Lebe lieber unperfekt

Das soap-reife WG-Duo "Hartmut und Ich" geht in Oliver Uschmanns viertem Roman "Murp!" mit großer Mission on the road

Von Sonja KerstenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sonja Kersten

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Vorbei sind die Zeiten der Bochumer Wohngemeinschaft in der Wiemelhauser Straße 418, vorbei die ausgiebigen Playstation-Abende, Ichs Badewannensitzungen, Hartmuts Nachbarschaftssozialisierungsaktivismus. Auch das Institut zur Dequalifikation überbefähigter Gesellschaftsmitglieder gehört längst der Vergangenheit hat. Selbst die tiefste hohenlohische Provinz und das bei Ebay ersteigerte, denkmalgeschützte Fachwerkhaus haben Hartmut und sein namenloser Mitbewohner unlängst hinter sich gelassen. In Oliver Uschmanns jüngstem Werk "MURP!" ist das WG-Duo nun ohne feste Bleibe. Ein lädierter VW-Bus und ein alter Renault-Kastenwagen bieten ihnen ein Obdach, in denen sie ihr übriges Hab und Gut und mit ihm einige, bereits aus den vergangenen drei Romanen bekannte Charaktere nomadenhaft über Deutschlands Autobahnen steuern. So sind nicht nur WG-Kater Yannick und Schildkröte Irmtraut, sondern auch Hartmuts Handwerkerfreundin Susanne und die wunderschöne Caterina stets mit dabei, der der Ich-Erzähler bereits in "Voll beschäftigt" sein Herz schenkte. Grund ihrer Autobahn-Großexkursion: Sie machen unter der leitenden Feder von Künstlerin Caterina "Kunstpause", eine Wanderausstellung auf deutschen Raststätten, um - wie es heißt - die Kunst zum Volk zu bringen.

Unterwegs begegnen ihnen ebenso interessante wie skurrile Gestalten, die für Jubel, Trubel und Turbulenzen sorgen, wie der kleine Jungkünstler Leander oder die "verfahrene Ehe" von Ursel und ihrem orientierungslosen Mann, der übereifrige Autobahnpolizist Herr Reinhard, der Kultregisseur und Aktionskünstler Christian Knotendieb und das indische Mädchen Sati. Lästigster Weggefährte jedoch ist ihnen der GEZ-Mann Twitter, der zum Leidwesen aller die schon in "Hartmut und ich", "Voll beschäftigt" und "Wandelgermanen" thematisierten Steuerprobleme der Gruppe aufzudecken sucht. Wohl nicht ohne Grund trägt der Mann seinen Namen in Anlehnung an den jüngsten Micro-Blogging-Trend "Twittern". Denn genau wie es bei dieser Form der Kommunikation Gang und Gäbe ist, stets über Personen seiner Wahl up-to-date zu sein und in so genannten "Tweets" alles auszuzwitschern, weiß auch Herr Twitter bestens über das Leben von Hartmut, Ich, Susanne und Caterina Bescheid und erpresst sie mit persönlichen Details.

Doch damit noch nicht genug der Probleme. Schließlich treibt sich auf den Schnellstraßen Deutschlands auch noch dieses ominöse Schulprojekt "Vorsprung" herum, eine Klasse, die im Zuge von Globalisierung und stetig wachsender Bedrohung des internationalen Arbeitsmarktes durch die selbst- und rastlosen Chinesen ihren Unterricht on the road in einem Reisebus absolvieren.

All diese Begegnungen haben jedoch nicht nur unterhaltenden Wert. Denn gekonnt verknüpft Uschmann die Erlebnisse mit dem merkwürdigen Verhalten von Hartmut. Der nämlich ist in "MURP!" kaum wiederzuerkennen und bereitet Mitreisenden und Lesern allerhand Grund zur Besorgnis. Während des mehrwöchigen Autobahntripps wird er von nur einem Gedanken getrieben: Lebe lieber unperfekt! Getreu dem Motto: "Schwimmen Sie nicht länger gegen den Strom, sondern klettern Sie aus dem Fluss", verfasst Hartmut insgesamt 14 kleine Schriften als Ratgeber für einen unvollkommenen Lebensstil. Schon der titelgebende Imperativ "MURP!", eine Wortneuschöpfung Hartmuts, fasst sein Anliegen aufs Kürzeste zusammen. ,Murpen', so schreibt er, bedeutet, sich den alltäglichen Pflichten und menschlichen Verpflichtungen, der eigenen Verantwortung, gar den eigenen Zielsetzungen zu entziehen, die Zeit mit Nutzlosem zu füllen, sich üppigem Gedankenschweifen hinzugeben und sich dennoch eines schlechten Gewissens bewusst zu sein. Es gilt, entscheidungslos zu sein, alles abzuwägen und schließlich allem gleich viel Bedeutung beizumessen. Das ,Murpen' hält auf, lenkt ab und um - nämlich geradewegs ins soziale Chaos.

