, diese Information veränderten Umweltbedingungen anzupassen. Die Forscherin wurde jahrzehntelang totgeschwiegen und erst anerkannt, als ihre Vermutungen durch neue Methoden der Genomforschung bewiesen wurden (ihre Entdeckung von 1944 wurde 1983 mit dem Nobelpreis gewürdigt).

Bis hierhin zeigt sich an McClintocks Biografie, wie - mit Abstrichen in punkto Fairness gegenüber innovativen Ansätzen - "gute Wissenschaft" funktioniert. Nun aber verweist Bauer auf einen wissenschaftshistorisch und wohl auch -soziologisch (McClintock war eine der wenigen Frauen in der naturwissenschaftlichen Spitzenforschung) interessanten Umstand: Kurz nach Überreichung der Medaille wurde sie wieder totgeschwiegen, denn: "Was diese außergewöhnliche Frau [...] entdeckte, widerspricht [...] der vorherrschenden darwinistischen Denkschule, deren moderne Variante innerhalb der heutigen Biologie als ,New Synthesis'-Theorie bezeichnet wird." Im Klartext: Eine These, die sich als wahr erwiesen hat, aber nicht zur "New Synthesis"-Theorie passt, ja, ihr sogar diametral entgegensteht, bleibt - zum Schutz der Theorie - unberücksichtigt. Man könnte angesichts dessen von "schlechter Wissenschaft" sprechen. Bauer nimmt Darwin in Schutz, nennt ihn "einen der großen Aufklärer unseres wissenschaftlichen Zeitalters", um mit einigen seiner Epigonen um so härter ins Gericht zu gehen, denen er "eine unkritische, quasireligiöse, in Teilen sogar sektiererische Glaubenshaltung", mit anderen Worten: "Fanatismus" unterstellt.

Dass diese Ignoranz jenseits von Eitelkeiten zwischen konkurrierenden Forschern auch in der Sache dramatische Konsequenzen hatte, weil aus schlechter Wissenschaft noch schlechtere Wissenschaft werden konnte, legt Bauer nahe, indem er den Maschinenvergleich Dawkins' als fundamentale Fehleinschätzung rügt: "[W]ürden Genome wie eine Maschine arbeiten, das heißt, ohne die Fähigkeit lebender Systeme, die eigene Konstruktion nach inneren Regeln immer wieder neu zu modifizieren und auf äußere Stressoren kreativ reagieren, wäre das ,Projekt Leben' wohl schon vor langem gescheitert." Auch Dawkins' Vorstellung eines "egoistischen Gens" sei "unsinnig", was auch von anderen Evolutionsbiologen, etwa Ulrich Kutschera und Karl Joseph Niklas, "diskret eingeräumt" werde. Doch Einsicht in die Problematik der Annahmen ihrer eigenen Disziplin hin oder her: "[H]eute [scheint] in manchen Kreisen fast jeder Unsinn Narrenfreiheit zu genießen, solange sich sein Verfasser zu Darwin bekennt."

Bauer wendet sich in seinem Buch gegen drei "zentrale Dogmen des modernen Darwinismus": gegen das Zufallsprinzip, das Prinzip langsam-kontinuierlicher, linear auftretender Veränderungen und das Selektionsprinzip, soweit es ausschließlich an der maximalen Fortpflanzung des im ewigen Konkurrenzkampf stehenden Genoms orientiert sein soll. Was setzt Bauer nun positiv dem Neodarwinismus entgegen? Zunächst kündigt er Großes an: "Mit diesem Buch möchte ich Einblick in neuere, wissenschaftlich gesicherte, in der breiteren Öffentlichkeit bisher nur wenig - oder gar nicht - wahrgenommen Erkenntnisse geben. Ich werde zeigen, über welche inhärenten, also in ihnen selbst angelegte biologische Strategien Organismen und ihre Gene verfügen, um Herausforderungen zu meistern, und wie es möglich war, dass sich das Leben, herausgefordert durch eine respektable Serie äußerst bedrohlicher Situationen, die unser Globus im Verlauf der Evolutionsgeschichte durchlief, behaupten konnte."

Man darf feststellen: Bauer hält sein Versprechen. Er entfaltet eine Alternative zum Darwinismus (insoweit er diesen kritisiert), gespickt mit Daten aktueller Studien, von deren korrekter Rezeption man freilich ausgehen muss, will man den Autor überhaupt ernstnehmen. Bauer setzt den drei Credos des Darwinismus drei eigene Wirkprinzipien der Evolution entgegen: Kooperativität, Kommunikation und Kreativität.

