Literatur, Frauenemanzipation, Nietzschekult und Antisemitismus

Gabriele Reuter, der Autorin des Erfolgsromans "Aus guter Familie", zum 150. Geburtstag

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Dass Mütter nicht verheiratet sein müssen, ist heutzutage ganz selbstverständlich. Zumindest hierzulande - und vorausgesetzt, die Frau lebt weder in einer islamisch geprägten Subkultur noch in christlich-fundamentalistischen Kreisen. Vor rund 100 Jahren sah das aber auch in Deutschland noch ganz anders aus, trotz der europäischen Aufklärung. Bis in die 1970er-Jahre hinein waren ledige Mütter und ihre Kinder sowohl durch MitbürgerInnen wie auch durch die Gesetzeslage vielfältigen Diskriminierungen ausgesetzt. Dies langsam zu ändern, gelang erst der Neuen Frauenbewegung.

Über die "Geschichte der Unehelichkeit in Deutschland" hat Sybille Buske vor einiger Zeit eine beeindruckende Untersuchung mit dem Titel "Fräulein Mutter und ihr Bastard" vorgelegt. Ledige Mutterschaft war natürlich auch stets ein Thema für Literaten - und sicher mehr noch für Literatinnen. Vielleicht am eindrucksvollsten wurde das Schicksal einer unverheirateten werdenden Mutter in dem Roman das "Tränenhaus" (1909, Neubearbeitung 1926) literarisiert, in dem eine junge Intellektuelle in eine weitabgelegene Pension zieht, die von Schicksalsgenossinnen unterschiedlicher Klassenlage und vielfältiger Charaktere bewohnt wird. Sie alle versuchen ihre Schwangerschaft vor der Welt zu verbergen. Die dem Naturalismus verbundene und seinerzeit überaus bekannte und erfolgreiche Schriftstellerin Gabriele Reuter hat den immer noch lesenswerten Roman verfasst. Heute ist das Buch, ebenso wie die meisten der Autorin, allerdings lange vergessen und noch länger vergriffen. Die große Ausnahme bildet der Roman "Aus guter Familie". Vor wenigen Jahren wurde er zusammen mit einem umfangreichen Dokumenten-Band von Katja Mellmann neu herausgegeben. Es ist der Roman, der seine Autorin 1896 mit einem Schlag berühmt machte. War seine "Leidensgeschichte eines Mädchens" aus bürgerlicher Familie doch zugleich die vieler ihrer Geschlechtsgenossinnen aus besserem Hause.

Reuters erstes Werk war es allerdings nicht. Schon in den 1880er-Jahren hatte die 1859 in Alexandria geborene Tochter deutscher Eltern erste Kurzgeschichten in Zeitschriften veröffentlicht und 1888 mit "Glück und Geld" einen, wie es im Untertitel heißt, "Roman aus dem heutigen Ägypten" verfasst. 1891 war unter dem Titel "Kolonistenvolk" ein "Roman aus Argentinien" gefolgt. Und auch nach dem großartigen Erfolg, den Reuter mit "Aus guter Familie" errungen hatte, beschäftigte sie sich weiter mit dem Land ihrer Kindheit.

So erschien 1897 "Im Sonnenland". Allerdings konnte dieses Buch nicht an den Erfolg ihres Romans um Agathe, der Tochter aus guter Familie, anknüpfen. Anders sah es da schon bei Reuters Romanen aus, in deren Titel ein Frauenname stand, womit signalisiert wurde, dass hier wiederum das Schicksal einer Frau im Mittelpunkt stehen würde. "Gunhild Kersten" war so ein Roman. Er erschien zwar erst 1904, war jedoch schon 1891 verfasst worden, im gleichen Jahr also, in dem Reuter das erste Kapitel von "Aus guter Familie" geschrieben hatte. Oder "Ellen von der Weiden" (1900), der bereits im sprechenden Namen seiner Titelheldin die Naturverbundenheit der Protagonistin anzeigt. Die Ehe mit einem kalten Rationalisten führt Ellen aus den geliebten Bergen in eine verhasste Großstadt. Doch gelingt es der jungen Frau, sich aus der Ehe zu befreien. Dies allerdings, ohne dass die Geschichte glücklich ausginge.

Zu nennen wäre auch der mehr als zwei Jahrzehnte später erschienene Roman "Benedikta" (1923). Die Heldin, Tochter eines Kapitalisten, verliebt sich in der revolutionsgeschwängerten Zeit nach dem Ersten Weltkrieg in einen Kommunisten, der sie mit dem Elend der Arbeiter konfrontiert. Gelingt es ihm zunächst, sie für seine kommunistische Sache zu erwärmen, so emanzipiert sie sich angesichts der "blutrünstigen Experimente" seiner Gesinnungsgenossen doch von ihm und seiner Ideologie.

