Jascha kommt!

Inge Kloepfer, Bernd Siggelkow und Wolfgang Büscher machen uns Angst vor unserer ,Unterschicht'

Von Franz SiepeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Franz Siepe

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Den sozioökonomischen Polarisierungstrend, der die Reichen reicher und die Armen ärmer werden lässt, spiegelt der kulturelle Überbau in Gestalt des Buchmarkts, indem er forciert die auseinanderdriftenden Extreme ins Visier nimmt: dort gehäuft Publikationen zu Legitimität und Legitimation der Elite(n) und hier besorgte Schriften über die - globalisierungsdeutsch gesprochen - "Herausforderung" von Seiten der Zukurzgekommenen, der unteren Schichten; derjenigen, deren Existenz arrivierte Soziologen wie Heinz Bude ("Die Ausgeschlossenen") mit dem Begriff der Exklusion fassen.

Mehr und mehr scheint die Ansicht zur herrschenden Lehre zu werden, die althergebrachte Oben-Unten-Metaphorik sei nicht länger tauglich zur Beschreibung des alten Faktums der sozialen Ungleicheit und deshalb durchs Paradigma der Innen-Außen-Differenz zu ersetzen. Inklusion versus Exklusion, Eingeschlossene gegen Ausgeschlossene. Was aber die armen Leute von dieser terminologischen Entvertikalisierung haben könnten, weiß niemand zu sagen. Im Gegenteil: Heinz Bude verkündet schlichtweg "Das Ende vom Traum einer gerechten Gesellschaft".

Ein wenig mehr Optimismus lässt uns die Wirtschaftsjournalistin Inge Kloepfer, wenn sie im Epilog ihres Buches meint, der drohende "Aufstand der Unterschicht" sei dann abzuwenden, wenn wir das Schulsystem verbessern und uns überhaupt "um die Kinder und Jugendlichen kümmern". Noch hält Kloepfer es für nicht ausgeschlossen, dass die Kinder der Armen sich dereinst für uns alle nützlich machen und uns demnächst nicht länger auf der Tasche liegen werden; dass sich also "die kleinen Persönlichkeiten zu Menschen mit Leistungsbereitschaft und Verantwortungsbewusstsein entwickeln können". Zu diesem Zweck sei es "so wichtig, dass der gesellschaftlich benachteiligte Nachwuchs wieder die Möglichkeit bekommt, unsere Gesellschaft als eine offene, faire und chancenreiche zu erleben, als eine motivierende und aufbauende Gesellschaft, als eine, die solidarisch ist, von Gemeinsinn getragen wird und der Tradition der Freiheit verpflichtet bleibt".

Sofern jedoch nichts dergleichen geschieht, werden wir schon recht bald (Kloepfer visiert zeitlich den Sommer des Jahres 2020 und räumlich die Münchener Innenstadt an) sehen, "was auf uns zukommt": "Das Heer der Ausgeschlossenen, Chancenlosen, Entbehrlichen wird den anderen - uns allen - buchstäblich zu Leibe rücken." Wie der Aufstand der Masse der Ausgeschlossenen genau aussehen wird, lässt die Autorin im Dunkeln; ungemütlich aber wird es für uns, die wir bislang so unbekümmert in den Nobelgeschäften der Metropolen geshoppt hatten, gewiss werden: "Sie [die Aufständischen des Jahres 2020] hocken herum und gucken, manche bedrängen mit Einkaufstüten beladene Passanten. Es scheint, als hätten sie sich allesamt abgesprochen, sich an diesem Abend dem Establishment entgegenzustellen. Auch Jascha hat mitbekommen, dass viele vorhaben, in die Innenstadt zu ziehen. Keine Flugblätter, keine Aufrufe - es lief über Mund-zu-Mund-Propaganda."

Auf dem "blauen Sofa" während der Frankfurter Buchmesse 2008 erzählte Inge Kloepfer in der ZDF-Sendung "Aspekte" vom 18. Oktober 2008, wie sie auf "Jascha" gekommen ist: "Jascha hieß einer meiner Gesprächspartner, die ich über die Jahre kennengelernt habe aus dieser Schicht. Und den Namen fand ich so anrührend, weil er so die ganze Hoffnung zeigt, die im Prinzip immer wieder aufs neue entsteht, wenn ein Kind geboren wird in diese Schicht. Diese Erfolgssehnsucht: dieses mein Kind ist etwas Besonderes, 'ne Hoffnung, die am Ende dann relativ schnell zerplatzt. Der Traum eines besonderen Kindes in deklassierten Schichten scheitert halt oft, und das ist ganz traurig." Fürwahr ganz traurig; für Inge Kloepfer und für Jascha erst recht.

Jascha lebt heute noch in Berlin und ist, wie Kloepfer gleich zu Beginn klarstellt und am Ende noch einmal betont, "Deutscher". Seine Mutter bekam als minderjähriges sechzehnjähriges Mädchen das erste Kind und ist mit Mitte zwanzig alleinerziehend mit fünf Kindern von zwei Vätern. Dauerkontakte zum Jugendamt sind die Regel. Jascha wird zwischenzeitlich in einer psychiatrischen Klinik untergebracht, kommt später in ein Heim und bleibt ohne Hauptschulabschluss; Hartz IV, schlechter Kiez, Ladendiebstähle, Kontakte mit Drogen, Perspektivlosigkeit et cetera.