Leider kann Bauer nicht klären, worin eigentlich die von McClintock diagnostizierte "Weisheit der Zelle" ihren Ursprung hat, warum sich lebende Organismen so verhalten, wie sie sich verhalten. Die Überführung dieser Frage in die Schöpfungstheologie, die dafür eine Erklärung hätte, unterlässt der Autor. Es bleibt bei Andeutungen: So seien die Erkenntnisobjekte der Evolutionsbiologie, die Gene, nicht Ursprung des Lebens, sondern das Ergebnis der Kooperation und Kommunikation zwischen zwei Biomolekülen (RNS und Proteine), also Ergebnis "des Erkennens und der Übermittlung von Information", die in den Molekülen enthalten ist, während die "von Richard Dawkins als Startpunkt des Lebens postulierten egoistischen ,Replikatoren' (seine Bezeichnung für die Vorläufer der Gene) nie existiert haben". Also: Im Anfang war die Information. Wo die herkommt? Bauer schweigt. Mit Recht: Er kennt die Grenzen seiner Kompetenzen. Der Ursprungsfrage öffnet er trotzdem neue, interessante Perspektiven.

Auch zur Humanisation weiß Bauer Interessantes zu referieren. Die Evolution bringe durch "Transpositionselemente (TE)" genetische Veränderungen in Richtung Rationalität hervor ("Was Primaten zu Primaten werden ließ, war unter anderem eine massive Zunahme von Genen des Gehirns [...]"). Die TE verursachten zugleich den diesbezüglich großen Unterschied zwischen Mensch und Menschenaffe: "Dem Genom des Menschen wurden dadurch zwanzig neue Genfamilien beschert (die der Schimpanse nicht hat)", die "vor allem das Gehirn" betreffen. Wer oder was diese "Bescherung" durch die TE initiiert hat, bleibt offen. Doch es war, wie Bauer meint, wohl nicht der "reine Zufall". Abschließend stellt er fest: "Das darwinistische bzw. soziobiologische Dogma jedenfalls, die Lehre von der rein zufallsbestimmten, auf Punktmutationen basierenden Veränderung des biologischen Substrats, hat ebenso ausgedient wie das Phantasieprodukt egoistischer Gene."

Zu diesem letzten Postulat äußert sich Bauer im folgenden Kernkapitel seines Buches. Darin zeigt er, wie unbegründet die Rede vom "egoistischen Gen" und vom "Aggressionstrieb" in der darwinistisch inspirierten Anthropologie ist. Aggression sei kein primärer Instinkt, es gebe keine "Angriffslust", wie in den Arbeiten von Konrad Lorenz und Dawkins behauptet. Lorenz' Fehler lägen bereits auf der methodischen Ebene: Teils würden Faktoren, die gegen seine Thesen sprechen, systematisch ausgeblendet, teils fehlten empirische Nachweise gänzlich. Auch bei Dawkins mangle es an derartigen Befunden. Zudem übertrage er "ökonomische Konzepte auf die Biologie".

Dass Dawkins Darwin auch in diesem Punkt folgt, ist ein weiteres pikantes Detail, das Bauer gut herausarbeitet. Während für Darwin der frühkapitalistische Nationalökonom Thomas Robert Malthus Vorbild war (und zwar so sehr, dass Bauer behauptet, der Kern der Evolutionstheorie Darwins basiere nicht auf biologischen Erkenntnissen, sondern auf einem ökonomischen Kalkül), sei für Dawkins die "angloamerikanische (inzwischen weltweit herrschende) Wirtschaftsordnung" maßgebend gewesen, so dass seine Variante der Evolutionstheorie "gleichsam das biopsychologische Korrelat" dieser Ordnung sei.

Bauers Kritik des Darwinismus gipfelt in einem Thesenpapier mit zehn Säulen einer neuen postdarwinistischen Theorie, in der beschrieben wird, dass und wie die Bildung und Entwicklung neuer Arten durch die inhärente Dynamik kreativer, kommunikativer und kooperativer Genome realisiert wird. Im Hinblick auf die spannungsgeladene Beziehung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften führt Bauers Kritik zu dem Appell an den notwendigen Respekt der Forschungsgebiete füreinander, der sich vor allem in der Achtung der je eigenen Grenzen zeigen sollte. In bezug auf die Reizthemen "Ursprungsfrage" und "Menschenbild" heißt das: "Der Kreationismus ist ein aus wissenschaftlicher Sicht völlig unbrauchbares Konzept. Seine Positionen haben in biologischen Lehrbüchern nichts zu suchen. Umgekehrt steht der Biologie eine Bewertung religiöser Fragen nicht zu, denn wissenschaftliche Methoden sind nicht geeignet, zur Gottesfrage eine positive oder negative Auskunft zu erteilen."