Zwar wächst die Titelheldin von Reuters Roman "Gunhild Kersten" ohne Mutter auf und ficht anstelle des Kampfes mit der Familie ähnlich wie Benedikta mit dem anderen Geschlecht, doch meist weben sich Reuters Frauenschicksale um die Trias Mütterlichkeit, Mutterschaft und Mutterliebe. So in dem bereits erwähnten "Tränenhaus" oder in "Frau Bürgelin und ihre Söhne" (1899). Auch "Die Herrin" (1918) thematisiert Mutterschaft, wenngleich eher am Rande. Es gebe "kein Band, das die Frau fester mit der Frau verbindet", heißt es in dem Roman.

Wiederholt nehmen Mutter/Tochter-Beziehungen einen prominenten Platz in Reuters literarischem Werk ein. Zwei sich über drei Generationen spannende Mutter/Tochter-Beziehungen prägen die Kurzgeschichte "Evis Makel", die 1897 im Rahmen des Erzählbandes "Der Lebenskünstler" erschien. Wie in einem Brennglas bündelt der gerade mal 15 Seiten umfassende Text die oben genannte Trias, wobei er zudem soziale und ledige Mutterschaft verquickt. Auch im Zentrum mindestens zweier Romane stehen Mutter/Tochter-Beziehungen. In "Lieselotte von Reckling" (1904) ist es die Mutter, die von der Tochter zu erziehen ist. "Wie ein ungezogenes kleines Mädchen, das immer wieder brav sein will", unterwirft sie sich mit "ostentativer Demut" Liselottes "Bestimmungen". Der zweite Roman "Töchter" (1927) behandelt zugleich die Differenzen zweier Frauengenerationen, deren erste um Freiheiten rang, welche die zweite schon längst als selbstverständlich nimmt. Den Töchtern ist feministisches Engagement von vermuffter Gestrigkeit, für das sie kein rechtes Interesse mehr aufzubringen vermögen. Diese schmerzliche Erfahrung der Mütter-Generation mussten auch viele der Aktivistinnen der Neuen Frauenbewegung zum Ende des Jahrhunderts mit ihren Töchtern machen.

Wie sah es aber mit Reuters eigenem feministischen Engagement aus? In ihrer 1921 erschienen Autobiografie "Vom Kind zum Menschen" erklärt sie , dass sie nur wenig von der Frauenbewegung gehört hatte, als sie "Aus guter Familie" schrieb, und ihr diese "nicht sonderlich sympathisch" gewesen war. Nun, da sie "um das innere Schicksal" ihrer Protagonistin Agathe "rang", machte sie sich zwar mit dem Kampf der Feministinnen um die Befreiung aus dem "Joche der Familie" vertraut, doch engagierte sie sich erst später während ihrer Münchner Zeit selbst in der Frauenbewegung. In der bayrischen Hauptstadt sah sie den Kampf gegen die "gefährlichen Paragraphen" des vor der Verabschiedung stehenden Bürgerlichen Gesetzbuches "mit Glut und Feuer von hervorragenden Frauencharakteren geführt", was sie veranlasste, "eine Zeitlang mit Leidenschaft" an ihm teilzunehmen. Doch diesen Kampf längere Zeit "mit ganzer Seele und aus allen Kräften" zu führen, hätte den "Verzicht auf jede dichterische Tätigkeit" bedeutet oder aber verlangt, sie "zur Propaganda-Magd" zu erniedrigen. Darum und weil Reuter "im Grunde [ihres] Wesens Betrachterin - nicht Kämpferin" war, konzentrierte sie sich bald wieder ganz auf ihr literarisches Schaffen. Ihr eher kurzes Engagement als Aktivistin der Frauenbewegung führte aber immerhin dazu, dass sie anlässlich ihres siebzigsten Geburtstages in der Wiener Freien Presse, für die sie selbst Mitte der 1920er-Jahre geschrieben hatte, nicht nur als "große Künstlerin" sondern auch als "mutig-innige Verfechterin für die Befreiung der Frau" geehrt wurde.

Auch schon die 1909, also im Jahre ihres 50 Geburtstags, in "siebente[r], gänzlich neubearbeitete[r] und vermehrte[r] Auflage" erschienene und somit inzwischen genau 100 Jahre alte Auflage von "Meyers Kleine[m] Konversations-Lexikon", kennt nicht nur ihre Romane, sondern erwähnt ebenfalls ihre "Aktivitäten" in der Frauenbewegung, die "vermittelnd" gewesen seien. Zwar ehrt das Nachschlagewerk Reuter mit einem kleinen Eintrag, doch findet der sich nicht, wie es der alphabetischen Reihenfolge entsprochen hätte, zwischen Fritz und Hermann Reuter, sondern, wie es den Machern des Nachschlagewerks für eine Frau wohl angemessener erschien, erst als letzter Eintrag des Namens Reuter noch nach Paul Julius Freiherr von Reuter.

