Fünfzig amerikanische Variationen über Mord

Harold Schechter hat Formen und Höhepunkte seines Genres bei der "Library of America" zu einem zentralen Textbuch der Kriminalliteratur zusammengestellt

Von Björn Orm VinxRSS-Newsfeed neuer Artikel von Björn Orm Vinx

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nicht die Morde geschäftsmäßiger Krimineller oder das jedermann hinlänglich bekannte Blutvergießen aus Eifersucht und Habgier, sondern Ausbrüche grausamster Gewalt inmitten des gewöhnlichen zivilisierten Lebens sind seit jeher erstklassiger True-Crime-Stoff. Die erstgenannten Fälle lassen oft nur ein wenig schaudern oder reizen zuweilen unsere Neugier.

Taten der letztgenannten Art dagegen lassen Münder offenstehen, richten das Nackenhaar auf und erzeugen kalte Schweißausbrüche. Sie sind Boten des blanken Horrors, der sich sonst nur bei der Betrachtung von verheerenden Unfällen, Kriegsbildern und Naturkatastrophen einstellt. Und während dort die Abweichung im Verhalten umstandslos interpretierbar ist, zu unseren Erwartungen passt - etwa als grobes Foul im allgemeinen Ringen um Anerkennung, Macht und Geld - entzieht sich das Kapitalverbrechen hier dem Verständnis. Als vollkommen sinnlos auftretende Taten sind solche Morde zugleich Auslöschung menschlichen Lebens und der Niederschlag unserer Auffassungsroutine davon. Umso mehr ist Fantasie gefragt, nun hochgradig angeregt: Kollege Tod ist da und hat eine Menge trieb- und instinkthafter Impulse im Gepäck.

Die fünfzig Texte in "True Crime - An American Anthology" versammeln ein halbes Hundert literarischer Variationen dieser Morde. True crime heißt: Die jeweilige Komposition fußt auf tatsächlichen Verbrechen der beschriebenen Art, und das Verhältnis von Fakten zu Fiktionen ist Sache des Autors.

Die Sammlung ist im September 2008 bei der akademisch betreuten und hoch ambitionierten "Library of America" herausgekommen - ein 1979 in New York nach dem Vorbild der "Bibliothèque de la Pléiade" gegründeter Verlag, der mittlerweile diverse Klassiker von Henry Adams bis Louis Zukofsky vorrätig hält. "True Crime - An American Anthology" erweitert eine "Special Anthologies" überschriebene Reihe, in der zuvor Titel wie "American Religious Poems" oder auch "American Writers at Home" erschienen sind. Und wie die Ausgaben des Haupt- sind auch die des Nebenprogramms am hohen Anspruch der Edition, das literarische Erbe Amerikas zugänglich zu machen, zu messen.

Bände mit True-Crime-Texten gibt es viele. Dieser soll nicht zu den gewöhnlichen, er soll vielmehr zu den zentralen Textbüchern der Kriminalliteratur gezählt werden können, als die erste umfassende Sammlung der Formen und Höhepunkte des Genres in Amerika - von der puritanischen Exekutionspredigt bis hin zu den Erzählformen der Gegenwart. Mit der Zusammenstellung will der Herausgeber Harold Schechter zudem pauschalen Abqualifizierungen von true crime widersprechen. Als Autor und Literaturwissenschaftler auf dem Gebiet - er lehrt und forscht am Department for American Studies, Queens College, City University of New York - ist das sein erstes Ziel. Sei auch ein Großteil der unter dem Genretitel verbuchten Texte nicht mehr denn von quasi-pornografischer Qualität, so Schechter in der Einleitung, so gebe es doch auch Berührungspunkte mit höherer Literatur. Das könne für jede Epoche beobachtet werden. Zudem verdeutlichten die Beiträge der Anthologie, was die literarische Produktion heute wie gestern vor aller Sensationslust angetrieben habe: Das allgemeine Bedürfnis, Verhalten, das sich einer befriedigenden Interpretation entziehe, dennoch deuten zu wollen. Deshalb, so Schechter weiter, die Konjunkturen der Darstellungsformen und Interpretationsansätze. Die verstörenden Handlungen, sehe man von den Fortschritten der Waffentechnologie einmal ab, seien dagegen immer dieselben geblieben.