Bauer exerziert diese Nichteinmischung selbst eindrücklich vor, indem seine Argumentation dort aufhört, wo sein Forschungsfeld endet. Doch meint er damit nicht, die Menschen dürften die Kreise der Forschung nicht stören: "Die Zuständigkeit dafür aber, was Wissenschaft darf, wem sie zu dienen hat und zu welchen Zwecken sie eingesetzt wird, besitzen keineswegs nur Naturwissenschaftler, sondern alle Mitglieder einer Gesellschaft. Es ist das Recht und die Aufgabe aller gesellschaftlichen Gruppen, dafür zu sorgen, dass die Würde des Menschen auch im Bereich der wissenschaftlichen Forschung gewahrt bleibt und dass eine faire Teilhabe aller an den Nutzenanwendungen der Wissenschaft sichergestellt wird."

Joachim Bauers "Das kooperative Gen. Abschied vom Darwinismus" ist zwar populärwissenschaftlich angelegt, weist aber nebst einem nützlichen Index auch einen wissenschaftlichen Apparat auf. Warum es aber nötig schien, in einem solchen Band auf zehn Seiten die komplette Liste der wissenschaftlichen Publikationen Bauers abzudrucken, die zum Teil mit dem Thema nichts und den Bedürfnissen der Leserschaft wenig zu tun haben, bleibt das Geheimnis des Erfolgsautors.

III.

Der Verhaltensforscher Frans de Waal beschäftigt sich mit Affen, genauer: mit Schimpansen und Bonobos. Auch er hat zahlreiche populärwissenschaftliche Bücher veröffentlicht, die in hervorstechender Weise die Ergebnisse seiner Primatologie vermarkten. Titel wie der "Der gute Affe" (1997) und "Der Affe in uns" (2006) sollen polarisieren und provozieren. In diese Reihe fügt sich "Primaten und Philosophen. Wie die Evolution die Moral hervorbrachte" nahtlos ein, trotz des verhältnismäßig sachlichen Titels. De Waal hat 2006 seinen Vortrag im Rahmen der "Tanner-Lectures on Human Values" unter dem Titel "Primates and Philosophers. How Morality Evolved" veröffentlicht, ergänzt um Kommentare namhafter Ethikerinnen und Ethiker aus dem angelsächsischen Raum. Nunmehr sind die Texte in deutscher Sprache verfügbar.

Obwohl als Soziobiologe grundsätzlich in der Spur des Evolutionismus, betrachtet de Waal in seiner Arbeit weniger sich ausbreitende Aggression als vielmehr vermeintliche Früh- und Vorformen echter Moralität, die er in den von ihm observierten Primatenkolonien entdeckt haben will. Dahinter bleibe es freilich beim (Gattungs-)Egoismus, doch die Natur neige trotzdem (oder gerade deshalb) zum Guten. Insoweit erhärtet die Verhaltensbiologie nur das, was ohnehin schon klar war und von kaum jemandem ernsthaft bestritten wird: der Mensch hat einen natürlichen Hang zum Guten.

Dennoch scheint es - und hier endet die Kompatibilität von biologischer Verhaltungsforschung und philosophischem Mainstream - Sphären der Moralität zu geben, die unmittelbar an Rationalität gebunden sind und die allein dem Menschen obliegen. Wie können sich diese aus dem beobachteten tierischen Sozialverhalten beziehungsweise den daraus erschlossenen mutmaßlichen Verhaltensdispositionen unserer gemeinsamen Vorfahren entwickelt haben? Dies ist wohl nur denkbar, wenn die menschliche Moralität auf eine ebensolche Ebene von Instinkthandeln degradiert wird. Genau diesen Weg geht de Waal. Handeln Affen oder Menschen "gut", dann tun sie dies genetisch prädisponiert und befördert durch den Selektionsdruck der Evolution, also "instinktiv" und "artorientiert". Damit befördern sie wiederum die moralische Evolution ihrer eigenen Art. De Waal spricht in diesem Sinne von "sozialen Instinkten", wenn er menschliche Moralität im evolutionären Prozess verankern will.