Das alles bringt Kloepfer in einer Art boulevardisierender Sozialreportage vor, die in extenso schildert, was wir längst über die Jaschas aus "diesen Schichten" wissen könnten - sei es aus der Zeitung für kluge Köpfe, für die auch Inge Kloepfer schreibt, sei es aus dem Unterschichtsfernsehen oder sei es aus eigener leibhaftiger Anschauung. Wissenschaftliche Unterfütterung bekommt die Jascha-Erzählung durch Referate und Paraphrasen aus soziologischer, pädagogischer, demografischer und volkswirtschaftlicher Fachliteratur.

Sicher, als kleiner Junge war Jascha wohl ein süßes Kind: "seine blasse, feine Haut mit ein paar wenigen Sommersprossen, die weichen Züge, seine Stupsnase, seine engstehenden wasserblauen Augen [...] irgendwie schutzbedürftig." Was aber haben wir mit unserer Sorglosigkeit angerichtet - und was hat unser dem Globalisierungsprozess unzureichend angepasstes Bildungssystem, das eine "potenzielle Ausfallquote von mehr als 20 Prozent" produziert, aus dem einstigen Hoffnungsschatz von Jaschas Mutter gemacht? "Wenn man ihn als Ganzes [sic!] vor sich hat, dann ahnt man sofort, dass aus ihm ein unberechenbarer Schläger geworden ist." Mit hoher Wahrscheinlichkeit wird er uns demnächst nicht "unsere Rente bezahlen, für die von uns benötigten Pflegeleistungen aufkommen und sich um uns kümmern". Es ist auch kaum zu erwarten, dass Jascha zu denen zählen wird, die einmal "unsere Immobilien erwerben, die wir womöglich verkaufen müssen, um es uns auch im Alter noch gutgehen zu lassen".

Immer wieder führt Inge Kloepfer "zerrüttete Familienverhältnisse" als ursächlich für das massenhafte Heranwachsen von "Systemverlierern" an. Und man höre und staune: Auch "fehlende Väter" sind ein Sozialisationsfaktor, der die Zukunft der Unterschichtskinder gefährdet. Das ist nun wirklich neu; hatte man doch jüngst noch zu lernen, die traditionelle Familie sei eine Hölle des Hauens und Stechens und der Sexualtraumatisierungen: "Wenn Sie Opfer von Gewalt werden wollen, gründen Sie eine Familie", warnte noch 2007 Kai-Detlef Bussmann, ein Professor für Strafrecht und Kriminologie, der ein paar Jahre zuvor im Auftrag der Bundesregierung die Kampagne "Mehr Respekt vor Kindern" begleitet hatte. Und Alice Schwarzer dekretierte in ihrem Buch "Die Antwort" in ausdrücklicher Bezugnahme auf Kai-Detlef Bussmann: "Die heilige Familie, wir wissen es seit langem, ist ein Phantom. Sie taugt wenig als Urzelle einer zukünftigen Gesellschaft, denn sie basiert auf Hierarchie und Abhängigkeit, Macht und Gewalt."

Das hat freilich Tradition: 1968 hatte etwa Daniel Cohn-Bendit zusammen mit seinem Bruder Gabriel ("Linksradikalismus") gepredigt: "Suche ein neues Verhältnis zu deiner Freundin, liebe anders, sag nein zur Familie." Mittlerweile folgt nun das "abgehängte Prekariat" diesem von den Cohn-Bendits und ihren Gesinnungsgenossen formulierten Postulat der Auflösung des bürgerlichen Familienzusammenhalts quasi aufs Wort und formiert sich selbstbewusst zum kollektiven Aufstand gegen die Triebversagungszwänge der altabendländisch-christlichen Sexualmoral. In diesem Sinne berichten der evangelische Pfarrer Bernd Siggelkow und der Journalist Wolfgang Büscher in ihrem gemeinsam verfassten Protokoll über "Deutschlands sexuelle Tragödie" von den Erfahrungen, die sie im Berliner Kinder- und Jugendzentrum "Die Arche" sammeln mussten.

Die "Arche" hat sich mittlerweile auch in Hamburg, München, Potsdam und Köln etablieren müssen. Sie hat sich zum Ziel gesetzt, "Kinder von der Straße zu holen, sinnvolle Freizeitmöglichkeiten zu bieten und gegen soziale Not anzugehen". Die Autoren machen uns mit Kindern wie Viktor vertraut, der durchaus nicht primär unter der Gewalt patriarchaler Familienverhältnisse zu leiden scheint:

"Bis vor einiger Zeit kam der 8-jährige Viktor zu uns in die Arche. Viktor war sehr verhaltensauffällig. Schon an seinem ersten Tag in der Arche fiel den Mitarbeitern seine extrem sexistische Wortwahl auf. In fast jedem Satz benutzte er Wörter wie "Hure", "Ficken" und "Titten". Wir wussten von dem Jungen, dass es für ihn schon von klein auf normal war, dass er seine Mutter beim Sex im Nachbarzimmer hörte, wenn sie wieder einmal einen neuen Freund hatte, seinen ersten Pornofilm sah er schon mit 5 Jahren. Immer wieder redeten wir mit Viktor über seine Wortwahl, als er jedoch anfing, unsere Mitarbeiterinnen an den Busen oder in den Schritt zu fassen, mussten wir drastischer eingreifen."