Die ersten beiden Texte der Anthologie - William Bradfords "The Hanging of John Billington" und Cotton Mathers "Pillars of Salt" - datieren zurück auf das siebzehnte Jahrhundert und führen den Leser in das frühkoloniale Massachusetts. Die Kirchenväter des amerikanischen true crime sind Puritaner, die bei öffentlichen Hinrichtungen predigten. Mit ihren aufreizend minutiösen Verbrechensschilderungen, vorgetragen in exzessiv selbstgerechtem Tonfall, geben sie einen Vorgeschmack auf zahlreiche Erscheinungen in der weiteren Geschichte des Genres. Und ist auch im neunzehnten Jahrhundert das Format der Predigt samt dem dazugehörigen religiösen Vokabular obsolet geworden, so schreiben Journalisten wie James Gorden Bennett ähnlich sensationsorientiert. Der Pionier des modernen Journalismus und Gründer des Massenblattes "New York Herald" ist mit "The Recent Tragedy" in der Textsammlung vertreten - ein 1836 veröffentlichter Artikel über einen Prostituierten-Mord in Manhattan. Er kann für eine Reihe anderer Texte der Anthologie stehen, die maßgeblich mit sexueller Suggestion und Blut arbeiten. Neben einigen Journalisten gilt das auch für Autoren wie William Tibbetts Brannon. Dessen 1966 im Pulp-Magazin "True Detective" gedruckte Geschichte trägt den vielsagenden Titel: "Eight Girls, All Pretty, All Nurses, All Slain."

Die ausführlichen Hintergrundreportagen und zeitkritischen Essays in "True Crime - An American Anthology" repräsentiert dagegen "The Trial of Guiteau." Die 1881 in "La Opinión National (Caracas)" gedruckte Gerichtsreportage ist ein gedanklich durchgearbeiteter Kommentar des kubanischen Poeten, Dramatikers und Übersetzers José Marti. Ganz vorzüglich gelingt es ihm, das Tragisch-Komische des fatalen Anschlags auf US-Präsident James Garfield zu zeichnen. Ohne Blut und sexuelle Suggestion arbeitet etwa auch der Diplomat John Bartlow Martin. Seine Darstellung "Butcher's Dozen" über den berüchtigten "Cleveland-Torso-Killer" ist viel feiner, als der Titel vermuten lässt. Sie liest sich über weite Strecken wie eine Milieu-Studie der Ausgestoßenen in den Metropolen der Großen Depression.

Mit beiden Grundformen - dem Schreiben um starke Affekte und distanzierte Perspektiven - wissen die "New Journalists" umzugehen. Ihre literarisch ambitionierte Dokumentationsprosa nach Truman Capotes "In Cold Blood", der hier mit einem Gefängnisinterview des Charles-Manson-Anhängers Robert Beausoleil vertreten ist, bildet die letzten zweihundert Seiten der Textsammlung und damit zugleich den umfangreichsten Abschnitt. Sie sind die Vertreter des Genres, nachdem es neben Zeitungen und Magazinen auch den Buchmarkt erobert hat. James Ellroy - ein Schulabbrecher, Gewohnheitskrimineller, Alkoholiker, der jahrelang seinen Unterhalt als Golf-Caddy verdienen musste - ragt mit "My Mother's Killer" unter den Beiträgen heraus. Der "Demon Dog of American Literature" lässt Codes höherer Kultur ganz offen vermissen. Sein Kurz-Satz-Fatalismus spricht von persönlichem Beteiligtsein, hier vom Mord an seiner Mutter - eine Einstellung, die Truman Capote vorgegeben hatte.

Vermutlich auch, um true crime den Geruch der Schmuddelecke zu nehmen, enthält die Textsammlung große Namen, darunter Mark Twain mit einem Auszug aus "Roughing It" und Theodore Dreiser mit einer Vorarbeit zu "An American Tragedy". Harold Schechter betont in diesem Zusammenhang die Bedeutung seines Genres als Quelle der Inspiration für höhere Literatur. Angesichts der Vielfalt der Textformen und der Stärke der Stoffe wirkt das allerdings überflüssig. Für die Kriminalliteratur handelt es sich um eine repräsentative und zentrale Sammlung. Der Band macht damit zugleich einen interessanten Teil der literarischen Kultur Amerikas zugänglich. Eine deutsche Übersetzung wäre wünschenswert. Ob Literatur die eine oder andere quasi-pornografische Note, mitunter auch einen ganzen Satz davon, beinhalten darf oder auch nicht, wäre woanders zu diskutieren. Die Aussage des Herausgebers, den Autoren sei es vor aller Sensation stets darum gegangen, extremes Verhalten verständlich zu machen, ist ebenso fragwürdig wie akademisch.


Titelbild

Harold Schechter (Hg.): True Crime: An American Anthology.
The Library of America, New York 2008.
788 Seiten, 24,40 EUR.
ISBN-13: 9781598530315

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