Zufallsgeschichten

George Pelecanos entfaltet in seinem Krimi "Der Totengarten" eine unprätentiöse Erzählkunst

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kriminalromane haben das erzählerische Problem, soweit sie lösungsorientiert sind, dass sie ihren Täter in der Regel aus dem Personalbestand vorstellen müssen (und wollen), den sie sich im Verlauf der Handlung aufgebaut haben. Das schränkt das Überraschungsmoment deutlich ein, was wiederum der Spannung der Texte nicht notwendig zuträglich ist. Die erzählerische Ökonomie neigt aber nicht dazu - wenn sie nicht ausdrücklich auf Irrwege ausgelegt ist -, sich mehr Arbeit zu machen als notwendig. Das mag damit zusammenhängen, dass das, was erzählt wird, unter dem steten Sinnverdacht steht und halbwegs mit der Annahme leben muss, dass alles, was man in einem Text vorfindet, mit den anderen Gegenständen, Ereignissen und Handlungssträngen verbunden ist, die sich dort gleichfalls angesammelt haben. Ausgenommen von einer solchen Ökonomie sind nur Ausstattungselemente wie die Trinkgewohnheiten, Sexualvorlieben und der Musikgeschmack der Figuren, zumal sie die Funktion haben, den "Sitz im Leben" der Texte zu bestimmen, mithin der Authentifizierung und Glaubwürdigkeit der Figuren zuzuarbeiten.

Und so geraten die meisten Texte zu - je nach Organisationsfähigkeit des Autors - dicht gefügten Ensembles, die einem Leser vor allem die Aufgabe stellen, den verborgenen Zusammenhang zu konstruieren, in dem dann alles, was geschehen ist, einen Sinn ergibt. Diese Organisation erklärt sich etwa durch die Vorstellung eines "realen" Erzählers (der allerdings in der Art des Erzählens kaum noch abgebildet wird), der mithin als organisatorischer Zentralpunkt die Erzählstränge auf sich ausrichtet: Was er erzählt, ist seine Auswahl, in der imaginierten Urform, seine Erinnerung.

Warum ein solcher Exkurs in die Standards der Kriminalerzählung? Ganz einfach, George Pelecanos spielt überaus souverän mit der subkutanen Sinnkonstruktion des Kriminalerzählens. Dabei agiert er auf verschiedenen Ebenen, die zum Teil völlig unabhängig voneinander zu sein scheinen.

So schließt Pelecanos auf einer Ebene an die Familien- und Nachbarschaftskonstruktionen, die seit den 1980er-Jahren durch die verschiedenen Medien geistern. Gus Ramone ist Kern dieses Teils der Geschichte, der sich um seine Familie, die Sorgen, die sich die Eltern um ihre heranwachsenden Kinder in einer immer härter werdenden Gesellschaft machen, und um die Bedrohungen dreht, die von jenem (kleinen) Teil der Gesellschaft ausgehen, dessen Ausweg nur noch der Nachruhm ist, der durch Gewalt begründet wird. Drogen und Rassenkonflikte bilden den Kern dieses Arrangements. Um eine weitere Figur, Dan Holiday, genannt "Doc", konstruiert Pelecanos die Geschichte eines gescheiterten Polizisten, der erst lernen muss, dass es besser für ihn und die Polizei war, dass er aus dem Dienst geschieden ist. Hinzu kommt die Geschichte des pensionierten T.C. Cook, der in den 1980er-Jahren vergeblich an der Aufklärung eines Serienmordes gearbeitet hat. Diese drei Handlungsstränge werden durch den Tod eines Jungen zusammengeführt, der frappierend an die alte Mordserie erinnert.

Abseits davon scheinen sich lange Zeit jene Erzählteile zu bewegen, in denen junge Kriminelle das schnelle Geld besorgen und ihre Glaubwürdigkeit auf der Straße beweisen müssen. Als Folie für die sorgenvollen Bemühungen Gus Ramones taugen solche Erzählteile allemal, allerdings nehmen sie einen solchen Umfang ein, dass sie Fragen nach mehr provozieren. Die Aufklärung des Falles des jungen Asa, die Beschaffungsaktivitäten der Straßenjungs, der Ehrgeiz von Holiday und Cook, die Atmosphäre, mit der Pelecanos seine Szenerie ausstattet, bilden ein enges Ereignis- und Handlungsgeflecht, das Zusammenhänge nahelegt.

Aber Pelecanos lässt solche Erwartungen ins Leere laufen. Dabei rührt er seine ideologische Botschaft überhaupt nicht an. Gus Ramone ist ein treusorgender Vater und guter Ermittler, der viel gesehen hat und dem noch mehr daran liegt, dass seine Kinder nicht der fatalen Attraktivität der Straßenkriminalität erliegen. Er liebt seine Frau und seine Kinder, er macht seine Arbeit, und alles das passt wunderbar zusammen. Eine Vorzeigefamilie in einer sozialen Umgebung, die sich zum Vorzeigen definitiv nicht eignet.

Pelecanos lockert dabei jedoch die organisatorischen Zügel. Die Geschichten, die er erzählt, umkreisen nicht die Mordtat, sondern sind über teils zufällige personale Kontakte geknüpft. Zum Teil aber haben sie Parabelcharakter: Sie zeigen, dass der Zufall Zusammenhänge nahe legt, die zumindest keinen kausalen Charakter haben. Was bleibt, sind Geschichten, die in erster Linie nur Tatsachen aufzählen, keine Zusammenhänge: Der Umstand, dass ein verdächtiger Polizist einen verdächtigen ehemaligen Strafgefangenen in der Tankstelle trifft, in der er arbeitet, kann heißen, dass sie sich kennen, aber auch, dass er nur tanken will und irgendwann auch bezahlen muss. Im heuristischen Genre Kriminalroman wird nahe gelegt, dass das kein Zufall ist. Im Alltag ist das bestenfalls ein statistisches Ereignis. Wie aber sich entscheiden?


Titelbild

George Pelecanos: Der Totengarten. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Anja Schünemann.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2008.
455 Seiten, 9,95 EUR.
ISBN-13: 9783499247866

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