Liebesverbrechen

Maxim Billers Romandebüt "Die Tochter"

Von Melanie OttenbreitRSS-Newsfeed neuer Artikel von Melanie Ottenbreit

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

An einem Sonntagnachmittag onaniert Motti Wind in Schwabing vor dem Fernseher. Das Mädchen aus dem Pornofilm gefällt ihm. Wie ein Verliebter schaut er es an. Erst allmählich dämmert Motti, dass ihn die Schöne an Nurit, seine Tochter erinnert. Sie gleicht ihr so sehr: "Es gab keinen Zweifel. Auf einmal erkannte er alles wieder bei ihr, sein eigenes schmales, ein wenig kleines Gesicht, die eng beieinanderstehenden Augenbrauen, die zusammen mit der umschatteten langen Nase genauso wie bei ihm ein T bildeten, die hellen Lippen, die von selbst zuckten, wenn sie lächelte oder ängstlich war. Als kleines Mädchen schon hatte sie ihm so ähnlich gesehen".

Aber ist sie es wirklich? Motti versucht sich zu erinnern. Momente seines Lebens kehren wieder, die er verdrängt, längst vergessen hatte. Als junger Soldat ist er im Libanonkrieg gewesen. Traumatisiert kehrte er zurück und verließ fluchtartig seine Heimat Israel, das Land im "ewigen Krieg" In Deutschland wollte er alles vergessen. Auf dem Flug von Tel Aviv nach München traf er Sofie, die deutsche Touristin, mit der er zusammen blieb, die er heiratete und mit der er Nurit zeugte, das einzige Kind einer unglücklichen Liaison. Sofie hatte sich nie für Nurit interessiert. Er hingegen liebte und umsorgte sie, zog sie groß. Nurit ist Geborgenheit und Zuversicht, die Wärme, nach der er sich immer sehnte.

Verwirrt läuft Motti durch die Stadt. Nur ein Foto der Pornodarstellerin trägt er bei sich. Nurit ist noch am Leben, das Video beweist es doch. In Wirklichkeit aber ist das Kind längst tot. Motti selbst hat es umgebracht. Damals vor über zehn Jahren, im Wahn der Einsamkeit und Verzweiflung und aus Furcht, der Inzest würde bekannt werden. Er hatte mit ihr fliehen wollen aus dem deutschen "Totenland" nach Israel und Sofie hatte es verhindert. Da stieß er Nurit vom Fensterbrett, weil er sie so zu retten glaubte, doch erst der leblose Leib, "wie gefrorenes Eis" auf der Straße, hatte ihm die Tat bewusst gemacht.

Die schreckliche Wahrheit seines Romans bringt Maxim Biller nur nach und nach ans Licht. Zwar dämmert dem Leser früh, dass Motti sich an Nurit vergangen hat, doch glauben will er es nicht. Die Wahrheit ist kaum zu fassen, unfassbar ekelhaft, tragisch, verstörend. Billers Verwirrspiel des einen Tages im Leben Motti Winds, ein Jahrzehnt nach dem Tod des Kindes, bewahrt die Spannung bis zum Schluss. Rückblenden und Hirngespinsten wechseln sich ab, fließen ineinander, täuschen den Leser und treiben ihn fast zur Weißglut. Erst die letzten Seiten geben Gewissheit, der Schein der ersten Seiten trügt, die Tochter ist längst tot und die Pornodarstellerin nur ein Imagination Nurits. Ein Wesen aus Mottis krankem Geist, aus dem Souterrain seines zerrütteten Bewusstseins.

Immer häufiger erschafft sich Motti eine Phantasiewelt, die nur ihm und Nurit gehört, ein israelisches Idyll mit dem "warmen Geruch von Oleander und Nana in der Luft". Mit dem Kind hofft er sein Leben meistern zu können.

Die einst hoffnungsvolle Liebe zu Sofie und Mottis neues Leben in Deutschland erweisen sich als fortwährender Alptraum. Verzweifelt leiht sich Motti Filme aus, "nie auf der Suche nach der besonderen Stellung oder Perversion, sondern nach dem Gesicht, das ihm gefiel, in das er sich für einen Sonntagnachmittag verlieben" konnte.

"Die Tochter" desillusioniert und provoziert Zeile um Zeile. Die Folterungen an Arabern im Libanon überblendet der Autor mit Szenen aus Auschwitz; ein israelischer Agent erscheint als Nazi: "Er zündete sich eine Zigarette an und drückte sie langsam auf dem Rücken des Jungen aus. Dabei hat er geschrien: 'Ich bin Hitler. Ich bin Mengele!'"

Selbst Mottis Wunsch nach Versöhnung zwischen Israelis und Deutschen bleibt unerfüllt. Seine Eltern und Schwiegereltern finden nicht zueinander, weil der Holocaust und gegenseitiger Argwohn zwischen ihnen stehen. Die einen sind vor den Nazis ins gelobte Land geflohen und entsetzt über Mottis Ehe mit der Deutschen. Die anderen geben sich tolerant, als ihre Tochter zum mosaischen Glauben konvertiert, obgleich sie genauso unfähig sind, Sofies und Mottis Liebe zu verstehen.

Billers Spezialität sind seit seinen "Tempojahren" Tiraden und Wutausbrüche. Giftig schnappt er nach allen Seiten und reißt Wunden ein, die vielleicht nicht mehr bluten, aber kaum verheilt sind. Vieles lässt er in der Schwebe. Biller will keinen Ausweg aus dem gestörten deutsch-jüdischen Verhältnis anbieten, sondern es nur als das abbilden, was es in seinen Augen ist: unvollkommen, verquer, schwierig. Den Helden treibt er schonungslos in die Katastrophe, weil auch das Leben grausam ist. Dass er Mottis Schicksal am Ende als doppelt fiktiv enthüllt, erdacht von einem Schriftsteller, der als Ich-Erzähler sein Versagen auf den anderen projiziert, ändert nichts an dem traurigen Geschehen, und soll es auch nicht.

Von Billers Romandebüt bleibt ein ergreifender Auftakt und ein dramatischer Schlussakkord bestehen. Dazwischen droht sich die Handlung bisweilen in der Vielstimmigkeit der Komposition zu verlaufen. Täuschung ist das Rezept des beeindruckenden Einstiegs und des ernüchternden Endes. Doch Biller geht ein hohes Risiko ein, wenn er erzählt, wie er erzählt. Denn er lockt den Leser auf zu viele falsche Fährten und setzt sich so der Gefahr aus, ihn bei der Lektüre zu verlieren.

Titelbild

Maxim Biller: Die Tochter. Roman.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2000.
430 Seiten, 23,00 EUR.
ISBN-10: 3462028766

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