Viktors Mutter wurde vom Jugendamt herbeizitiert und sagte, in den Pornofilmen, die sie mit dem Jungen ansehe, "ginge es doch nur um Sex, das sei doch alles ganz natürlich und würde die Entwicklung des Kindes doch nur fördern". Diese Äußerung von Viktors Mutter kommt Siggelkow und Büscher vor "wie Hohn".

Kinder brauchen, damit sie gute und glückliche Menschen werden, laut Siggelkow und Büscher zwei Eltern, nämlich Mann und Frau, an deren Vorbild sie die Liebe lernen: "Im Idealfall erlernt es [das Kind] diese Fähigkeit [zu lieben] durch das Vorbild seiner Eltern. Es sieht, wie diese in Liebe und Respekt miteinander - und natürlich auch mit ihm, dem Kind - umgehen. [...] Es gibt viele, denen ein solches Vorbild nicht vergönnt ist. Kinder, die ohne einen Vater oder eine andere feste männliche Bezugsperson aufwachsen. In unserer Einrichtung lernen wir viele solcher Kinder kennen. Ihre Mütter sind oft noch sehr jung. Wenn ein Partner sie verlassen hat, wollen sie natürlich nicht allein bleiben, also suchen sie sich einen neuen."

Dreißig Fallgeschichten dokumentiert das Buch über die sexuelle Verwahrlosung von Kindern und Jugendlichen. Indes ist, wie Thomas Schirrmacher im Vorwort zu "Deutschlands sexuelle Tragödie" wissen lässt, "[d]as Ganze [...] kein reines Unterschichtproblem mehr".

Mädchen im Kindesalter werden alltäglich Opfer sexueller Gewalt von Jungen, die genauso alt oder wenig älter sind; doch spielen die Mädchen oftmals auch ohne äußere Nötigung mit. Und mit auffälliger Häufigkeit scheinen alleinerziehende Mütter nicht willens oder in der Lage zu sein, das Treiben zu unterbinden. Wie auch? Sie selbst, ausgestattet mit wenig Scham, aber mit einer langen Reihe wechselnder Liebhaber, lassen sich den Weg zur selbstbestimmten Ausübung ihrer Sexualität von Pornofilmen und vom Schmuddelfernsehen weisen.

Was wollen wir nur einwenden, wenn als Standarderwiderung ein "Wieso, das ist doch geil!" zu erwarten steht; wenn, um mit Habermas zu sprechen, "ein Bewußtsein von dem, was fehlt, von dem, was zum Himmel schreit", nicht einmal rudimentär vorhanden ist?

Man darf auch an der ätiologischen Triftigkeit der Diagnose Siggelkows und Büschers zweifeln, nach der die verwahrlosten Kinder verwahrloster Elternteile "Sex" als "Ersatz für fehlende Werte" nehmen. Denn falls wir Sigmund Freuds Kulturdiagnose in ihrem Kern ernst nehmen, verhält es sich doch gerade so, dass diejenigen kulturellen Entitäten, die wir als Werte anzuerkennen haben, Sublimationsprodukte aus triebhaften Energien und somit ein Sekundäres sind. Eher sind also "Werte" Ersatz für "Sex" als umgekehrt. Und wer aber nun mit Erfolg darauf aus ist, mittels massenindustrieller "Psychotechnologien der Dummheit" (Bernard Stiegler) die gesamtkulturelle Kraft zur Sublimation zu delegitimieren und so zu depotenzieren, macht sich zuallererst schuldig an den Geringsten seiner Brüder: an den Jaschas und Viktors. Denn das sind die Wehrlosesten.

Nach Lage der Dinge hat der Rezensent für einen Aufstand der so genannten gebildeten Schichten zur Abwehr aller Strategien der "repressiven Entsublimierung" (Herbert Marcuse) zu plädieren; für einen Aufstand gegen die - ohne weiteres namhaft zu machenden - zynischen Produzenten fremdverschuldeter Unmündigkeit.


Titelbild

Inge Kloepfer: Aufstand der Unterschicht. Was auf uns zukommt.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2008.
300 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783455500523

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Titelbild

Bernd Siggelkow / Wolfgang Büscher: Deutschlands sexuelle Tragödie. Wenn Kinder nicht mehr lernen, was Liebe ist.
Gerth Medien, Asslar 2008.
187 Seiten, 14,95 EUR.
ISBN-13: 9783865913463

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