Gezeichneter Alltag

Rutu Modan geht in ihrer graphic novel Blutspuren nach

Von Fabian KettnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Fabian Kettner

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Es ist nichts als Alltag. "Als ich diese Zeilen schreibe", so die italienisch-israelische Journalistin Fiamma Nirenstein am 19. Juni 2002 in Jerusalem, "höre ich die Sirenen von Dutzenden von Krankenwagen: dreihundert Meter von meinem Haus entfernt, die Straße runter in Richtung der Kreuzung mit der Pat Road, explodierte vor zehn Minuten ein Bus, vor dem Laden meiner arabischen Freunde, der Pardo Brüder, wo ich immer einkaufe, in der Nähe vom Blumenhändler, bei dem ich freitags immer meine Rosen kaufe, unten auf der weiten Straße, die ich zehn Mal am Tag lang gehe." Es ist dieser israelische Alltag zur Zeit der "zweiten Intifada", in der die so genannten "Selbstmordattentate" der diversen antisemitischen und anti-westlichen arabischen staatlichen und halb-staatlichen Killergangs Opfer in vielen Familien fordern, in dem Rutu Modans graphic novel "Blutspuren" spielt.

Und dabei geht es nicht um das Phänomen Selbstmordattentate oder um eine Gesellschaft, die durch den Terror ebensosehr gesamtgesellschaftlich gelähmt wie auch in ihren Elementen als Individuen liquidiert werden soll. Sondern es geht um den Taxifahrer Kobi, der von der Wehrdienstleistenden Numi auf den Verdacht gebracht wird, dass sein Vater, den er aus bestimmten Gründen lange nicht gesehen hat, der bislang unidentifizierte Tote eines der letzten Anschläge gewesen sein könnte. Zusammen machen sie sich auf die Suche, verfolgen vage Spuren, die Gewissheit geben könnten. Stattdessen kommen sie aber immer wieder vom Weg ab, und all das, was ihnen auf diesem Weg und jenseits von ihm begegnet, das macht "Blutspuren" aus. Diese Geschichte erweist sich als äußerst komplexe graphic novel, auch wenn die Einfachheit des settings das Gegenteil suggeriert und der Zeichenstil, der gerne mit der berühmten belgischen ligne claire identifiziert wird, dies unterstützt. Kobi bemerkt, dass Numi über seinen Vater, der auch ihr Liebhaber ist (oder war?), nicht nur Dinge weiß, die er auch kennt. Sie, die Unbekannte, weiß nicht nur besser als er selbst den Weg zum Grab seiner Mutter, sie kann ihm auch ein differenzierteres Bild seines Vaters vermitteln. Indem er seine Einstellung zu ihm revidiert, entwickelt er, der immer wieder mühselig von Numi angetrieben werden muss, schließlich ein eigenes Interesse daran, seinen Vater zu finden. Ihn selber finden sie nicht, nur finden sie allerlei über ihn heraus, der leibliche Mensch aber hat sich ihnen immer schon entzogen.

Im Laufe von Kobis und Numis Nachforschungen merkt der Leser, wie viele Leben anderer Menschen mit den ihren verwoben sind. Aber es sind nicht nur die wechselnden Beziehungen des Vaters, die sie zu anderen Menschen und deren eigenen Leben führen, die man bislang nicht kannte und für selbstständige Kapseln gehalten hätte. Es sind auch die Anschläge, die eine Verbindung zwischen den Menschen herstellen - wenn auch gänzlich negativ: dass jeder bedroht ist. Modan übertrug auf ihre graphic novel eine eigene Erfahrung: sie hatte ein Date mit einem Typen, so erklärte sie in einem Interview mit der BBC im Juni 2007, der dann nicht kam und sich auch einige Tage nicht meldete, weswegen sie befürchtete, er könnte bei einem Anschlag ermordet worden sein. Was in einem anderen Land eine abwegige Trost-Phantasie zur Heilung gekränkten Narzissmus wäre, muss in Israel leider in Betracht gezogen werden. Weil graphic novels häufig leider immer noch mit dem kulturellen underground assoziiert werden, werden von ihnen zu Unrecht politische Aussagen erwartet. Modan kennt diese Haltung und bezieht sich zwar auf den Nahost-Konflikt, so im BBC-Interview, erklärt ihn aber nicht. Sie zeigt das Leben vor seinem Hintergrund, und durch den Realismus der Handlung sowie ihrer Darstellungsweise kann er nicht außer Acht gelassen werden.


Titelbild

Rutu Modan: Blutspuren.
Edition Moderne, Wuppertal 2008.
168 Seiten, 29,80 EUR.
ISBN-13: 9783037310359

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