Hartmuts kleine, mit Herzblut verfasste Repliken, die ein eigenes Buch im Buch bilden, stimmen nachdenklich und lassen den Leser schmunzeln. Mitunter kann man ihm nur beipflichten, schließlich formulieren sie eine deutliche Kritik an der Gesellschaft und am von ihr auferlegten Leistungsdruck.

Aber neben Hartmuts Niederschriften verbergen sich auch in den erfrischend unschuldig erzählten Geschichten nicht nur situationskomische Anekdoten, sondern auch kleine, aber scharfe, durch Wortwitz und Ironie getarnte Spitzen. In ähnlichem Duktus wie bei den bereits erschienenen Büchern schafft Uschmann mit "MURP!" einen weiteren herrlich humorvollen und kurzweiligen, aber auch kritischen und gelegentlich gar ernsten Roman im Stile des Postpop. Diesen Begriff hat der Autor selbst mit seinen vorangegangenen Hartmut-und-ich-Geschichten ins Leben gerufen. Zwar knüpft er stilistisch bewusst an die Tradition der Popliteraten der 1990er-Jahre an, macht genau wie sie Alltägliches zum literarischen Gegenstand, doch wandelt er die popliterarischen Merkmale solchermaßen um, dass seine Bücher letztlich auch eine gezielte Distanzierung vom bisherigen Pop bedeuten. Bei ihm geht es nicht mehr um Coolness-Kanonisierungen. Es ist alles erlaubt und jeder Geschmack in Ordnung.

Doch gerade in puncto Musik schlägt Uschmann eine neue Richtung ein. Prägten die drei Vorgänger noch vehement Hartmuts - zugegeben sehr anspruchsvollen, um nicht zu sagen exotischen - Musikgeschmack, so reduziert sich in "MURP!" das Songrepertoire auf einige wenige Chartstürmer. Eine buchbegleitende Maxi-CD-Compilation wäre schnell erstellt: 1. Billy Talent "Surrender", 2. Fantastischen Vier "Einfach sein", 3. Kelly Clarkson "Because of you". Denn wann immer einer der Protagonisten das Radio anschaltet, einen musikalisch beschallten Raum betritt oder auch nur an einen Musiktitel denkt, die quäkige Stimme des Billy-Talent-Frontmans Benjamin Kowalewicz, der rasche Beat der Stuttgarter HipHopper oder das Klagen der "American-Idol"-Gewinnerin erklingen überall und verleihen Hartmuts Anti-Alles-Stimmung den richtigen Schwung. Doch Uschmann hat vorgesorgt und seinem Buch selbst ein musikalisches Gimmick beigegeben. Denn "MURP!" hat - wohl als erstes Buch auf dem Markt - einen Titelsong. Gemeinsam mit dem Musiker Axel Bosse hat Uschmann das Lied "Wie wir zu leben haben" aufgenommen und sogar im DDR-Museum in Berlin ein passendes Video dazu gedreht. Ganz wie Hartmut im Buch, bemängeln auch Uschmann und Bosse darin Einschränkungen jedweder individueller Andersartigkeit im gesellschaftlichen Leben, Leistungsdruck und Geschmacksdiktatur.

Damit gehen sowohl Hartmut als auch der Autor noch einen ganzen Schritt weiter als sonst. War es ihnen im Erstling "Hartmut und ich" sowie in dessen Nachfolger "Voll beschäftigt" in erster Linie ein Anliegen, etwaigen Kanonisierungen des Geschmacks Adieu zu sagen und weitgreifende Akzeptanz und Toleranz zu proklamieren, wird diese Forderung nun in "MURP!" auf das gesamte Leben projiziert - nicht nur in Geschmacks- sondern auch Lebensgestaltungsfragen: Hartmut strebt die gänzliche Lossagung von gesellschaftlichen Normen und die Auflösung von Sinnstiftung an. Eine idealistische, im Grunde utopische Spinnerei. Jedoch auch ein Gedanke, über den es sich nachzudenken lohnt.

Und so hallt dem Roman "MURP!" vor allem zweierlei nach: Zum einen das wohl beruhigende Gefühl, dass unser aller Leben in irgendeiner Weise mit einem Hauch Perfektheit beseelt sein muss (denn selbst Unperfektsein ist mit sehr viel unliebsamer Arbeit verbunden), zum anderen aber auch, dass Nachlässigkeiten in der täglich unterschwellig angestrebten Perfektion des eigenen Selbst kein Beinbruch sind - Nicht perfekt zu sein ist eben auch nicht schlimm.


Titelbild

Oliver Uschmann: Murp! Hartmut und ich verzetteln sich.
Scherz Verlag, Frankfurt a. M. 2008.
445 Seiten, 13,90 EUR.
ISBN-13: 9783502110507

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