Hybris der Moderne

Ariane Leendertz beschreibt, wie die deutsche Raumplanung mit dem Konzept "Ordnung schaffen" ein Jahrhundert mitbestimmte

Von H.-Georg LützenkirchenRSS-Newsfeed neuer Artikel von H.-Georg Lützenkirchen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Die Geschichte der deutschen Raumplanung im 20. Jahrhundert ist die Geschichte des Aufstiegs und des Niedergangs eines utopischen Großprojekts, das gleichsam vom Schreibtisch aus die Verwerfungen der Moderne zu steuern versuchte, um ,Ordnung' zu schaffen."

So fasst Ariane Leendertz ihre 2006 als Dissertation von der Universität Tübingen angenommene Studie "Ordnung schaffen" über die deutsche Raumplanung im 20. Jahrhundert zusammen. Das Resümee verweist auf einige Aspekte, die über das Expertenthema Raumplanung hinaus weisen und die Studie auch für andere Disziplinen interessant erscheinen lassen. Ein "utopisches Großprojekt", entstanden aus dem emanzipatorischen Geist einer aufgeklärten Moderne greift zu einem Klassiker der Restauration: "Ordnung schaffen", um die vermeintlichen Folgen des Aufbruchs in die Moderne zu kompensieren. Das klingt wie eine Geschichte zur Veranschaulichung der "Dialektik der Aufklärung".

Das neuartige und moderne Projekt Raumplanung terminiert die Autorin in das Jahrhundert seit den ausgehenden 1980er-Jahren des 19. Jahrhunderts. Das Projekt startete mit der euphorischen Überzeugung, mit den neuen technischen und wissenschaftlichen Mitteln und Methoden das Leben der Menschen verbessern zu können. Die Raumplanung plante in diesem Sinne eine Veränderung der sozialen Lebensbedingungen durch optimierte Verflechtung der industriellen städtischen Ballungsräume mit dem Umland. Ein Beispiel dieses Verständnisses ist die "Siedlungsbewegung" des frühen 20. Jahrhunderts. Symbol dieser Euphorie war die "Vogelperspektive". Die modernen Luftbildaufnahmen erlaubten einen neuartigen "Überblick" auf das große Ganze. Im "Überblick" ließ sich nun erkennen, wie Eingriffe in die räumlich Ordnung zu gestalten waren, um Einfluss auf die sozialen Beziehungen nehmen zu können. Ihr zur Seite stand die moderne Statistik. Auch sie versprach Überschaubarkeit. Die derart wahrgenommene Welt sollte planbar werden. Planbar im Sinne einer "volkswirtschaftlichen Rationalisierung und Verwaltungseffizienz". Spätesten hier aber entfernte sich die neue Disziplin bereits wieder von ihren ,menschenfreundlichen' Ursprüngen. Die scheinbar neutralen und unangreifbar scheinenden Kategorien der Rationalität und Effizienz, typische Produkte der sich gegen ihre Ursprünge wendenden Aufklärung, warteten nur darauf, ,planmäßig' umgesetzt zu werden.

Dies geschah während des Nationalsozialismus. Seit den 1930er-Jahren erlebte infolgedessen die Raumplanung eine immense Wertschätzung. Der nationalsozialistische Staat ,politisierte' die Raumplanung und ,verstaatlichte' sie. Die Raumplanung wurde zum Instrument des totalitären Staates. Ein Glücksgefühl für die ,unpolitischen' Raumplaner. Nun konnten sie mit nie zuvor gekannter staatlicher Unterstützung ihre Disziplin in die Praxis überführen. Zugleich verlor die Raumplanung den letzten Rest ihrer Unschuld. Denn die mit raumplanerischen Mitteln zu schaffende Ordnung, so schreibt Leendertz, war eine ideologische "Ordnung von ,Rassen' und ,Völkern', in der jede Form von Mehrdeutigkeit als Ausdruck von Unordnung rücksichtslos eingeebnet wurde."

Der Bedeutungszuwachs der Raumplanung im nationalsozialistischen Staat ist auch ein Beispiel für die Anfälligkeit der Moderne. Ihr fehlt die emanzipatorische Kompetenz zur Abwehr totalitärer Vereinnahmungen. Im Gegenteil: sie fühlt sich sogar geschmeichelt und bewundert den modernistischen Gestus der totalitären Herrschaft, der ihr ein technokratisches Handeln zu erlauben scheint - ohne Rücksicht auf soziale und menschliche Maßstäbe. Auch die Raumplaner besorgten das Geschäft der Täter.

Doch nicht derartige selbstkritische Vergewisserung stand im Zentrum der Jahre nach 1945. Im Gegenteil: die Raumplaner, denen es problemlos gelang, auch in der Bundesrepublik wieder Amt und Würde zu erlangen, wussten ihre Rolle im Nationalsozialismus zu verharmlosen. So konnten sie denn auch bald schon wieder ihre erprobten Planungskompetenzen anbieten: "Im modernen Interventions- und Sozialstaat wurde präzise quantifizierbares Wissen über die Gesellschaft und ihren Lebensraum zur unentbehrlichen Ressource von Regierungs- und Verwaltungshandeln." Wiederum mit einem nach Effizienz und Rationalität strebenden staatlichen Regierungswillen an der Seite konnte die Raumplanung die "Planungseuphorie" der 1960er- und frühen 1970er-Jahren mit Konzepten und Inhalten ausfüllen. Es waren nicht zuletzt die Partizipationsbestrebungen einer gegen dirigistisches Planen opponierenden politischen Bewegung von unten, die seit Ende der 1970er-Jahre die Raumplaner in die Defensive drängten. "Sektoralisierung und Regionalisierung", so schließt Leendertz ihre zwar zuweilen etwas zu fachspezifisch angelegte, letztlich aber dennoch auch für den interessierten Laien anregende Studie, "bedeuteten die endgültige Abkehr vom umfassenden Anspruch, mit dem die Raumplanung einst angetreten war - dem Anspruch, sämtliche Probleme von Wirtschaft und Gesellschaft vom Räumlichen her lösen zu können."


Titelbild

Ariane Leendertz: Ordnung schaffen. Deutsche Raumplanung im 20. Jahrhundert.
Wallstein Verlag, Göttingen 2008.
459 Seiten, 46,00 EUR.
ISBN-13: 9783835302693

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