Das Begehren macht den Menschen

Amy Blooms Lolita schert sich wenig um moralische Konventionen

Von Uwe WittstockRSS-Newsfeed neuer Artikel von Uwe Wittstock

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der amerikanische Originaltitel dieses Buches lautet "Love Invents Us", und er beschreibt präzise, wovon die Autorin Amy Bloom in diesem, ihrem ersten Roman erzählt. Liebe, Begehren, Sehnsucht zählen für ihre Figuren nicht nur, was längst zum psychologischen Gemeinplatz geworden ist, zu den wesentlichen Antriebskräften des Lebens. Nein, ihr Leben erhält durch ihre Liebeserfahrungen überhaupt erst die entscheidende Richtung; sie finden, ja erfinden sich durch diese Erfahrungen selbst. Das Begehren macht die Menschen.

Die Resultate dieses Prozesses sind allerdings nicht immer angenehm. Im Gegenteil, für Amy Blooms Figuren erfindet die Liebe Lebenskatastrophen von wahrhaft verheerenden Ausmaßen. Katastrophen, die alle Außenstehenden für absolut unnötig halten, so leicht ließen sie sich vermeiden. Doch die Beteiligten könnten ihnen nur dann aus dem Wege gehen, wenn sie bereit wären, auf die Erfindung ihrer selbst zu verzichten. "Dies hier", so wird sich einer von Amy Blooms Helden des Liebesunglücks klar, "dies Mädchen, war vergiftetes Wasser in einer Tausend-Quadratmeilen-Wüste, und er mußte trinken und wußte, er starb."

Die Handlung ist schnell zu skizzieren: Die altkluge, frühreife und an moralischen Konventionen nur mäßig interessierte Liz wächst in einem unterkühlten Elternhaus auf. Also sucht sie Zuneigung und Anerkennung, wo immer sie die bekommen kann. Zum Beispiel bei einem Pelzhändler, für den sie als Schülerin in Slip und Hemdchen die verschiedenen Zobel-Kreationen anprobiert. Oder bei ihrem Lehrer, Mr.Stone, der sie für ihre Gedichte lobt und der mit ihr schläft, noch bevor sie sechzehn wird. Aber Mr.Stone ist nicht einfach auf Sex mit Minderjährigen aus, sondern verliebt sich tatsächlich. Hingerissen von seiner Lolita läßt er die bei einem solch heiklen Verhältnis dringend nötige Vorsicht fahren und hat im Handumdrehen seine Ehe, Laufbahn und Gesundheit ruiniert.

Liz, die inzwischen - auch dem Gesetz nach - erwachsen ist, pflegt ihn zu Tode, denn sie spürt, daß sie in dieser Affäre nicht nur die Verführte war, sondern auch Verführerin. Doch ihr Herz hat sie inzwischen an Huddie, einen gleichaltrigen Farbigen, verloren, der von den Eltern bald darauf in ein fernes College verfrachtet wird. Von dort kehrt er erst Jahre später verheiratet und als Vater zurück, um festzustellen, daß seine Leidenschaft zu Liz ungebrochen fortdauert. Da er zwar bereit ist, seine Frau sofort zu verlassen, sein Kind aber erst, wenn es aufs College geht, wird aus Liz und Huddie erst ein Jahrzehnt später wirklich ein Paar.

Amy Blooms größtes Talent ist es, die Liebesbedürfnisse ihrer Figuren, und seien sie noch so obsessiv oder rücksichtslos, in einer klaren, gelassenen Sprache verständlich zu machen. Sie verurteilt die Charaktere nie, nicht einmal in Zwischentönen. Sie schildert nur und das genau und klug: Wie sich Liz' Mitleid mit dem kranken Mr. Stone allmählich in Verachtung verwandelt, und wie sie ihn mit ihrer sexuellen Anziehungskraft, noch auf dem Sterbebett quält; oder wie der Sohn von Mr. Stone nach dem Tod seines Vaters mit Liz, der Frau, die sein Elternhaus zerstört hat, zu schlafen versucht.

Weniger beeindruckend sind Amy Blooms dramaturgische Fähigkeiten. Im Mittelteil verliert ihr Roman spürbar an Fahrt, und man hat das Gefühl, daß die Autorin versucht, allzuviele Motive und Konstellationen, die sie bereits in ihrem exzellenten Erzählband "Liebe ist ein seltsames Kind" (1995) erprobte, in ihrem neuen, zweiten Buch noch einmal unterzubringen. Was ihren Plot ziemlich breit und ein wenig unkonzentriert werden läßt.

Aber ihre Gabe, Figuren plastisch vor Augen zu stellen, atmosphärisch dichte Szenen zu entwerfen und vor allem ihr Witz versöhnen mit vielem. Die heute fünfundvierzigjährige Amy Bloom gilt als eine der späten Hoffnungen der amerikanischen Literatur. Das bestätigt ihr erster Roman allemal, auch wenn er die Hoffnungen noch nicht ganz einlöst.

Aber ihre Gabe, Figuren plastisch vor Augen zu stellen, atmosphärisch dichte Szenen zu entwerfen und vor allem ihr Witz versöhnen mit vielem. Die heute fünfundvierzigjährige Amy Bloom gilt als eine der späten Hoffnungen der amerikanischen Literatur. Das bestätigt ihr erster Roman allemal, auch wenn er die Hoffnungen noch nicht ganz einlöst.

Titelbild

Amy Bloom: Das Mädchen im Pelzmantel. Aus dem Amerikanischen von Adelheid Dormagen und Karin Kersten.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 1998.
272 Seiten, 18,40 EUR.
ISBN-10: 3455003796

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