Anders als manche andere ist die Schriftstellerin auch heutigen Konversations- und enzyklopädischen Lexika keine Unbekannte. Selbst in der aktuellen Ausgabe des Brockhaus ist sie vertreten. Noch immer wird nicht nur auf ihre Werke verwiesen, sondern auch auf ihre Beziehung zur Frauenbewegung. "In ihren Romanen [...] behandelt sie die Stellung der Frau in der modernen Gesellschaft mit emanzipator[ischer] Tendenz", weiß der Brockhaus, und sie "nahm in München 1895-99 an der Frauenbewegung teil". Dem 2004 in neuer Überarbeitung erschienenen einbändigen Brockhaus "Literatur - Schriftsteller, Werke Epochen, Sachbegriffe" ist sie hingegen unbekannt.

Nun könnten die genannten Ehrungen und Lexika-Einträge den Eindruck erwecken, Reuters literarisches Interesse habe sich in Frauenschicksalen und Emanzipationsbestrebungen erschöpft. Das dem keineswegs so war, belegen nicht nur Romane wie "Der Amerikaner" (1907) sondern auch etliche ihrer Kurzgeschichten, Novellen und Erzählungen wie etwa die Geschichte um den "Lebenskünstler" und Schriftsteller Doktor Bernhard Althaus, der zwischen zwei, wenn nicht drei Frauen steht und sich zuletzt doch allein in einem "kahlen, von allen lieben Andenken und Zierraten entblößten Zimmer" wiederfindet.

Die vielseitig begabte Autorin beschränkte sich nicht darauf, Romane und Novellen zu schreiben, sondern verfasste neben feministischen Artikeln über "Die Probleme der Ehe" (1907) oder zu Fragen von "Liebe und Stimmrecht" (1914), das Lustspiel "Ikas Bild" (1894), dazu 1904 ein "Märchenspiel für Kinder" mit demTitel "Das böse Prinzeßchen" und Mädchen- beziehungsweise Jugendbücher wie "Sanfte Herzen. Ein Buch für junge Mädchen" aus dem Jahre 1909, das 1920 erschienene Buch "Großstadtmädel. Jugendgeschichte" oder "Was Helmut in Deutschland erlebte" von 1917 sowie Essays über Marie von Ebner-Eschenbach (1904) und Annette Droste-Hülshoff (1905).

Wie zahlreiche Schriftstellerinnen und Frauenrechtlerinnen ihrer Zeit teilte auch Reuter die heute nicht mehr ganz nachvollziehbare Nietzscheverehrung, vor der selbst eine Hedwig Dohm nicht gefeit war. "Um 1890", hält Reuter in ihrer Autobiografie fest, "war Nietzsche unser Gott geworden, um den sich, wie Planeten um die Sonne, unsere Geister drehten". Auf sie selbst habe er "wie ein wundervoller Rausch" gewirkt. Tatsächlich bricht sich ihre - man muss schon sagen - blinde Nietzsche-Verehrung auch noch in ihren nach dem Ersten Weltkrieg verfassten Jugenderinnerungen ungemindert Bahn. Nicht nur, dass sie für die fürchterliche Ethik des bramarbasierenden Übermenschen schwärmt, "die über den Individualismus doch wieder hinausw[eise] zur Arbeit an der Menschheit"; auch den geistig erloschen und dahinsiechenden Mann verklärt sie in der Erinnerung an einen Krankenbesuch noch: "Mir gegenüber lag gerade ausgestreckt auf einer Chaiselongue, die der Türöffnung mit dem Fußende zugewendet stand, so daß ich ihm gerade ins Gesicht schauen konnte - Friedrich Nietzsche. Auf dieses seltsam feine und gewaltige sonnengebräunte Antlitz mit dem ungeheuerlichen Schnurrbart und der zarten schönen Nase schaute ich, sah die herrliche Stirn und die großen Augen, die nun einen furchtbar ernsten, erschütternden Blick auf mich richteten. Die bleichen wundervoll geformten Hände lagen wie bei einer in Stein gehauenen alten Grabfigur gekreuzt über der Brust. Ich stand zitternd unter der Gewalt seines Blickes, der wie aus unergründlichen Tiefen des Schmerzes auftauchend, schon nach einer Sekunde wieder versank - die Pupillen verschwanden halb unter den Lidern, und rollten blicklos angstvoll unter den gesenkten Wimpern hin und her. [...] Mir schien sein Geist in einer unendlichen Ferne von allen menschlichen Beziehungen, in grenzenloser Einsamkeit zu hausen." Eine Verklärung des Dahindämmernden, die auch heute noch peinlich berührt.