Daraus erwächst ein erstes Problem: Handeln, das andere Arten und noch nicht lebende Artgenossen in die Maxime des Handelns einbezieht (etwas, dass im Zusammenhang mit einer dringend nötigen "Klima-Moralität" eine große Rolle spielt), fiele dann als Ergebnis von Universalisierung und Abstraktion ebenso aus dem Rahmen wie die Möglichkeit, sich überhaupt anders verhalten zu können als die naturgegebenen Determinanten es verlangen. Denn es gilt als allgemein anerkannt, dass die Rede von "Moral" im negativen Modus die Freiheit zu unmoralischem Verhalten voraussetzt, ebenso wie die Absicht, die Maxime des Handelns auf Verallgemeinerbarkeit zu prüfen, was wiederum an die Abstraktionsfähigkeit des Handelnden gebunden ist, die schließlich auf das gründet, was wir Vernunft nennen. Um sagen zu können, jemand handelt moralisch gut, müsste für diesen "Jemand" die Möglichkeit vorausgesetzt werden zu erkennen, dass es wünschenswert ist, wenn alle so handelten und dass dieser Jemand deswegen aus einer Reihe von Handlungsmöglichkeiten diese eine frei ausgewählt hat. Bedingung dieser Möglichkeit ist die Vernunft, mit deren Hilfe die abstrakte Prüfung auf Verallgemeinerbarkeit eigener Vorstellungen geleistet wird. All dies ist dem Moralbegriff inhärent, von all dem kann aber bei Tieren nicht gesprochen werden.

Auf diesen Punkt weisen für die gute, alte Philosophie die Kommentatoren Philip Kitcher, Christine M. Korsgaard und Peter Singer hin, um den Begriff der Moral für menschliche Wesen (bei Singer: "Wesen mit Interessen") zu reservieren. Man könnte sagen: Nicht alles, was an Verhalten bei Tieren beobachtbar ist und moralische Qualitäten zeigt (helfen, teilen, schützen) ist in diesem Sinne moralisches Verhalten. Kurz: Nicht jedes Handeln, das aussieht wie moralisches Handeln, ist zugleich auch moralisch, gemessen am Anspruch, der mit Moralität verbunden ist (Einsicht in die Notwendigkeit der Verallgemeinerbarkeit der Handlungsmaxime, Freiheit zur Möglichkeit, sich [trotzdem!] anders zu entscheiden).

De Waal hat ein anderes Konzept von Moral als die Mehrheit der Philosophen, wenn er davon spricht, dass die "Evolution die Moral hervorbrachte" und dies am Verhalten von Tieren erkennen will. Ursächlich ist dabei, dass er Funktionalität und Intentionalität gleichsetzt. Was in der Biologie möglich ist (wenn und soweit sie sich nicht-teleologisch versteht und daher von "Intention" gar nicht die Rede sein kann), ist in der Philosophie ein schwerer Kategorienfehler. Wenn der Biologe sieht, dass Affen einander helfen, fragt der Philosoph: "Tun sie es mit Absicht?"

Das sind zwei verschiedene Ebenen, und erst bei letzterer beginnt sinnvoller Weise die Rede von "Moral". Und selbst wenn eine Absicht vorliegt, so ist diese, darauf macht Kant aufmerksam, an und für sich zu beurteilen. Erst wenn nicht das Interesse, sondern die Pflicht handlungsleitend war, ist die Handlung moralisch gut zu nennen - eine feine Differenz zum Utilitarismus. Dies allerdings verlangt einen Grad an Abstraktion, der bei Tieren, wie bereits mehrfach bemerkt, nicht vorhanden ist. Allein dem Menschen ist die Intellektualität zu eigen, aus der die Fähigkeit zur Einsicht in die Gültigkeit von Prinzipien erwächst, denen er beim moralischen Handeln "aus Pflicht" folgt, obgleich er die grundsätzliche Freiheit zur Möglichkeit verspürt, dies nicht zu tun. Im Humanum der Moral erhebt sich mit Blick auf die Ursache Vernunft über Instinkt, auf die Folge Handlung über Reflex und auf die Bewertung Intention über Funktion.