Ebenso der Stolz, mit dem Reuter berichtet, dass ihr Nietzsches Schwester Elisabeth Förster-Nietzsche das Du angeboten habe. Sie ahnte nicht, wie sehr sie sich mit der Annahme, "die gesamte Kulturwelt" werde dieser für die "mustergültige Form" der Herausgabe von Nietzsches Werken "dankbar" sein, über die editorischen Qualitäten Förster-Nietzsches irrte.

Hatte Reuter auch an der Modeströmung der Nietzsche-Begeisterung teil, so stand sie einer anderen viel diskutierten und meist hochgeschätzten geistigen Entwicklung ihrer Zeit mehr als skeptisch gegenüber, der "Psycho-Analyse". "Ich glaube, man treibt viel Unfug mit diesem Begriff und ihre Übungen richten mehr Schaden als Heil bei den Kranken an", fürchtet sie in "Vom Kind zum Menschen". Überhaupt führe "die fortwährende Beschäftigung mit den eigenen interessanten Dunkelheiten [...] sehr leicht zur Hysterie, statt aus ihr hinaus."

Anders als einige ihrer ZeitgenossInnen bringt sie ihre Kritik der Psychoanalyse jedoch nicht damit in Verbindung, dass Freud Jude war. Viel mehr kritisiert sie den grassierenden Antisemitismus in ihrer Autobiografie scharf, wobei ihr allerdings selbst einige Antisemitismen unterlaufen, die heute schaudern machen. Sie sehe "die ganze Schwere des jüdischen Problems für Deutschland, das sich durch das Einströmen völlig unkultivierter Massen von östlichen Ghetto-Juden noch verschärft", erklärt sie und fährt fort: "Zweifelsohne trägt Deutschland schwer an diesem Fremdkörper in seinem Leib". Auch wisse sie "genug von der Bedeutung der internationalen Macht der jüdischen Weltbankiers, welche die Geschicke der Völker tyrannischer lenken, als deren eigene Regierungen - die sicher mehr zur feindlichen Einkreisung Deutschlands und zur Vorbereitung des grauenhaften Krieges beigetragen haben, als die Völker ahnen. Juda versteht sich furchtbar zu rächen für die halbgewährte Freiheit und gesellschaftliche Ächtung." Allerdings sei der Antisemitismus die "törichste Abwehr gegen solche Feindschaft". Zum einen verderbe er den "deutschen Charakter", indem er "die Menschen zu Monomanen macht, die blindwütig auf ihre fixe Idee stieren", was umso gefährlicher sei, "als sie über dieser einseitigen Einstellung ihres Seh- und Gefühlsvermögens ganz vergessen, auf alle anderen ebenso bedenklichen Ursachen des Verfalls in unserem Volke zu achten."

Kurz: der Antisemitismus "züchtet geradezu den größten Schmarotzer an der geistigen Kraft des deutschen Menschen: die gedankenlose pomphafte Phrase". Zum anderen gebe es schon lange keine "Reinrassigkeit der Völker und Staaten" mehr und sei auch "niemals wieder zu erkämpfen". "Echte Arier" lebten "nur noch in der Phantasie der Hakenkreuzbündler".

Statt der "ekle[n] Schnüfflerei nach jüdischer Abstammung" und der "aussichtslose[n] Verfolgung unserer jüdischen Mitbürger" empfiehlt sie, "hingebende Liebesarbeit zur Ertüchtigung der deutschen Volkspersönlichkeit" und "die fremde Rasse in sich aufzunehmen und in sich zu verarbeiten". Denn es gelte "aus Juden gute Deutsche zu machen". Vor allem aber plädiert sie dafür, dass "die Fremdheit, die unleugbar Germanen und Juden innerlich trennen, einem gegenseitigen herzlichen Verstehen Platz mach[t]".

1941 starb Gabriele Reuter im Alter von 92 Jahren. Am 8. Februar diesen Jahres wäre sie 150 Jahre alt geworden. Das sollte doch ein willkommener Anlass sein, nach "Aus guter Familie" weitere Werke aus ihrem umfangreichen Oeuvre neu aufzulegen und somit einem breiteren Publikum leichter zugänglich zu machen, allen voran "Das Tränenhaus". Anderthalb Jahrhunderte nach Reuters Geburt und rund hundert Jahre nach dem Gipfelpunkt ihres Schaffens - eigentlich wäre eher von einem Hochplateau zu sprechen - wäre es lange schon an der Zeit.