Sowie man aber davon ausgeht, dass die Evolution alles hervorgebracht hat, hat sie freilich auch die Einsicht und mit der Einsicht die Freiheit und mit der Freiheit die Moral hervorgebracht. Doch zumindest diesen Umweg muss auch der Naturalist gehen. Der unmittelbare Nachweis "moralischen" Verhaltens bei Tieren geht am Eigentlichen der Moralität vorbei. De Waal schafft also das Problem der Genealogie der Moral auch nicht aus der Welt und die "evolutionäre Ethik" im Gewand von Sozio- und Verhaltensbiologie löst ihr Versprechen, reinen Tisch zu machen mit metaphysischen Annahmen und damit die Lösung für die Frage nach der Ursache von Moral naturalistisch zu erarbeiten, nur teilweise ein: die Metaphysik ist zwar weg, eine Lösung jedoch nicht da.

Letztlich bleibt bei de Waal & Co. auch eine wichtige Frage offen: Ob die gebetsmühlenartig wiederholte Aussage, der Mensch sei auch nur ein Tier, unabhängig von ihrem Wahrheitsgehalt, eher dazu führen wird, den moralischen Status des Tieres auf- oder den des Menschen abzuwerten. Bei Tierrechtsbefürworter Singer tritt letzteres als Preis für ersteres jedenfalls deutlich hervor.

IV.

Legt man die Kernthesen noch einmal nebeneinander, so ergibt sich zusammenfassend folgendes Bild:

1.) Bei Bauer hat der Mensch immerhin noch Akteurscharakter, wenn auch nur bedingt. Ist er auch nicht Sklave seiner egoistischen Gene, so doch seiner kooperativen Gene, die ihn zum kreativen "Akteur der Evolution" machen. Bei de Waal ist das Äffische im Menschen so stark, dass wir uns nur bei den Schimpansen und Bonobos - stellvertretend für unsre gemeinsamen Vorfahren - für ihr ausgeprägtes Sozialverhalten bedanken können, folgen wir doch immer noch jenen evolutionär ausgeprägten "sozialen Instinkten", wenn wir über die Gesundheitsreform, den Klimaschutz und den fairen Welthandel debattieren, wenn wir für Hilfsorganisationen spenden, Migrantenkindern kostenlos Nachhilfe erteilen und nett zum mürrischen Nachbarn sind.

2.) Wie de Waal geht auch Bauer von evolutionär hervorgebrachten genetischen Dispositionen aus, doch für Bauer sind Kooperation und Altruismus Primärtugenden und nicht sekundäre Evolutionsvorteile, die dem Prinzip des Selektionsdrucks geschuldet sind. Auch wenn sie strategisch günstig wirken, sind sie nicht so instrumentell angelegt wie in der Vorstellungswelt der Soziobiologen, sondern führen ihr Eigenleben.

3.) Bauer will nicht als biologistisch missverstanden werden, für de Waal scheint sich hierbei kein Problem aufzutun, da es ja außerhalb der Biologie nichts von Bedeutung zu geben scheint, eine Auffassung, von der sich Bauer scharf distanziert, weil er sie nicht nur für "bedenklich, sondern für gefährlich" hält. Bauer kritisiert mithin den Alleinerklärungsanspruch der Biologie für die alle Fragen des Menschen, wie ihn Wilson formulierte, für de Waal ist das Diktum des Begründers der Soziobiologie Grundlage seiner Arbeit, die von geisteswissenschaftlicher Seite mehr oder weniger stark in Frage gestellt wird.

Beide Bücher eignen sich gut, um den Stand der Forschung nachzuvollziehen. Ihre Autoren sprechen eine angenehm klare Sprache, argumentieren kenntnisreich und nachvollziehbar. Die Texte erschienen bereits vor dem Darwinjahr 2009, in dem neben biologischen Fachdebatten auch die Frage des Verhältnisses von Darwinismus und Religion, von Evolution und Schöpfung und - dies scheint besonders wichtig - die Frage der Bedeutung evolutionärer Erklärungsansätze für unterschiedliche Wissenschaftsdisziplinen und Lebensbereiche adressiert werden wird. Im Hinblick auf Anthropologie und Ethik bieten Joachim Bauer und Frans de Waal diesbezüglich eine gute Orientierung.


Titelbild

Joachim Bauer: Das kooperative Gen. Abschied vom Darwinismus.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2008.
224 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783455500851

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Titelbild

Frans de Waal: Primaten und Philosophen. Wie die Evolution die Moral hervorbrachte.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Hartmut Schickert und Klaus Fritz.
Carl Hanser Verlag, München 2008.
220 Seiten, 21,50 EUR.
ISBN-13: 9783446230835

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